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(Re-)Produktion und Legi­ti­ma­ti­on sozia­ler Ungleich­heit durch das Bildungssystem

Obwohl es sich bei Bil­dungs­un­gleich­heit um eines der kon­ti­nu­ier­lich behan­del­ten The­men der sozio­lo­gi­schen For­schung han­delt, fris­te­te es im öffent­li­chen Bewusst­sein nach der ers­ten Hoch­pha­se der Bil­dungs­un­gleich­heits­for­schung und anschlie­ßen­der Bil­dungs­expan­si­on ein Schat­ten­da­sein. Erst mit Erschei­nen der ursprüng­li­chen PISA-Stu­die ist Bil­dungs- und Chan­cen­un­gleich­heit wie­der ins öffent­li­che und auch poli­ti­sche Bewusst­sein gerückt. Wie jede der nach­fol­gen­den PISA-Stu­di­en und die sie beglei­ten­den Debat­ten offen­ba­ren, weist das Pro­blem der Bil­dungs- und Chan­cen­un­gleich­heit eine erheb­li­che Per­sis­tenz auf. Im Zuge der Bil­dungs­expan­si­on konn­te zwar die gene­rel­le Bil­dungs­be­tei­li­gung gestei­gert und der Zugang zu höhe­ren Bil­dungs­ab­schlüs­sen erwei­tert wer­den, doch sind sowohl die­se Zugangs­chan­cen als auch die Chan­cen inner­halb der Bil­dungs­in­sti­tu­tio­nen wei­ter­hin sozi­al ungleich ver­teilt, denn es hat ledig­lich eine quan­ti­ta­ti­ve Annä­he­rung statt­ge­fun­den, die das Pro­blem als sol­ches aller­dings nicht neu­tra­li­siert hat. Im Anschluss an die Bil­dungs­expan­si­on sind gar neue sozia­le Schlie­ßungs­me­cha­nis­men zu beob­ach­ten, die die erziel­ten Erfol­ge rela­ti­vie­ren und die sozia­len Bil­dungs­un­gleich­hei­ten wie­der anstei­gen lassen.

Zen­tra­les Anlie­gen der hier zum Down­load bereit­ge­stell­ten Arbeit ist es, das Zustan­de­kom­men von Bil­dungs­un­gleich­hei­ten und deren Per­sis­tenz unter Zuhil­fe­nah­me des Habi­tus­kon­zepts und dar­auf auf­bau­en­der Milieu- und Pas­sungs­theo­rien nach­zu­zeich­nen, um dar­aus schließ­lich gesamt­ge­sell­schaft­li­che Beob­ach­tun­gen und Kon­se­quen­zen in Bezug auf den Abbau oder die Ver­mei­dung von Bil­dungs­un­gleich­hei­ten abzu­lei­ten. Im Mit­tel­punkt steht dabei der Begriff des milieu­spe­zi­fi­schen Habi­tus und einer ent­spre­chen­den Kul­tur, die je nach sozia­ler Posi­ti­on diver­gie­ren­de Inhal­te und Pra­xen umfasst und die auf­grund die­ser imma­nen­ten Dif­fe­ren­zen unter­schied­li­ches Poten­ti­al zur Anknüp­fung an und Iden­ti­fi­ka­ti­on mit schu­li­schen Bil­dungs­in­hal­ten auf­weist. Anders aus­ge­drückt: All­tags­welt­li­che Bil­dung und schu­li­sche Bil­dung zeich­nen sich je nach sozia­ler Her­kunft durch einen unter­schied­li­chen Grad an Kom­pa­ti­bi­li­tät aus.

Down­load: Habi­tus, Her­kunft und Bil­dungs­er­folg (PDF – 97 Sei­ten – 1,4 MB)

Damit die am meis­ten Begüns­tig­ten begüns­tigt und die am meis­ten Benach­tei­lig­ten benach­tei­ligt wer­den, ist es not­wen­dig wie hin­rei­chend, dass die Schu­le beim ver­mit­tel­ten Unter­richts­stoff, bei den Ver­mitt­lungs­me­tho­den und ‑tech­ni­ken und bei den Beur­tei­lungs­kri­te­ri­en die kul­tu­rel­le Ungleich­heit der Kin­der (…) igno­riert. Anders gesagt, indem das Schul­sys­tem alle Schü­ler, wie ungleich sie auch in Wirk­lich­keit sein mögen, in ihren Rech­ten wie Pflich­ten gleich behan­delt, sank­tio­niert es fak­tisch die ursprüng­li­che Ungleich­heit gegen­über der Kul­tur. Die for­ma­le Gleich­heit, die die päd­ago­gi­sche Pra­xis bestimmt, dient in Wirk­lich­keit als Ver­schleie­rung und Recht­fer­ti­gung der Gleich­gül­tig­keit gegen­über der wirk­li­chen Ungleich­heit in Bezug auf den Unter­richt und der im Unter­richt ver­mit­tel­ten oder, genau­er gesagt, ver­lang­ten Kul­tur. (…) Indem die Schu­le den Indi­vi­du­en nur deren Posi­ti­on in der sozia­len Hier­ar­chie genau ent­spre­chen­de Erwar­tun­gen an die Schu­le zuge­steht und unter ihnen eine Aus­wahl trifft, die unter dem Anschein der for­ma­len Gleich­heit die exis­tie­ren­den Unter­schie­de sank­tio­niert und kon­se­kriert, trägt sie ineins zur Per­p­etu­ie­rung wie zur Legi­ti­mie­rung der Ungleich­heit bei. Indem sie gesell­schaft­lich beding­ten, von ihr aber auf Bega­bungs­un­ter­schie­de zurück­ge­führ­ten Fähig­kei­ten eine sich »unpar­tei­isch« geben­de und als sol­che weit­hin aner­kann­te Sank­ti­on erteilt, ver­wan­delt sie fak­ti­sche Gleich­hei­ten in recht­mä­ßi­ge Ungleich­hei­ten, wirt­schaft­li­che und gesell­schaft­li­che Unter­schie­de in eine qua­li­ta­ti­ve Dif­fe­renz und legi­ti­miert die Über­tra­gung des kul­tu­rel­len Erbes. (…) Indem [das Bil­dungs­sys­tem] den kul­tu­rel­len Ungleich­hei­ten eine for­mell mit den demo­kra­ti­schen Idea­len über­ein­stim­men­de Sank­ti­on erteilt, lie­fert es die bes­te Recht­fer­ti­gung für die­se Ungleichheiten.
(Pierre Bour­dieu – Die kon­ser­va­ti­ve Schu­le, in: Wie die Kul­tur zum Bau­ern kommt)