Ich glaube, niemand möchte die soziale Welt so sehen, wie sie ist; es gibt viele Arten, sie zu verleugnen; es gibt die Kunst, natürlich. Aber es gibt auch eine Form von Soziologie, die dieses bemerkenswerte Ergebnis zustandebringt, nämlich von der sozialen Welt zu reden, als redete sie nicht von ihr (…). Die Verneinung im Freudschen Sinne ist eine Form von Eskapismus. Wenn man vor der Welt, wie sie ist, fliehen will, kann man Musiker werden, Philosoph, Mathematiker. Aber wie flieht man vor ihr, wenn man Soziologe ist? Es gibt Leute, die das schaffen. Man braucht nur mathematische Formeln zu schreiben, Spieltheorieübungen oder Computersimulationen durchzuexerzieren. Wenn man wirklich die Welt wenigstens ein bißchen so sehen und so über sie reden will, wie sie ist, dann muß man akzeptieren, daß man sich immer im Komplizierten, Unklaren, Unreinen, Unscharfen usw. und also im Widerspruch zu den gewöhnlichen Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit befindet.
(Pierre Bourdieu – „Inzwischen kenne ich alle Krankheiten der soziologischen Vernunft“, in: Pierre Bourdieu, Jean-Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron – Soziologie als Beruf)
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Damit die am meisten Begünstigten begünstigt und die am meisten Benachteiligten benachteiligt werden, ist es notwendig wie hinreichend, dass die Schule beim vermittelten Unterrichtsstoff, bei den Vermittlungsmethoden und -techniken und bei den Beurteilungskriterien die kulturelle Ungleichheit der Kinder (…) ignoriert. Anders gesagt, indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur. Die formale Gleichheit, die die pädagogische Praxis bestimmt, dient in Wirklichkeit als Verschleierung und Rechtfertigung der Gleichgültigkeit gegenüber der wirklichen Ungleichheit in Bezug auf den Unterricht und der im Unterricht vermittelten oder, genauer gesagt, verlangten Kultur. (…) Indem die Schule den Individuen nur deren Position in der sozialen Hierarchie genau entsprechende Erwartungen an die Schule zugesteht und unter ihnen eine Auswahl trifft, die unter dem Anschein der formalen Gleichheit die existierenden Unterschiede sanktioniert und konsekriert, trägt sie ineins zur Perpetuierung wie zur Legitimierung der Ungleichheit bei. Indem sie gesellschaftlich bedingten, von ihr aber auf Begabungsunterschiede zurückgeführten Fähigkeiten eine sich »unparteiisch« gebende und als solche weithin anerkannte Sanktion erteilt, verwandelt sie faktische Gleichheiten in rechtmäßige Ungleichheiten, wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterschiede in eine qualitative Differenz und legitimiert die Übertragung des kulturellen Erbes. (…) Indem [das Bildungssystem] den kulturellen Ungleichheiten eine formell mit den demokratischen Idealen übereinstimmende Sanktion erteilt, liefert es die beste Rechtfertigung für diese Ungleichheiten.
(Pierre Bourdieu – Die konservative Schule, in: Wie die Kultur zum Bauern kommt)
Wenn ich eine der vielen Polit- oder Gesellschafts-Talkshows sehe, womit nicht deren wenig ernstzunehmende nachmittägliche Derivate auf den privaten Sendern gemeint sind, rege ich mich meist recht schnell auf. Es ist relativ egal, ob die Diskussion sich dabei um politische, um gesellschaftliche oder um persönliche Themen dreht und ob ich mich mit einer Seite der Diskussion identifizieren kann oder nicht. Was mich aufregt, ist der jeweilige Drang, alle anderen mit missionarischem Eifer von der eigenen Position und der eigenen Art zu leben überzeugen zu wollen. Vegetarier wollen Fleischesser zu Vegetariern konvertieren, Faulenzer wollen Karrieremenschen zum lockeren Leben erziehen, Operngänger diffamieren DSDS-Gucker ob ihrer Kulturlosigkeit und jeweils entsprechend umgekehrt. Warum eigentlich?
Ich streite gerne mit anderen Leuten über Themen, bei denen wir uns nicht einig sind. Es macht Spaß und erweitert den eigenen Horizont. Von außen ist das, was ich tue, für einen objektiven Beobachter wahrscheinlich nur schwer von Überzeugungsarbeit zu unterscheiden (und vielleicht tue ich deswegen den beschriebenen Personen teilweise unrecht), doch meine eigene Motivation dazu ist keineswegs das missionarische Bestreben, den anderen von meiner individuellen Position zu überzeugen und das Ganze ideologisch womöglich noch mit der vermeintlichen Erziehung zu einer besseren Welt aufzuladen, wie es so oft praktiziert wird, sondern eine weitaus egoistischere:
Ich möchte für mich selbst – und zwar nur für mich selbst – die beste Art zu leben finden, die ich gerne guten Gewissens lebe und die mir sowohl Spaß als auch ein befriedigendes Leben ermöglicht, so schwammig und banal das nun auch klingen mag. Außerdem hilft es mir, meine Mitmenschen und ihre eigene Art zu leben besser zu verstehen.
Es gibt keinen einen richtigen Weg zu leben, der für alle Menschen allgemeingültig ist. Alle anderen von meiner Art zu leben, meinen Standpunkten und meinen Meinungen überzeugen zu wollen, spricht für mich recht deutlich von einer intoleranten Grundhaltung und überschätzender Verherrlichung der eigenen Positionen.
Deswegen liebe ich es, mit Menschen zu diskutieren, die eine völlig andere Meinung vertreten als ich selbst. Ich diskutiere gerne mit Parteimitgliedern jeglicher Art, mit Veganern, mit fundamentalistischen Gentechnikgegnern oder -befürwortern, mit Gläubigen und mit Anhängern eines völlig freien Marktes, mit Befürwortern von Studiengebühren und mit unbeugsamen Globalisierungsgegnern genauso wie mit den Advokaten globaler Ausbeutung, weil ich mit jeder dieser Diskussionen herausfinden möchte, welche Argumente der andere vorbringen kann, über welche Erfahrungen er verfügt, wie er zu seiner Meinung gekommen ist und wie konsequent er sie vertreten kann. Letztlich also, um herauszufinden, wie überzeugend er ist. Nicht primär, weil ich ihn überzeugen möchte, sondern weil er vielleicht Argumente hervorbringt, die ich nachvollziehen kann, die mir sinnvoll und stichhaltig erscheinen oder mich wenigstens ins Grübeln bringen, die mir letztendlich also helfen, meine eigenen Positionen, Meinungen und Überzeugungen fundiert zu untermauern oder zu hinterfragen und damit schließlich dazu beitragen, meinen eigenen, für mich – und nur für mich – besten Weg zu finden.
Wenn ich alleine etwas daraus mitnehme, ist das bereits gut, doch wenn idealerweise alle beteiligten Diskutanten im Zuge als auch in Folge der Diskussion ihre Positionen kritisch reflektieren, ist das ein voller Erfolg, denn nicht mehr und nicht weniger ist dabei mein vornehmliches Ziel. Wenn einer oder mehrere der Beteiligten, das beinhaltet selbstverständlich auch mich selbst, infolgedessen ihre Meinung ändern, ist das ein willkommener Effekt, denn wir alle lernen ständig dazu, aber nicht wesentlicher Antrieb und sollte das auch nicht sein.
Der Unterschied klingt entweder trivial oder höchst komplex, denn es geht darum, potentiell überzeugend zu sein, also die eigene Meinung konsistent, fundiert, konsequent und überzeugt zu vertreten, ohne überzeugen, ohne missionieren zu wollen, dabei aber immer offen für eigene Überzeugung durch neue Argumente zu sein.
Überzeugungsarbeit ist immer Machtdurchsetzung. Wer behauptet, DSDS-Gucker verfügten über kein Verständnis für Kultur und Faulenzer würden ihr Leben verschwenden, übt damit Macht aus, indem er die Deutungshoheit anstrebt und durchzusetzen versucht, was unter legitimer Kultur und Lebensführung zu verstehen sei. Alle, die nicht diesen Vorstellungen entsprechen, werden dadurch im- oder gar explizit für fehlgeleitet und ihre Lebensweise für falsch erklärt, wohingegen die eigene stets die richtige – die angeblich eine richtige – ist. Wie so vieles dreht sich hierbei alles um Macht und weniger um Fragen persönlicher Vorlieben, als die es kaschiert wird, denn ginge es lediglich um persönliche Vorlieben, bestünde nicht das Bestreben, andere von eben diesen überzeugen zu wollen.
Das einzige – und hier wird es paradox -, wovon ich andere überzeugen möchte, ist auf der einen Seite, dass es ein unvernünftiges, weil tendenziell totalitäres Unterfangen ist, andere verbissen von der eigenen Art zu leben überzeugen zu wollen, sowie auf der anderen Seite, offen für Überzeugung durch Argumente zu bleiben, denn sonst verrennt man sich in Fundamentalismus.
Man kann im Prenzlauer Berg einfach im linken Habitus weiterleben. Das ist ja das Schöne. Man kann sich tolerant fühlen, weil Toleranz nicht auf die Probe gestellt wird. (…) Der Schriftsteller Maxim Biller nennt den Prenzlauer Berg mittlerweile ironisch eine »national befreite Zone«.
Der Prenzlauer Berg wirkt vielerorts, als habe es nie so etwas wie eine Unterschichtendebatte gegeben, ein Demografieproblem, Migration. Hier herrscht der Bionade-Biedermeier. Die 100000 Zugezogenen haben eine neue Stadt geschaffen, doch wem kommt diese zivilisatorische Leistung zugute, außer ihnen selbst? Ihr Prenzlauer Berg ist ein Ghetto, das ohne Zaun auskommt – weil es auch ohne zunehmend hermetisch wirkt. Die Zuwanderung wird über den Preis pro Quadratmeter gesteuert und über den enormen Anpassungsaufwand, dem man sich hier leicht aussetzt. Wer nicht das Richtige isst, trinkt, trägt, hat schnell das Gefühl, der Falsche für diesen Ort zu sein. Man glaubt so offen zu sein und hat sich eingeschlossen.
Zwar ist Milieubildung ein normales soziales Phänomen, weltweit sortieren sich die Menschen nach Lebensstil, Bildung, Vermögen – das Besondere am Prenzlauer Berg aber ist, dass er nicht wahrhaben will, dass er ganz anders ist, als er zu sein glaubt.
(Henning Sußebach bei ZEIT Online)
Wie Christian Ulmen es so treffend auf den Punkt gebracht hat:
Die Definition von Spießigkeit ist für mich, sobald jemand nicht in der Lage ist, über seinen Tellerrand hinauszuschauen. Wenn jemand intolerant ist und anderes nicht zulässt, ist er ein Spießer. Das ist der Hausmeister, der nicht will, dass man draußen Fußball gegen die Garagentore spielt, weil es so laut ist. Oder die Oma, die sich wahnsinnig darüber aufregt, weil ein Punker einen Irokesenhaarschnitt hat, weil sich das nicht anschickt. Das Leben der anderen nicht zu akzeptieren – das ist spießig, meine ich.
(Christian Ulmen bei Spiegel Online)
Sie haben sich immer über die biederen Schlipsträger und Hosenanzugträgerinnen lustig gemacht, die bei Banken, Versicherungen und Unternehmensberatungen arbeiten oder bei anderen, genauso miefigen wie langweiligen Firmen untergekommen sind und dort ihr trostloses Dasein verrichten. Das war ihre Sichtweise. So wollten sie nie enden, diese Perspektive haben sie stets verabscheut. Nun arbeiten sie selbst bei solcherart Banken, Versicherungen, Unternehmensberatungen, Marktforschungsinstituten oder in ähnlichen Feldern, die den gleichen kalten Charme versprühen, oder streben es an, das zu tun. Warum?
Verändert haben sie sich nicht. Das ist das Traurigste daran. Hätten sie sich geändert, hätten sie ihre früheren Überzeugungen über Bord geworfen, ja plakativ ausgedrückt sie sozusagen verraten, so wäre das – aus meiner persönlichen moralischen Perspektive – zwar äußerst schade, jedoch konsequent und hätte es verdient, respektiert zu werden. Genau das ist jedoch nicht der Fall. Unverändert gilt ihr Spott und Hohn den Langweilern und Spießern, wie sie sagen, die in all den seriösen Berufsfeldern von Banken bis zu Unternehmensberatungen ihr Geld verdienen, und auch weiterhin gehen sie mit der Verachtung der Werte hausieren, die diejenigen Institutionen vertreten, für die sie nun selbst tätig sind. Dass sie selbst dazugehören, wissen sie, und doch ist ihr Verhalten kein Ausdruck von kritischer Selbstironie. Sie sind nicht geworden, wer sie nie werden wollten, sondern sie spielen eine Rolle, sie inszenieren sich, verkaufen sich, ziehen Masken auf.
Auf der einen Seite haben sie ihre Überzeugungen behalten, doch auf der anderen Seite agieren sie genau entgegengesetzt. Ihre Überzeugungen sind Sonntagsüberzeugungen geworden, die unter der Woche in den Schrank gestellt werden, und sie selbst haben durch den Druck der ökonomisch-realen Situation eine komplizierte Ausprägung multipler Persönlichkeiten und moralischer Flexibilität entwickelt, die es ihnen erlaubt, mehrere sich widersprechende Pakete aus Handlungsmustern, Idealen und Überzeugungen in der eigenen Person zu vereinen.
Sie übernehmen eine Rolle. Sie haben ein Drehbuch zugeschickt bekommen, das ihnen nicht gefällt, dessen ihnen zugesprochene Rolle sie innerlich eigentlich ablehnen – und doch spielen sie sie. An freien Tagen lästern sie mit ihren Freunden und Bekannten über das, was sie an Arbeitstagen selbst verkörpern. Wenn jemand auf einer Party seine Ansicht zum Ausdruck bringt, er fände Arbeit zum Kotzen, dann finden sie das super, so richtig unterstützenswert, sie klopfen dem Mutigen solidarisch auf die Schulter und geben ihm Recht. Doch wenn am darauffolgenden Montag ein Kollege mit der gleichen Einstellung am Arbeitsplatz erscheint und dafür Ärger kassiert, raunen sie bloß noch „der Idiot ist selbst schuld!“ und wenden sich kopfschüttelnd ihrer Arbeit zu.
Sie sind keine Heuchler – in unterschiedlichen Situationen glauben sie tatsächlich verschiedene, teils diametral gegensätzliche Dinge und vertreten einander widersprechende Ansichten, ohne diese Widersprüchlichkeit bewusst zu erfassen. Kurz: Ihre neue Rolle verbietet es, eine authentische Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, ihre Persönlichkeit, sondern spaltet die eigene Identität in mehrere verschiedene Schein-Identitäten auf, die stets dort wirksam sind und die eigene Person möglichst ertragreich verkaufen, wo sie als angemessen erscheinen. Befeuert wird derartiges Verhalten durch widersprüchliche gesellschaftliche Anforderungen, wie etwa Planungskompetenz und Risikobereitschaft, Flexibilität und Verlässlichkeit, Konsumfreudigkeit und Abstinenz, Freiheit und Konformität, Teamfähigkeit und Egoismus, Familiensinn und ständige Mobilität.
Dieses Verhalten drückt dabei nicht bloß die harmlose Anpassung an äußere Umstände aus, wie sie in jeder Situation vorhanden ist, sondern verkörpert das allgegenwärtige Sich-Verkaufen und die damit verbundene und stets mitschwingende Selbstreg(ul)ierung, die dafür sorgt, sich aus Angst vor negativen Konsequenzen, beispielsweise von Seite des Arbeitsgebers, in jeder Situation den Anforderungen entsprechend zu vermarkten. Wer sich nicht richtig verkauft, also sich selbst zur Ware erklärt und die eigene Verwertbarkeit autonom maximiert und entsprechend anpreist, sei es nun am Arbeitsplatz, in der Disco oder in der Universität, gilt als hoffnungsloser Verlierer.
Jeder steht dabei für sich alleine, denn so muss es sein. In der Welt der Selbstdarstellung und des Sich-selbst-Verkaufens ist jeder andere der potentielle Feind, der sich schließlich ebenfalls möglichst erfolgreich verkaufen möchte. Mitmenschen werden reduziert auf Konkurrenten. Diese paranoide Atmosphäre des ständigen Misstrauens und der Angst produziert ein Verhalten, das sich schließlich auch auf die eigene Persönlichkeit und das Verhältnis zu den Mitmenschen auswirkt und dort selbst das Verhältnis zu denjenigen mit zunehmender Distanz belegt, die einem eigentlich am nächsten stehen. Die egoistischen und kalkulierend-rationalen Durchsetzungsstrategien, die im Berufsleben zumeist nahegelegt oder gar aufgezwungen werden, transportieren sich bis ins Private, wo sie sich in der austauschbaren Unverbindlichkeit kühl berechnender Verhältnisse zum Mitmenschen niederschlagen.
Freundschaften, so wie alle Beziehungen zu anderen Menschen, werden in dieser Welt der totalen Verwertung und Selbstverwertung ebenso als Waren begriffen, die nützlich und dienlich sein sollen, wie alles andere auch. Sie sind unverbindlich und oberflächlich. Man verkauft sich jedem neuen sozialen Kontakt auf eine andere Weise, um ihm das zu präsentieren, was er sehen möchte, und maximiert dadurch den Erfolg des Selbstverkaufens. Masken werden aufgezogen, Rollen gespielt, Auftritte geübt. Für jeden Kontakt entsteht ein neues soziales Ich, das eine möglichst überzeugende Fiktion darstellt, und die wirkliche Persönlichkeit, die Authentizität der eigenen Person, verkriecht sich aus Angst im stillen Kämmerlein, um die aufgebauten Illusionen nicht zu zerstören. Einen anderen Menschen an sich heranzulassen wird als potentielle Schwäche diskreditiert, die nur dann in Kauf genommen werden kann, wenn es der eigenen Lage dienlich ist, wenn es beispielsweise zu Prestigegewinn oder finanziellem Vorteil führt, zu Problemlösungen beiträgt oder ein den allgegenwärtigen Druck ausgleichendes Amüsement verspricht.
Strategien aus der so genannten Arbeitswelt, die dort unter Vorspielung eben solcher Rollen und dem Erzeugen von Fiktionen zu Erfolg führen sollen, werden nach einiger Zeit kritiklos in intimste Bereiche des eigenen Lebens übernommen und münden darin, den Betrug und die Illusion als angemessene Grundlagen zwischenmenschlicher Beziehungen und sogar Partnerschaften anzusehen, ohne zu begreifen, dass die Übertragung dieser Verhaltensweisen in eben diese Sphären, die stets zwingend authentischer Persönlichkeiten und Verhaltensweisen bedürfen, zwangsläufig zu Schwierigkeiten führen wird. So ist es kein Wunder, wenn entsprechende Freundschaften oder Partnerschaften zerbrechen.
All diesen Verlusten wird häufig mit dem Versuch der Uminterpretation begegnet: Die Unverbindlichkeit, das berechnende Verhalten und das illusorische Rollenspiel seien Ausdruck und Notwendigkeit der Freiheit des eigens selbstbestimmten Lebensentwurfs. Nur durch das Rollenspiel könne man die eigene Persönlichkeit vor der feindlichen Außenwelt schützen, lautet ein anderer Versuch der positiven Umdeutung, der nicht begreift, dass das Unterdrücken und daraus de facto resultierende Abschaffen dieser authentischen Persönlichkeit nicht zu deren Erhaltung beiträgt. Dieser Selbstbetrug erlaubt es, all die negativen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, als unvermeidlich abzustempeln, als hinderlich bei der eigenen Vermarktung. Es entsteht ein Typus Mensch, der seine fiktionalen Schein-Persönlichkeiten, die damit einhergehende Selbstentfremdung und das von Kalkül bestimmte Konkurrenz- und Nutzdenken gegenüber seinen Mitmenschen als etwas Positives begreift, das ihn zum Erfolg führt.
Entsteht dabei eine Gesellschaft, in der wir uns wohlfühlen?
Neigen wir erst einmal zur Trennung von Denken und Fühlen, so besteht die Schwierigkeit darin, daß wir nicht mehr in der Lage sind, diesen Vorgang zu sehen. Aufgrund unserer Entwicklung werden wir bestrebt sein, uns nicht so zu sehen, wie wir sind, sondern so, wie wir meinen, daß wir gesehen werden sollten. Es werden Image und wirkliches Sein sich nicht entsprechen. Und wenn sie sich nicht entsprechen, wird dieser Widerspruch der inneren Realität ständige Quelle von Angst sein. Dieser Widerspruch bedroht uns mit dem Zusammenbruch, und die Angst davor zwingt uns erst recht, auf unsere Gefühle zu »verzichten«.
Für jene, die in das Erscheinungsbild »normalen« Verhaltens hineinschlüpfen, weil sie die Spannung der Widersprüche zwischen der uns auferlegten Realität und ihrer inneren Welt nicht ertragen, für solche Menschen gibt es bald keine wirklichen Gefühle mehr. Statt dessen gehen sie mit Ideen von Gefühlen um, haben keine Erfahrung mehr mit ihnen. Sie präsentieren aufgesetzte Gefühle als ihre eigenen und sagen sich von den wahren Gefühlen los. Je »gesünder« das Image ihrer Identität, das sie angenommen haben, desto erfolgreicher werden sie diese Manipulation vollziehen können. Und es ist Manipulation, da ihr Ziel nicht der Ausdruck ihrer selbst ist, sondern sie den anderen davon überzeugen wollen, daß sie angemessen handeln, denken und fühlen. Dies sind die Menschen, die ich als die wirklich Wahnsinnigen unter uns zeigen möchte.
(Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität)
Was ist die gesellschaftliche Funktion der Fachsprache? Ich habe gesagt, echte Kommunikation sei Gemeinsamkeit und Veränderung. Die Fachsprache ist nicht unschuldig. Der Mann, der sie spricht, der vor uns von Rollen und auf der Basis von Wechselbeziehungen funktionierenden Gruppen schwatzt, und von Wertvorstellungen und den Zielen des Lehrplans und besserer Übereinstimmung und übergeordneten und untergeordneten Personen, der hat die Absicht, uns auf Distanz zu halten; er will seine Spezialität – sein kleines Stück eines im Wesentlichen unteilbaren Ganzen – eben als Spezialität für sich behalten. Er hat kein Interesse daran, sich uns anzunähern, uns seine Fähigkeiten zu vermitteln, sondern über uns zu stehen und uns zu manipulieren. Kurzum, er will ein »Experte« bleiben. Der Philosoph möchte, im Gegensatz dazu, dass alle Menschen zu Philosophen werden. Seine Redeweise erzeugt Gleichheit. Er hat die Absicht, sich uns anzunähern und uns die Fähigkeit zum selbstständigen Denken und Handeln zu vermitteln.
(George Dennison – The Lives of Children; zitiert nach: John Holt – Kinder lernen selbstständig oder gar nicht(s)
Education… now seems to me perhaps the most authoritarian and dangerous of all the social inventions of mankind. It is the deepest foundation of the modern slave state, in which most people feel themselves to be nothing but producers, consumers, spectators, and ‘fans,’ driven more and more, in all parts of their lives, by greed, envy, and fear. My concern is not to improve ‘education’ but to do away with it, to end the ugly and antihuman business of people-shaping and to allow and help people to shape themselves.
(John Holt zum Thema Un-/Deschooling)
Arbeit ist Scheiße! Bei dieser Aussage handelt es sich um eine selbstverständliche Tatsache, und wäre speziell die deutsche Gesellschaft nicht so verblödet, müßte man sich schämen, eine solche Banalität zu Papier zu bringen.
Wie fortgeschritten diese Verblödung ist, zeigt sich daran, daß die Aussage »Arbeit ist Scheiße!« bei den meisten Zeitgenossen eben kein allgemeines Gähnen hervorruft, sondern komischerweise als Tabu-Bruch aufgefaßt wird. Dieser Tabu-Bruch spaltet die Meinungen. »Arbeit ist Scheiße« ruft bei vielen Zeitgenossen die wütende Frage hervor: »Und wovon willst Du leben?« – als wenn das eine mit dem anderen auch nur das geringste zu tun hätte!
Wenn Ideologen von der »Selbstverwirklichung des Menschen durch Arbeit« faseln, dann lügen sie. Zwar gibt es nicht wenige, für die Arbeit das größte Vergnügen ist, genauso wie es ja immer wieder Idioten gibt, die sich nichts Erregenderes vorstellen können als für Volk und Vaterland den Heldentod zu sterben. Solche Leistungen setzen allerdings jede Menge Erziehung und Moral voraus.
Lohnarbeit unterscheidet sich durch eine wesentliche Eigenschaft von Sklavenarbeit: Die Arbeitskräfte verkaufen sich selber.
Von all diesen Menschenfreunden betreut, kann sich die Arbeitskraft etwas darauf einbilden, die Arbeit auszuhalten. Die jüngeren Exemplare protzen mit ihrer immer wieder steigerungsfähigen Arbeitsgeschwindigkeit, die alten mit ihrer Zuverlässigkeit. Viele trachten danach, sich zum Arbeitsaufseher hochzuschleimen, labern davon, daß es »woanders noch schlimmer sei«, glotzen in ihrer Bildzeitung herum, kotzen sich über den Trainer »ihres« Fußballvereins aus und sind stolz darauf, Arbeiter zu sein.
(Prinzipien und Doktrin des Wissenschaftlichen Pogo-Dogmatismus)
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