Musik. Für Franz ist sie die Kunst, die der dionysischen Schönheit, die als Rausch verstanden wird, am nächsten kommt. Man kann sich schlecht von einem Roman oder einem Bild berauschen lassen, wohl aber von Beethovens Neunter, Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlaginstrumente oder den Songs der Beatles. Franz unterscheidet nicht zwischen ernster Musik und Unterhaltungsmusik. Diese Unterscheidung kommt ihm altmodisch und verlogen vor. Er mag Rockmusik genauso wie Mozart.
Für ihn ist Musik Befreiung, sie befreit ihn von der Einsamkeit, der Abgeschiedenheit und dem Bücherstaub, sie öffnet in seinem Körper Türen, durch die seine Seele in die Welt hinausgehen kann, um sich zu verbrüdern. Er tanzt gern und bedauert, daß Sabina diese Leidenschaft nicht mit ihm teilt.
Sie sitzen in einem Restaurant, und zum Essen ertönt aus dem Lautsprecher laute, rhythmische Musik.
Sabina sagt: »Das ist ein Teufelskreis. Die Leute werden schwerhörig, weil sie immer lautere Musik hören. Und weil sie schwerhörig sind, bleibt ihnen nichts anderes übrig als noch lauter aufzudrehen.«
»Du magst keine Musik?« fragt Franz.
»Nein«, sagt Sabina. Und dann fügt sie hinzu: »Vielleicht, wenn ich in einer anderen Zeit gelebt hätte…«, und sie denkt an die Epoche von Johann Sebastian Bach, als die Musik einer Rose glich, die blühte im unendlichen Schneefeld der Stille.
Der als Musik getarnte Lärm verfolgt sie seit frühester Jugend. Wie alle Studenten mußte sie die Ferien in einer sogenannten Jugend-Baubrigade verbringen. Man wohnte in Gemeinschaftsunterkünften und baute Hüttenwerke. Von fünf Uhr früh bis neun Uhr abends dröhnte Musik aus den Lautsprechern. Ihr war zum Weinen zumute, aber die Musik klang fröhlich, und es gab keine Möglichkeit, ihr zu entrinnen, weder auf der Toilette noch unter der Bettdecke, überall waren Lautsprecher. Die Musik war wie eine Meute von Jagdhunden, die man auf sie losgehetzt hatte.
Damals hatte sie geglaubt, diese Barbarei der Musik herrsche nur in der kommunistischen Welt. Im Ausland stellte sie dann fest, daß die Verwandlung von Musik in Lärm ein weltweiter Prozeß war, der die Menschheit in die historische Phase der totalen Häßlichkeit eintreten ließ. Die Totalität der Häßlichkeit äußerte sich zunächst als allgegenwärtige akustische Häßlichkeit: Autos, Motorräder, elektrische Gitarren, Preßluftbohrer, Lautsprecher, Sirenen. Die Allgegenwart der visuellen Häßlichkeit würde bald folgen.
Sie aßen, gingen auf ihr Zimmer und liebten sich. Franz’ Gedanken verschwammen an der Schwelle zum Schlaf. Er erinnerte sich an die laute Musik während des Abendessens und sagte sich: der Lärm hat einen Vorteil. Man kann keine Wörter mehr hören. Es wurde ihm klar, daß er seit seiner Jugend nichts anderes tat als Reden, Schreiben, und Vorlesungen halten, Sätze bilden, nach Formulierungen suchen und sie verbessern, so daß ihm zum Schluß kein Wort mehr präzis vorkam und der Sinn verschwamm; die Wörter verloren ihren Inhalt und wurden zu Krümeln, Spreu und Staub, zu Sand, der durch sein Gehirn stob, ihm Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit verursachte, seine Krankheit war. Da sehnte er sich unwiderstehlich, wenn auch unbestimmt, nach einer gewaltigen Musik, nach einem riesigen Lärm, einem schönen und fröhlichen Krach, der alles umarmte, überflutete und betäubte, in dem der Schmerz, die Eitelkeit und die Nichtigkeit der Wörter für immer untergingen. Musik war die Negation der Sätze, Musik war das Anti-Wort! Er sehnte sich danach, unendlich lange mit Sabina umarmt dazuliegen, zu schweigen, nie wieder einen einzigen Satz zu sagen und das Gefühl der Lust mit dem orgiastischen Getöse der Musik zusammenfließen zu lassen. Mit diesem glückseligen Lärm im Kopf schlief er ein.
(Milan Kundera – Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins)
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Wünschst du dir nicht auch manchmal, du fändest eine Insel? Wenn du dich schlafen legst und das nicht kannst, wenn du durch Straßen einer Großstadt gehst, wenn du in fremde Augen blickst, dann tust du es vielleicht. Ein Ort, der nirgendwo verzeichnet ist, ein Platz fernab vom traurigen Gewühl, ein Unterschlupf, der dich mit Kraft versorgt, mit Glück und Mut und Euphorie, ja ein Idyll, das nur für dich dein Eden ist. Suchst du das auch?
In all dem Chaos dieser Welt, da fand ich eine Insel. Wenngleich sie keinen Goldschatz birgt, so übertrifft sie doch an Reichtum alles andere auf dieser Welt. Ein Eiland fand ich und erkor es mir zum Paradies. Nichts hat je so großen Wert gehabt wie dieses kleine Stückchen Land; weder Königreiche, Staaten noch die größten Dynastien besaßen jemals so viel Einfluss wie dieser unscheinbare Fleck. Als eine Art Schiffbrüchiger bin ich durch puren Zufall hier gestrandet, doch für nichts auf dieser Erde ginge ich hier jemals wieder fort.
Es wird nach mir gesucht werden, denn man wird mich retten wollen, fürchte ich, doch meine Rettung habe ich bereits gefunden, sie liegt hier und nirgends sonst. Man wird mich für verloren erklären und nie erfahren, wie falsch man doch in Wahrheit liegt, denn alles, was es sich zu finden lohnte, finde ich alleine hier. Kraft einer glücklichen Strömung setzte ich einen Fuß auf diesen Strand. Was ich hier fand, das ist ein Eiland weit, allein im Meer, das ich zu meiner Heimat nahm, weil eine bessere die Welt mir niemals bieten kann. Was ich hier fand, bedeutet für mich alles, wofür es sich zu leben lohnt.
Ist es Isolation, mich nun an diesen Ort zurückzuziehen? Vielleicht verschließe ich die Augen vor dem Rest der Welt, doch hier erst wuchsen mir die Augen, dank derer mir die Welt beachtenswert erscheint. Hier erst nehme ich die Farben wahr, in denen schillernd alles strahlt, während sich doch meine Umwelt vormals oft genug in Grau ertrank. Es ist keine Flucht, kein Eskapismus, wie manch Zyniker vielleicht behaupten mag, wenn ich mich auf dieser Insel nun häuslich einrichte. Sie gibt mir jene Kraft, der Welt mit offenen Augen entgegentreten zu können, sie auszuhalten, so wie sie ist. Sie kann einen nicht länger erschüttern, nicht mehr bedrängen, sie kann einen nie wieder aus der Bahn werfen, jene Welt, wenn man dieses Eiland erst einmal für sich gefunden hat, das allen Gewalten so standhaft trotzt.
Keine Legenden und keine Erzählungen vermögen die Einzigartigkeit dieses wunderbaren Ortes angemessen zu beschreiben, er ist undenk- und nicht mal vorstellbar, solange man nicht selbst sein Leben hier verbringt. All jene Belanglosigkeiten, nach denen ein Mensch im Laufe seines Lebens strebt, verlieren vollends an Bedeutung, wenn man die Wunder dieser Insel kennt, all ihre Schönheit, wenn man Fuß auf sie gesetzt, sie bloß einmal betreten hat. Es gibt hier alles, was ein Mensch zum Überleben braucht, zum Leben gar, nicht bloß zum Existieren.
Was ich hier fand, ist eine Insel jenseits aller Schifffahrtsrouten. Ein Stück der Welt, das keine Karte offenbart, weil sich das Land hier nicht vermessen lässt. Ein Platz, der keine Grenzen kennt, der keine Mauern hat und keine Gräben zieht, der blinde Ortskenntnis verlangt und an zwei Tagen nie der gleiche ist. Ein Land so weit von aller Zivilisation. Keine Armeen, keine Legionen, keine Heerscharen dieser Welt, wie groß und mächtig sie auch sein mögen, werden im Stande sein, auf dieser Insel jemals einzufallen und damit alles zu zerstören. Sie haben es versucht und sie sind jedes Mal gescheitert. Während die größten Reiche untergehen, hat dieses Eiland hier bestand. Auf dieser Insel lebt, was allseits sonst bereits im Sterben liegt. Hier wächst, was auf dem Rest der Welt verdorrt.
Entgegen einer kalten Welt, die mehr und mehr in Argwohn zu versinken droht, ist dieses Eiland hier ein Ort der Wärme und des völligen Vertrauens. Immer und immer wieder gelingt es den Eigenarten dieser Insel, mir ein herzliches Lächeln ins Gesicht zu zeichnen, und noch in den dunkelsten Stunden der Trauer finde ich hier etwas, das mich die ganze Welt umarmen, das sie liebenswert erscheinen lässt. Alles, was es wert ist, gewusst zu werden, habe ich hier gelernt und lerne ich hier noch heute. Es gibt Dinge, die so wundervoll beschaffen sind, dass man gar nicht mehr bemerkt, wie man laufend älter wird und eines Tages sterben muss, die sogar so unerhört bezaubernd sind, dass man entgegen aller landläufigen Furcht das Älterwerden und sogar das Sterben als etwas Gutes betrachtet, als Vollendung seines Lebens, weil man rundum glücklich ist.
Nichts auf dieser Welt ist es wert, hier jemals wieder fortzugehen, weil keiner, der sie je betrat, vergessen kann, was diese Insel einem offeriert. Was ich bisher mein Leben genannt habe, dieses Dasein, diese bloße Existenz, wurde erst zu einem Leben, als ich diesen Ort hier fand. Mein Eiland, das bist du.
Man braucht nur eine Insel
allein im weiten Meer.
Man braucht nur einen Menschen,
den aber braucht man sehr.
(Mascha Kaléko)
Unser Alltag wird von Zufällen bombardiert, genauer gesagt, von zufälligen Begegnungen zwischen Menschen und Ereignissen, die man Koinzidenzen nennt. Man spricht von Ko-inzidenz, wenn zwei unerwartete Ereignisse gleichzeitig stattfinden, wenn sie aufeinandertreffen: Tomas taucht in dem Moment im Lokal auf, als im Radio Beethoven gesendet wird. Solche Koinzidenzen sind so häufig, daß man sie oft nicht wahrnimmt. Hätte der Metzger von nebenan am Wirtshaustisch gesessen und nicht Tomas, so wäre Teresa nicht aufgefallen, daß im Radio Beethoven gespielt wurde (obwohl die Begegnung zwischen Beethoven und einem Metzger auch eine interessante Koinzidenz ist). Aber die keimende Liebe hat in Teresa den Sinn für das Schöne geschärft, und sie wird diese Musik nie vergessen. Jedesmal, wenn sie sie hören wird, wird sie ergriffen sein. Alles, was in diesem Augenblick um sie herum vor sich gehen wird, wird ihr im Glanz dieser Musik erscheinen und schön sein.
Am Anfang jenes Romans, den sie unter dem Arm trug, als sie zu Tomas kam, begegnen sich Anna und Wronski unter eigenartigen Umständen. Sie stehen auf einem Bahnsteig, wo gerade jemand unter den Zug gefallen ist. Am Ende des Romans stürzt sich Anna unter den Zug. Diese symmetrische Komposition, in der dasselbe Motiv am Anfang und am Ende erscheint, mag Ihnen sehr ›romanhaft‹ vorkommen. Ja, ich gebe es zu, aber nur unter der Voraussetzung, daß Sie das Wort ›romanhaft‹ auf keinen Fall verstehen als ›erfunden‹, ›künstlich‹ oder ›lebensfremd‹. Denn genauso ist das menschliche Leben komponiert.
Es ist komponiert wie ein Musikstück. Der Mensch, der vom Schönheitssinn geleitet ist, verwandelt ein zufälliges Ereignis (eine Musik von Beethoven, einen Tod auf einem Bahnhof) in ein Motiv, das er der Partitur seines Lebens einbeschreibt. Er nimmt es wieder auf, wiederholt es, variiert und entwickelt es weiter, wie ein Komponist die Themen seiner Sonate transponiert. Anna hätte sich das Leben auch anders nehmen können. Doch das Motiv von Bahnhof und Tod, dieses unvergeßliche, mit der Geburt ihrer Liebe verbundene Motiv, zog sie im Moment der Verzweiflung durch seine dunkle Schönheit an. Ohne es zu wissen, komponiert der Mensch sein Leben nach den Gesetzen der Schönheit, sogar in Momenten tiefster Hoffnungslosigkeit.
Man kann dem Roman also nicht vorwerfen, vom geheimnisvollen Zusammentreffen der Zufälle fasziniert zu sein (wie etwa dem Zusammentreffen von Wronski, Anna, Bahnsteig und Tod oder dem Zusammentreffen von Beethoven, Tomas, Teresa und Cognac), dem Menschen aber kann man zu Recht vorwerfen, daß er im Alltag solchen Zufällen gegenüber blind sei und dem Leben so die Dimension der Schönheit nehme.
(Milan Kundera – Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins)
Forgetting that beauty and happiness are only ever incarnated in an individual person, we replace them in our minds by a conventional pattern, a sort of average of all the different faces we have ever admired, all the different pleasures we have ever enjoyed, and thus carry about with us abstract images, which are lifeless and uninspiring because they lack the very quality that something new, something different from what is familiar, always possesses, and which is the quality inseparable from real beauty and happiness. So we make our pessimistic pronouncements on life, which we think are valid, in the belief that we have taken account of beauty and happiness, whereas we have actually omitted them from consideration, substituting for them synthetic compounds that contain nothing of them.
(Marcel Proust – In the Shadow of Young Girls in Flower)
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