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Unter einer Stra­ßen­la­ter­ne steht ein Betrun­ke­ner und sucht und sucht. Ein Poli­zist kommt daher, fragt ihn, was er ver­lo­ren habe, und der Mann ant­wor­tet: »Mei­nen Schlüs­sel«. Nun suchen bei­de. Schließ­lich will der Poli­zist wis­sen, ob der Mann sicher ist, den Schlüs­sel gera­de hier ver­lo­ren zu haben, und jener ant­wor­tet: »Nein, nicht hier, son­dern dort hin­ten – aber dort ist es viel zu finster.«
Fin­den Sie das absurd? Wenn ja, suchen auch Sie am fal­schen Ort. Der Vor­teil ist näm­lich, daß eine sol­che Suche zu nichts führt, außer »mehr des­sel­ben«, näm­lich nichts.
(…)
Die Bedeu­tung die­ses Mecha­nis­mus für unser The­ma liegt auf der Hand. Er kann ohne die Not­wen­dig­keit einer Spe­zi­al­aus­bil­dung auch vom Anfän­ger ange­wandt wer­den – ja, er ist so weit ver­brei­tet, daß er seit den Tagen Freuds Gene­ra­tio­nen von Spe­zia­lis­ten ein gutes Ein- und Aus­kom­men bie­tet; wobei aller­dings zu bemer­ken ist, daß sie ihn nicht das Mehr-des­sel­ben-Rezept, son­dern Neu­ro­se nennen.
Doch nicht auf den Namen soll es uns ankom­men, son­dern auf den Effekt. Die­ser aber ist garan­tiert, solan­ge der Unglücks­aspi­rant sich an zwei ein­fa­che Regeln hält: Ers­tens, es gibt nur eine mög­li­che, erlaub­te, ver­nünf­ti­ge, sinn­vol­le, logi­sche Lösung des Pro­blems, und wenn die­se Anstren­gun­gen noch nicht zum Erfolg geführt haben, so beweist das nur, daß er sich noch nicht genü­gend ange­strengt hat. Zwei­tens, die Annah­me, daß es nur die­se ein­zi­ge Lösung gibt, darf selbst nie in Fra­ge gestellt wer­den; her­um­pro­bie­ren darf man nur an der Anwen­dung die­ser Grundannahme.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Jedes Mal, wenn sich ein Jahr sei­nem Ende ent­ge­gen­neigt, machen sich unzäh­li­ge Men­schen gut gemein­te Gedan­ken zum Ablauf des bald dar­auf anbre­chen­den Jah­res und nen­nen ihre Plä­ne, die dar­aus her­vor­ge­hen, gute Vor­sät­ze. Rau­cher wol­len Nicht­rau­cher wer­den, Sport­muf­fel zu Frei­zeit­ath­le­ten, Fau­len­zer zu Arbeits­tie­ren. Die­se guten Vor­sät­ze sind in der Regel noch vor Febru­ar wie­der vergessen.

Wenn es etwas gab, das sie in die­ser Zeit des Jah­res am meis­ten hass­te, dann waren es die guten Vor­sät­ze ande­rer Men­schen und deren auf­dring­li­che Art, die­se Vor­sät­ze jedem Inter­es­sier­ten und Des­in­ter­es­sier­ten glei­cher­ma­ßen unter die Nase zu rei­ben. Auch sie hat­te sich Gedan­ken zum Ablauf des kom­men­den Jah­res gemacht, war dabei aller­dings auf eine ande­re Idee gekom­men, die ihr wesent­lich sym­pa­thi­scher erschien. Sie hat­te sich vor­ge­nom­men, ab Neu­jahr täg­lich in einem klei­nen schwar­zen Büch­lein zu notie­ren, was ihr an jedem ein­zel­nen Tag Schö­nes wider­fah­ren wür­de. Es muss­te nichts Gro­ßes sein, nichts Über­wäl­ti­gen­des, ein­fach etwas Schö­nes, etwas Gutes, etwas Posi­ti­ves, das ihr den Tag und damit auch das Leben ein wenig auf­ge­hei­tert oder erhellt, das ihr viel­leicht sogar einen Blick auf die­ses so genann­te Glück ermög­licht hatte.

Das alles begann vor einem Jahr. Nun, drei­hun­dert­zwei­und­sech­zig Tage spä­ter, saß sie bei Nacht in ihrem Zim­mer und blät­ter­te durch das Notiz­buch, das sie mit ihren Erleb­nis­sen gefüt­tert hat­te, um sich so kurz vor Sil­ves­ter die ver­gan­ge­nen zwölf Mona­te noch ein­mal Tag für Tag durch den Kopf gehen zu las­sen, die ange­neh­men wie die bedrü­cken­den Zei­ten. Sie hat­te ein gutes Gefühl dabei, denn das letz­te Jahr war schnell ver­gan­gen, fast schon zu schnell, und wenn etwas schnell ver­geht, ja zu schnell gar, dann ist das in der Regel doch ein Zei­chen dafür, dass man eine gute Zeit ver­bracht hat­te. Die guten Zei­ten ver­ge­hen immer wie im Flug, das ist das Trau­ri­ge an ihnen und der Grund, wes­halb sie so sel­ten das Gewicht der schwe­ren Zei­ten auf­wie­gen kön­nen, die sich ihrer­seits wie Fuß­ket­ten an das Leben bin­den, sodass man sich fühlt, als wür­de man durch ein Moor waten und nicht vor­an­kom­men. Zwar waren in die­sem Jahr nicht alle ihre Wün­sche in Erfül­lung gegan­gen, aber wer konn­te das schon von sich behaupten.

Als sie anfing, die ers­ten Sei­ten durch­zu­blät­tern und dabei die täg­li­chen Ein­trä­ge zu stu­die­ren, muss­te sie schmun­zeln. Sie ging in die Küche, öff­ne­te sich eine Fla­sche Wein und wid­me­te sich der wei­te­ren Lek­tü­re. Was sie las, stimm­te sie zufrie­den. Es waren Klei­nig­kei­ten, aber es waren teils süße, teils herz­er­wär­men­de, teils völ­lig in Ver­ges­sen­heit gera­te­ne Gescheh­nis­se, die sie dort sah, und es waren Din­ge, die sie auch heu­te noch fröh­lich gemacht hät­ten, wür­den sie ihr erneut pas­sie­ren. Sie las die Ein­trä­ge des gesam­ten Janu­ars und dann die Noti­zen des fol­gen­den Febru­ars. Ihr fiel auf, dass sich eini­ge Erleb­nis­se bereits wie­der­hol­ten, doch das stör­te sie nicht wei­ter. Ganz im Gegen­teil, ent­wi­ckel­te sich beim Lesen eine gewis­se Span­nung, denn da Janu­ar und Febru­ar recht ruhig ver­lau­fen waren, fie­ber­te sie inner­lich dem ers­ten außer­ge­wöhn­li­chen, dem ers­ten auf­fäl­li­gen, dem ers­ten bedeu­ten­den Ein­trag ent­ge­gen, was nun wie­der­um nicht hieß, dass die bis­he­ri­gen Ein­trä­ge für sie unbe­deu­tend gewe­sen wären, nur waren es Bana­li­tä­ten, all­täg­li­che Gescheh­nis­se, die sicher­lich jedem zuteil­wur­den und sich jeder­zeit wie­der ereig­nen könn­ten, wenn sie ein­fach nur einen völ­lig nor­ma­len Tag ver­brin­gen oder durch die Fuß­gän­ger­zo­ne schlen­dern würde.

Sie setz­te ihre Hoff­nun­gen in den März, denn end­lich, ja end­lich muss­te doch etwas Auf­re­gen­des gesche­hen sein. Beim Lesen offen­bar­te sich ihr dann aller­dings das gewohn­te Bild, das Janu­ar und Febru­ar ihr bereits zur Genü­ge prä­sen­tiert hat­ten. Lang­sam wur­de sie unge­dul­dig. Viel­leicht ist es doch eine blö­de Idee gewe­sen, die­ses Büch­lein zu füh­ren, dach­te sie sich und blät­ter­te nun ganz zufäl­lig durch die Sei­ten, bis sie einen Tag im Juni auf­schlug, immer noch auf der Suche nach span­nen­den, irgend­wie berüh­ren­den Ereig­nis­sen. „Fünf Euro auf dem Weg zur Arbeit gefun­den“ las sie da und lach­te. Nein, das war nun wirk­lich weder span­nend noch berüh­rend. Der fol­gen­de Tag war dem­ge­gen­über schon etwas bes­ser, denn dort hat­te sie notiert: „Im Regen spa­zie­ren gegan­gen“. Sie lieb­te es, im Regen durch die Stra­ßen der Stadt spa­zie­ren zu gehen, inso­fern war dies nun für sie zwar ein irgend­wie berüh­ren­der, aber kein son­der­lich her­vor­ste­chen­der, kein außer­ge­wöhn­li­cher, kein befrie­di­gen­der Ein­trag. Sie blät­ter­te wei­ter­hin wahl­los im Juni her­um, las „Von einem Kol­le­gen ein Stück Kuchen bekom­men“ oder „Jeman­dem den Weg erklärt“, fand „Eine Frau hat mir lächelnd die Tür der Stra­ßen­bahn auf­ge­hal­ten“ und „Himm­lisch geschla­fen“, aber rein gar nichts, von dem sie sagen konn­te, es sei etwas Beson­de­res gewe­sen, das ihr ein Stück vom Glück dar­ge­bo­ten hät­te. Das müs­sen ziem­lich schlech­te Tage gewe­sen sein, dach­te sie und blät­ter­te wei­ter, doch was sie auf den Sei­ten der dar­auf­fol­gen­den Wochen lesen konn­te, kam ihr noch bana­ler, noch unwich­ti­ger, jeden­falls kei­nes­wegs erfül­lend oder ein­fach bloß gut vor, son­dern irgend­wie leer. Sie fühl­te sich wie jemand, der in der Lot­te­rie gewinnt und dann aber fest­stel­len muss, dass alle ande­ren eben­falls gewon­nen haben. Nun, dann sind es eben kei­ne schlech­ten Tage gewe­sen, schlech­te Wochen müs­sen es gewe­sen sein. Sie such­te wei­ter. Es waren kei­ne schlech­ten Tage gewe­sen, muss­te sie fest­stel­len, auch kei­ne schlech­ten Wochen, es waren die bes­ten Tage im gan­zen Monat gewe­sen, sogar in zwei Mona­ten, und der Rest des Jah­res war, von ein­zel­nen Aus­nah­men abge­se­hen, nicht viel besser. 

Konn­te das wirk­lich die Wahr­heit sein? Sie hat­te für jeden Tag des Jah­res jeweils nur das eine, das aller­bes­te Erleb­nis notiert, das ihr wider­fah­ren war, die bes­te Hand­lung, die sie voll­bracht, oder das schöns­te Gefühl, das sie an die­sem Tag emp­fun­den hat­te – und die­se Din­ge, die sie da lesen muss­te, die­se Bana­li­tä­ten, die­se Nich­tig­kei­ten, die­se lieb­lo­sen lee­ren Wor­te, die sie kaum zu lesen wag­te, die waren genau das, alles erschöpf­te sich in die­sen Belang­lo­sig­kei­ten? Die­se Ein­trä­ge vol­ler unbe­deu­ten­der All­täg­lich­kei­ten waren alles, was ihr Leben in die­sem einen Jahr aus­ge­macht hat­te? Das war das Bes­te, was die Welt ihr in die­sen Wochen und Mona­ten gebo­ten hat­te? Mehr war da nicht?

Was sie außer­dem beun­ru­hig­te, waren Ein­trä­ge wie der fol­gen­de: „Net­ter Kas­sie­rer hat mir zuge­zwin­kert“. Das gan­ze letz­te Jahr hat­te sie allein ver­bracht, genau wie auch das Jahr zuvor. Sie fand vie­le wei­te­re Ein­trä­ge, die Ähn­li­ches fest­ge­hal­ten hat­ten, ob es sich dabei nun um Kas­sie­rer, Jog­ger, U‑Bahn-Fahr­gäs­te oder irgend­wel­che Call­cen­ter-Mit­ar­bei­ter gehan­delt hat­te. Sie las die­se Ein­trä­ge und sah dar­in den Unter­ton, mit dem sie sie wahr­schein­lich auch geschrie­ben hat­te: Jemand fin­det mich gut, jemand mag mich, ich bin etwas wert. War sie so ver­zwei­felt nach mensch­li­cher Nähe, nach dem Gefühl, jeman­dem – irgend­je­man­dem – zu gefal­len? Ihre Zufrie­den­heit begann zu bröckeln.

Sie nann­te es ein Leben, was sie da geführt hat­te, nun aber frag­te sie sich, ob es denn wirk­lich mehr war als eine unbe­deu­ten­de Exis­tenz. Ver­zwei­felt such­te sie nach einem Ein­trag, der her­aus­stach, der beson­ders war, der es wert war, das Bes­te eines Tages, eines Monats, eines Jah­res zu sein. Sie fand abso­lut nichts, was sie über­zeugt, was sie beein­druckt oder was ihr das Gefühl gege­ben hät­te, ein gutes Jahr hin­ter sich zu haben. Sie ver­miss­te das gro­ße Glück.

Eines Tages blickt man in den Spie­gel und begreift, dass man nie­mals mehr sein wird als das, was man dort sieht. Mit die­ser Erkennt­nis kann man wei­ter­le­ben und sie akzep­tie­ren, man kann sich umbrin­gen, um allem zu ent­ge­hen, oder man blickt nie wie­der in einen Spiegel.

Es war weni­ge Tage vor Sil­ves­ter, als sie zum letz­ten Mal eine lee­re Sei­te in ihrem schwar­zen Büch­lein auf­schlug und mit zitt­ri­gen Fin­gern ledig­lich das Wort „Ende“ hineinschrieb.

Er erwach­te völ­lig ent­kräf­tet in einem Kran­ken­haus­bett und konn­te sich weder dar­an erin­nern wie noch war­um er hier­her­ge­kom­men war. Hat­te er einen Unfall gehabt, war er ein­fach bloß umge­kippt oder hat­te er viel­leicht einen Schlag­an­fall erlit­ten? Sei­ne Arme und sei­ne Bei­ne schmerz­ten ihn, und als er ver­such­te, sie mehr als ein paar Zen­ti­me­ter zu bewe­gen, gab er nach kur­zer Zeit erschöpft auf. Sei­ne Augen ver­nah­men eine mensch­li­che Sil­hou­et­te neben dem Bett, doch noch erkann­te er dar­in kein Gesicht. Ver­wirrt und ohne die­sen Schat­ten direkt anzu­spre­chen, stam­mel­te er bloß: „Wo… wo bin ich hier? Was ist mit mir passiert?“
„Pssst“, flüs­ter­te eine Frau­en­stim­me zärt­lich. „Sei unbe­sorgt, mein Schatz, alles wird wie­der gut. Hab kei­ne Angst. Du bist hier in den bes­ten Händen. “
Er erkann­te die­se Stim­me sofort. Sie gehör­te sei­ner Freun­din, genau­ge­nom­men sei­ner ehe­ma­li­gen Freun­din, die­ser Frau aus ver­gan­ge­nen Zei­ten, die ihn, wie er es aus­drü­cken wür­de, vor drei elend lan­gen Jah­ren aus Grün­den ver­las­sen hat, die er nie ver­ste­hen wird, nach­dem sie bei­de für fünf gute Jah­re eine Bezie­hung mit­ein­an­der geführt hat­ten. Als es zum Ende kam, ging sie fort und warf nie einen Blick zurück, doch er kam nie­mals über sie hin­weg. Er dach­te immer noch an sie und er ver­miss­te sie an jedem Mor­gen, wenn er auf­wach­te, an jedem Abend, wenn er ein­schlief, in jedem Bett, in dem er lag. Am Anfang glaub­te er, das gin­ge bald vor­bei, er wür­de das Ver­mis­sen hin­ter dem All­tag leicht ver­ber­gen kön­nen, und wäre erst etwas Zeit ver­gan­gen, dann wür­de er sie irgend­wann ver­ges­sen, doch es ver­strich erst ein Jahr, dann zwei Jah­re und schließ­lich drei, ohne dass es ihm gelang, sie aus sei­nen Gedan­ken und vor allem aus sei­nen Gefüh­len zu ver­ban­nen. Mehr­mals hat­te er in die­ser Zeit ver­sucht, eine Bezie­hung mit einer ande­ren Frau auf­zu­bau­en, also wei­ter­zu­ma­chen, die Wun­den der Ver­gan­gen­heit wenn schon nicht zu hei­len, dann doch wenigs­tens zu ver­bin­den, aber kei­nem die­ser Ver­su­che war letz­ten Endes ein lan­ger Bestand gegönnt. Er muss­te sich irgend­wann ein­ge­ste­hen, dass kei­ne die­ser Bezie­hun­gen einen Wert für sich hat­te, son­dern sie in Wahr­heit nur ein unbe­wuss­ter und ver­zwei­fel­ter Ver­such waren, sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din zu erset­zen, die für ihn so uner­setz­bar war. Kei­ne die­ser Ersatz­be­zie­hun­gen konn­te er für all­zu lan­ge Zeit auf­recht­erhal­ten, kei­ne die­ser Frau­en konn­te ihn ver­zau­bern, denn jede von ihnen ver­glich er mit ihr und kei­ne war für ihn so gut wie sie, kei­ne genüg­te sei­nem Ver­gleich, kei­ne war ein Dupli­kat sei­ner ein­zi­gen gro­ßen Liebe.
„Du? Wie­so bist du hier? Und… du nennst mich Schatz? War­um? Wir sind… schon so lan­ge nicht mehr zusammen.“
„Ich dach­te, es wür­de dir gefal­len. Ich weiß, wie sehr du mich vermisst.“
„Was weißt du schon“, seufz­te er.
„Ich kann es dir nicht ver­übeln“, ergänz­te sie kokett, beug­te sich zu ihm hin­un­ter und flüs­ter­te in sein Ohr: „Ich war das Bes­te, das dir je pas­siert ist, und ich wer­de es für immer sein.“
„War­um bist du hier?“ wie­der­hol­te er sei­ne Frage.
„Freust du dich denn nicht? Ich weiß, dass du bis heu­te stän­dig an mich denkst, selbst nach all den Jah­ren. Ich weiß, wie sehr du mich brauchst, jetzt noch mehr denn je, und dass du mich nicht los­las­sen kannst, selbst wenn du woll­test. Du ver­misst mich, du hast dich in dei­ner Sehn­sucht ein­ge­mau­ert und du kommst dort nicht her­aus. Kann es einen grö­ße­ren Lie­bes­be­weis geben als jenen, wel­chen du mit dir her­um­trägst? Ich bin hier, weil ich das weiß, und weil ich schät­zen gelernt habe, wie sehr du wirk­lich an mir hängst.“
Unter gro­ßer Anstren­gung dreh­te er sich in sei­nem Bett von ihr weg und ver­barg sein Gesicht, damit sie dar­in nicht sehen konn­te, wie sehr sie ihn mit die­sen Wor­ten erwischt hatte.
„Ent­schul­di­ge, mein Schatz, ich lass dich erst ein­mal allein. Du bist noch sehr schwach und sicher auch sehr müde. Wir reden spä­ter. Nimm die hier, die hel­fen dir“, sag­te sie und zeig­te auf zwei Pil­len und ein Glas mit Was­ser, das direkt dane­ben stand. Dann ging sie zur Tür, dreh­te sich noch ein­mal um, pus­te­te ihm einen Luft­kuss zu und ver­ließ den Raum.
In den dar­auf­fol­gen­den Tagen ver­bes­ser­te sich sein Zustand ein wenig, doch fiel es ihm noch immer schwer, Arme und Bei­ne zu bewe­gen, sodass an Auf­ste­hen noch lan­ge nicht zu den­ken war. Das Zim­mer, in dem er sich befand, war rela­tiv klein, er sah zwei Schrän­ke, ein Fens­ter und einen beschei­de­nen Tisch mit einem Stuhl. Jeden Tag besuch­te ihn sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din und umsorg­te ihn lie­be­voll. Sie brach­te ihm Bücher, Zeit­schrif­ten und Mahl­zei­ten, sie unter­hielt sich mit ihm über die alten, gemein­sa­men Zei­ten, erzähl­te ihm von den neu­es­ten Ereig­nis­sen und ver­sorg­te ihn mit neu­en Medi­ka­men­ten. Er fühl­te sich in ihren Hän­den gebor­gen und konn­te bei wei­tem nicht ver­heh­len, sich über ihre Anwe­sen­heit mehr als nur zu freu­en. Die Zeit ver­ging jedoch, ohne dass sich sein Zustand wesent­lich ver­bes­sert hät­te, doch was ihn viel mehr ver­wun­der­te, war die merk­wür­di­ge Tat­sa­che, dass er wäh­rend sei­nes Auf­ent­halts bis­lang kein Pfle­ge­per­so­nal oder einen Arzt zu Gesicht bekom­men hat­te. Selbst als er den klei­nen Knopf drück­te, um jeman­den an sein Bett zu rufen, kam nie­mand, es geschah nichts. Ein­zig sei­ne Ex-Freun­din erschien mit einer gewis­sen Regel­mä­ßig­keit, also sprach er sie dar­auf an:
„Ich habe hier noch nie eine Schwes­ter gese­hen, geschwei­ge denn einen Arzt.“
„Sei unbe­sorgt, mein Schatz, man küm­mert sich sehr gut um dich. Ich habe dem Per­so­nal klar­ge­macht, dass ich mich, soweit es geht, allei­ne um dich küm­mern wer­de und man dein Zim­mer wirk­lich nur im Not­fall zu betre­ten hat. Ich will kei­ne Leu­te hier um dich her­um, die dich stän­dig stö­ren oder mit irgend­was beläs­ti­gen, wenn du dich doch scho­nen musst.“
„Aber nicht ein­mal ein Arzt war hier…“
„Doch, doch“, beru­hig­te sie ihn, „der Arzt war ges­tern Abend bei dir, als du schon tief und fest geschla­fen hast. Ich war dabei. Du hast geschla­fen wie ein Stein, aber dei­nen Schlaf hast du auch bit­ter nötig. Der Arzt woll­te dich auf­we­cken, aber ich hab ihn ange­faucht, er soll dich bloß in Ruhe las­sen, solan­ge es kein Not­fall ist. Da ist er gegan­gen.“ Sie fing an zu lachen. „Du weißt, ich kann sehr über­zeu­gend sein.“
Als sie nach ein wenig Plau­de­rei schließ­lich ging, nahm er sich vor, an die­sem Abend ein­fach so lan­ge es ihm mög­lich sein wür­de wach zu blei­ben, soll­te der Arzt erneut nach sei­nem Zustand sehen wol­len. Er rang mit der Müdig­keit, aber er ließ sich von ihr nicht über­man­nen, und so war­te­te er bis in die frü­hen Mor­gen­stun­den. Es erschien weder ein Arzt noch sonst irgend­je­mand. Schließ­lich schlief er ein und wur­de eini­ge Stun­den spä­ter von sei­ner ein­zi­gen, treu­en Besu­che­rin geweckt, die ihm sein Früh­stück ans Bett servierte.
An die­sem Mor­gen jedoch war er auf­grund des weni­gen Schlafs völ­lig aus­ge­laugt, und als er die Pil­len zu sich neh­men woll­te, die schon seit dem ers­ten Tag jede sei­ner Mahl­zei­ten beglei­te­ten, ver­lor er sie aus den Fin­gern. Sie schie­nen unter sein Bett zu rol­len, aber so genau konn­te er das nicht beob­ach­ten. Sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din stand wäh­rend­des­sen am Fens­ter und bekam von alle­dem nichts mit, also beließ er es dabei. In den fol­gen­den Stun­den bemerk­te er, dass das Gefühl in sei­nen Armen und Bei­nen mehr und mehr zurück­kehr­te und es ihm zuneh­mend leich­ter fiel, sie zu bewe­gen. Er wuss­te nicht, ob er das als Zufall abtun oder auf das Aus­las­sen der Medi­ka­men­te zurück­füh­ren soll­te, also sprach er die­se Fra­ge am Abend an:
„Was sind das eigent­lich für Pil­len, die du mir jedes Mal mitbringst?“
„Die sind für dei­ne Schmer­zen, mein Schatz“, ent­geg­ne­te sie mit einem Lächeln auf den Lip­pen, in das er sich damals sofort ver­liebt hat­te, „die sol­len dich beruhigen.“
Unter Schmer­zen jedoch litt er nur, wenn er die­se Mit­tel zu sich nahm, doch dass er zu die­ser Erkennt­nis gekom­men war, woll­te er ihr nicht mit­tei­len. Er ent­schloss sich dazu, die Pil­len in Zukunft heim­lich zu mei­den. Irgend­et­was stimmt hier nicht, dach­te er bei sich, erst sah er weit und breit kein Per­so­nal und nun die­ser… Zufall.
Am nächs­ten Mor­gen fühl­te er sich wesent­lich bes­ser, sehr zu sei­ner Ver­wun­de­rung. Arme und Bei­ne konn­te er nun frei bewe­gen, so als sei nie­mals irgend­was gesche­hen. War denn je irgend­was gesche­hen? Er rich­te­te sich zunächst im Bett auf, schwang dann die Bei­ne her­aus und stand schließ­lich auf, ohne jene Glie­der­schmer­zen zu ver­spü­ren, die ihn seit sei­nem Auf­wa­chen ans Bett gefes­selt hat­ten. Nach kur­zem Zögern ging er zur Tür, doch als er die Klin­ke her­un­ter­drück­te, geschah gar nichts. Sie ließ sich nicht öff­nen. Und da ver­stand er. Die Pil­len soll­ten ihm nicht hel­fen, sie soll­ten ihn im Bett hal­ten. Sie woll­te ihn nicht gehen lassen.
Sein Blick fiel auf das Fens­ter, das der ein­zi­ge Aus­weg zu sein schien. Er zog den Vor­hang zur Sei­te, öff­ne­te es und muss­te fest­stel­len, dass er sich hier wohl im vier­ten oder fünf­ten Stock befand. Ein Sprung wür­de wahr­schein­lich töd­lich enden, und irgend­et­was, an dem er sich hät­te fest­hal­ten, an dem er nach unten hät­te klet­tern kön­nen, konn­te er nicht sehen. Er war gefan­gen. Plötz­lich hör­te er ein Geräusch an der Tür, und bevor er sich zurück ins Bett legen konn­te, stand sie schon im Raum und warf ihm einen über­rasch­ten Blick zu.
„Dein Zustand hat sich end­lich gebes­sert“, sag­te sie und ver­such­te, sich ihre Über­ra­schung nicht anmer­ken zu las­sen. „Ich bin so glück­lich, ich dach­te schon, du wür­dest für immer dort lie­gen bleiben.“
„Die Tür war abge­sperrt“, bemerk­te er knapp. „War­um?“
„Ach, mein Schatz, das ist nur zu dei­nem Besten.“
„Erklär mir das! Wie zum Teu­fel soll das denn zu mei­nem Bes­ten sein?“
„Ver­traust du mir nicht mehr?“
„Es fällt mir zuneh­mend schwer, jeman­dem zu ver­trau­en, der mich ein­sperrt und mit irgend­wel­chem Zeug voll­pumpt, das mir jede Hand­lung unmög­lich macht.“
„Reg dich bit­te nicht auf.“
„Bring mir einen Arzt!“
„Es gibt hier kei­ne Ärz­te. Ich küm­me­re mich um dich, nur ich.“
„Du bist verrückt!“
„Leg dich wie­der hin, mach es dir gemüt­lich und lass dich ein­fach von mir ver­sor­gen. Ich habe dich in den letz­ten drei Jah­ren im Stich gelas­sen, das tut mir leid, aber alles kann wie­der so wer­den, wie du es dir wünschst. Wir blei­ben zusam­men, nur wir bei­de. Du brauchst sonst nie­man­den. Niemanden!“
Er sah sie an und blick­te dann zum Fens­ter, das immer noch geöff­net war. Ihr über­rasch­tes Gesicht wich einem Aus­druck der Ver­zweif­lung, dann purer Wut. Als sie eini­ge Schrit­te auf ihn zuging, stieg er in das Fens­ter, hielt sich am Rah­men fest und sprach zu ihr, sie sol­le zurück­blei­ben, sie sol­le ihn nicht anrüh­ren, sonst wür­de er sprin­gen. Sie blieb ste­hen und setz­te wie­der ihr berau­schen­des Lächeln auf.
„Ich weiß, du ver­misst mich an jedem ein­zel­nen Tag, seit­dem ich dich ver­las­sen habe.“ Ihre Stim­me war süß und gleich­zei­tig vol­ler Ero­tik, so als wol­le sie ihn ver­füh­ren. „Ich weiß, du liebst mich heu­te noch genau wie vor drei Jah­ren, und ich weiß, dass du auch immer noch die Hoff­nung hegst, mit mir dein gan­zes Leben zu ver­brin­gen. Wir könn­ten zusam­men noch ein­mal anfan­gen, das hast du dir doch all die Jah­re gewünscht. Nur du und ich, für immer. Bleib bei mir, mein Schatz. Willst du dein Leben denn ein­fach weg­schmei­ßen, wenn du los­lässt und springst?“
„Du bist nicht mein Leben!“, schrie er sie an, blick­te in ihre Augen, lös­te die Fin­ger vom Rah­men und ließ sich aus dem Fens­ter fal­len. „Du warst es viel zu lang.“
Völ­lig benom­men wach­te er in einem Kran­ken­haus­bett auf und konn­te sich weder dar­an erin­nern wie noch war­um er hier­her­ge­kom­men war. Neben dem Bett erkann­te er eine mensch­li­che Sil­hou­et­te, die irgend­et­was zu irgend­je­man­dem sag­te, den er nicht sehen konn­te. Plötz­lich erschien eine zwei­te Gestalt, die sich ihm als Arzt vor­stell­te und ihm erklär­te, es habe lan­ge Zeit nicht gut für ihn aus­ge­se­hen: „Sie waren für eini­ge Zeit im Koma, aber nun haben Sie ja doch noch den Sprung zurück ins Leben geschafft.“

Schon Dos­to­jew­ski mach­te dar­auf auf­merk­sam, daß das Bibel­wort »Lie­be dei­nen Nächs­ten wie dich selbst« wahr­schein­lich anders­rum zu ver­ste­hen ist – näm­lich in dem Sin­ne, daß man den Nächs­ten nur dann lie­ben kann, wenn man sich selbst liebt.

Weni­ger ele­gant, dafür um so prä­gnan­ter, drück­te Marx (Grou­cho, nicht Karl) die­sel­be Idee Jahr­zehn­te spä­ter aus: »Es wür­de mir nicht im Traum ein­fal­len, einem Klub bei­zu­tre­ten, der bereit wäre, jeman­den wie mich als Mit­glied auf­zu­neh­men.« Wenn Sie sich die Mühe neh­men, die Tie­fe die­ses Wit­zes zu ergrün­den, sind Sie bereits gut auf das nun Fol­gen­de vorbereitet.

Geliebt zu wer­den ist auf jeden Fall mys­te­ri­ös. Nach­zu­fra­gen, um Klar­heit zu schaf­fen, emp­fiehlt sich nicht. Bes­ten­falls kann es der ande­re Ihnen über­haupt nicht sagen; schlimms­ten­falls stellt sich sein Grund als etwas her­aus, das Sie selbst bis­her nicht für Ihre char­man­tes­te Eigen­schaft hiel­ten; zum Bei­spiel das Mut­ter­mal auf Ihrer lin­ken Schul­ter. Schwei­gen ist da wie­der ein­mal ganz ein­deu­tig Gold.

Was wir dar­aus für unser The­ma ler­nen kön­nen, zeich­net sich nun schon kla­rer ab. Neh­men Sie nicht ein­fach dank­bar hin, was Ihnen das Leben durch Ihren (offen­sicht­lich selbst lie­bens­wer­ten) Part­ner bie­tet. Grü­beln Sie. Fra­gen Sie sich, aber nicht ihn, war­um. Denn er muß ja irgend­ei­nen Hin­ter­ge­dan­ken haben. Und den ent­hüllt er Ihnen bestimmt nicht.

(…)

[F]ür den Unglück­lich­keits­be­darf des Anfän­gers mag das eben Gesag­te aus­rei­chen. Der Fort­ge­schrit­te­ne aber gibt sich damit nicht zufrie­den. Aus die­sen Zusam­men­hän­gen läßt sich näm­lich wei­te­res Kapi­tal schla­gen, das aller­dings nur den Grou­cho Mar­xens unter uns zugäng­lich ist. Es setzt eben vor­aus, daß man sich selbst für lie­ben­s­un­wür­dig hält. Damit ist jeder, der einen liebt, prompt dis­kre­di­tiert. Denn wer einen liebt, der kei­ne Lie­be ver­dient, mit des­sen Innen­le­ben stimmt etwas nicht. Ein Cha­rak­ter­de­fekt wie Maso­chis­mus, eine neu­ro­ti­sche Bin­dung an eine kas­trie­ren­de Mut­ter, eine mor­bi­de Fas­zi­na­ti­on durch das Min­der­wer­ti­ge – von die­ser Art sind die Grün­de, die sich als Erklä­rung für die Lie­be des oder der Betref­fen­den anbie­ten und sie uner­träg­lich machen. (Zur Aus­wahl der befrie­di­gends­ten Dia­gno­se ist eine gewis­se Kennt­nis der Psy­cho­lo­gie oder wenigs­tens die Teil­nah­me an Selbst­er­fah­rungs­grup­pen von gro­ßem Wert.)

Und damit ist nicht nur das gelieb­te Wesen, son­dern auch der Lie­ben­de selbst und die Lie­be als sol­che in ihrer Schä­big­keit ent­hüllt. Was kann man schon mehr wünschen?

(…)

Nur auf den ers­ten Blick erscheint das absurd, denn die Kom­pli­ka­tio­nen, die mit die­ser Auf­fas­sung ein­her­ge­hen, lie­gen doch so klar auf der Hand. Dies dürf­te aber noch nie­man­den abge­hal­ten haben, oder, wie Shake­speare es in einem sei­ner Sonet­te sagt: »Dies weiß jed­we­der, doch nicht wie man flieht den Him­mel, der zu die­ser Höl­le zieht.« Prak­tisch ver­lie­be man sich also in hoff­nungs­lo­ser Wei­se: in einen ver­hei­ra­te­ten Part­ner, einen Pries­ter, einen Film­star oder eine Opern­sän­ge­rin. Auf die­se Wei­se reist man hoff­nungs­froh, ohne anzu­kom­men, und zwei­tens bleibt einem die Ernüch­te­rung erspart, fest­stel­len zu müs­sen, daß der ande­re gege­be­nen­falls durch­aus bereit ist, in eine Bezie­hung ein­zu­tre­ten – womit er sofort unat­trak­tiv wird.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Mit Mes­sern kann man sich ver­let­zen, daher soll man sie ver­mei­den; Tür­klin­ken sind tat­säch­lich mit Bak­te­ri­en bedeckt. Wer weiß, ob man mit­ten im Sym­pho­nie­kon­zert nicht doch plötz­lich auf die Toi­let­te muß, oder ob man das Schloß beim Nach­prü­fen nicht irr­tüm­lich auf­ge­schlos­sen hat? Der Ver­nünf­ti­ge ver­mei­det daher schar­fe Mes­ser, öff­net Türen mit dem Ell­bo­gen, geht nicht ins Kon­zert und über­zeugt sich fünf­mal, daß die Tür wirk­lich abge­sperrt ist. Vor­aus­set­zung ist aller­dings, daß man das Pro­blem nicht lang­sam aus den Augen ver­liert. Die fol­gen­de Geschich­te zeigt, wie man das ver­mei­den kann:

Eine alte Jung­fer, die am Fluß­u­fer wohnt, beschwert sich bei der Poli­zei über die klei­nen Jun­gen, die vor ihrem Haus nackt baden. Der Inspek­tor schickt einen sei­ner Leu­te hin, der den Ben­geln auf­trägt, nicht vor dem Haus, son­dern wei­ter fluß­auf­wärts zu schwim­men, wo kei­ne Häu­ser mehr sind. Am nächs­ten Tage ruft die Dame erneut an: Die Jun­gen sind immer noch in Sicht­wei­te. Der Poli­zist geht hin und schickt sie noch wei­ter fluß­auf­wärts. Tags dar­auf kommt die Ent­rüs­te­te erneut zum Inspek­tor und beschwert sich: »Von mei­nem Dach­bo­den­fens­ter aus kann ich sie mit dem Fern­glas immer noch sehen!«

Man kann sich nun fra­gen: Was macht die Dame, wenn die klei­nen Jun­gen nun end­gül­tig außer Sicht­wei­te sind? Viel­leicht begibt sie sich jetzt auf lan­ge Spa­zier­gän­ge fluß­auf­wärts, viel­leicht genügt ihr die Sicher­heit, daß irgend­wo nackt geba­det wird. Eines scheint sicher: Die Idee wird sie wei­ter­hin beschäf­ti­gen. Und das Wich­tigs­te an einer so fest geheg­ten Idee ist, daß sie ihre eige­ne Wirk­lich­keit erschaf­fen kann.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Es dau­er­te zwei gan­ze Tage, bis mir so lang­sam klar wur­de, was er wirk­lich zu mir gesagt hat­te. Er wol­le nicht den Teu­fel an die Wand malen, doch es sähe nicht gut aus, hat­te der Arzt mit einem kur­zen Kopf­schüt­teln gemeint, jedoch gleich noch hin­zu­ge­fügt, wahr­schein­lich um der Aus­sa­ge etwas von ihrer Bedroh­lich­keit zu neh­men, ein end­gül­ti­ges Ergeb­nis kön­ne er mir erst in eini­gen Tagen mit­tei­len. Wie schlimm denn „nicht gut“ sei, hat­te ich gefragt, und er ant­wor­te­te bloß knapp, im schlimms­ten Fall stün­den die Chan­cen nicht sehr gut, dass ich das Ende des Jah­res noch erle­ben wür­de, soll­te die genaue Unter­su­chung sei­ne Ver­mu­tung denn bestä­ti­gen. Viel­leicht war er etwas vor­schnell, doch ich schätz­te sei­ne Auf­rich­tig­keit, denn die meis­ten Ärz­te hät­ten sich davor gedrückt, solch eine Ver­mu­tung offen aus­zu­spre­chen, solan­ge sie nicht über eine defi­ni­ti­ve Dia­gno­se ver­füg­ten, um, wie sie sagen wür­den, ihre Pati­en­ten nicht unnö­tig zu ver­ängs­ti­gen. Zwei Tage spä­ter saß ich in einem Bus, es war Nach­mit­tag, und erst da begriff ich plötz­lich, wie mei­ne Per­spek­ti­ven sich ver­än­dert hat­ten. Ich wür­de viel­leicht ster­ben, und zwar sehr bald.
Ich sprach mit nie­man­dem dar­über, außer mit mei­nen Eltern. Wie­so auch? Noch stand das Ergeb­nis gar nicht fest und ich woll­te nie­man­den unnö­tig beun­ru­hi­gen, also ver­hielt ich mich wie jene Ärz­te, die ihre Pati­en­ten erst ein­mal im Dun­keln las­sen. Ich hät­te es nicht ertra­gen, von Freun­den oder den­je­ni­gen Men­schen, die sich dafür hiel­ten, mit­lei­di­ge Bli­cke und wohl­mei­nen­den Zuspruch zu erhal­ten, der bes­ten­falls gut gemeint und im schlimms­ten Fall ein­fach nur lächer­lich ist. Nein, ich behielt es für mich, denn es han­del­te sich ja um eine höchst pri­va­te Ange­le­gen­heit, die zual­ler­erst bloß mich etwas anging. Und wie sie mich etwas anging!
Was in mir geschah, nach­dem ich erst ein­mal begrif­fen hat­te, wie mei­ne Chan­cen stan­den und dass ich viel­leicht bald ster­ben wür­de, kann ich gar nicht so genau beschrei­ben. Es war jedoch nicht wirk­lich schlecht, was in mir vor­ging, so wie man es viel­leicht von jeman­dem erwar­ten wür­de, der dem Tod ins Auge blickt, denn genau das tat ich ja, mehr oder weni­ger. Ich ver­fiel nicht in tie­fe Depres­si­on, ich wur­de weder apa­thisch und hoff­nungs­los, noch begann ich plötz­lich, mich für Extrem­sport zu inter­es­sie­ren, um auf die letz­ten Tage noch mög­lichst vie­le Kicks zu bekom­men. Ich blieb, wenn man das so sagen kann, ober­fläch­lich betrach­tet ziem­lich normal.
Unter der Ober­flä­che jedoch voll­zog sich ein Wan­del, der zwar nicht beson­ders spek­ta­ku­lär erschien, aber mei­nem Leben eine gewis­se neue Rich­tung geben soll­te. Bis­lang hat­te ich ein Leben geführt, das sich in der Regel dar­an ori­en­tier­te, den Weg des gerings­ten Wider­stands zu gehen und mög­lichst wenig auf­zu­fal­len, weil Auf­fal­len in der Regel bedeu­te­te, ziem­lich schnell in Situa­tio­nen zu gera­ten, die sich zu Pro­ble­men ent­wi­ckeln könn­ten. Ich war der Mann, der immer da, aber nie dabei sein woll­te, der immer anwe­send, aber nie betei­ligt war. Das soll­te sich ändern.
Es gab da eine Frau. Ich wür­de nicht so weit gehen zu sagen, dass ich in sie ver­liebt gewe­sen sei. Ein wenig viel­leicht. Mehr woll­te ich mir nicht erlau­ben, weil es zu Pro­ble­men hät­te füh­ren kön­nen. Wir gin­gen eini­ge Male aus, ja, aber nur unter Vor­wän­den, nur mit Beglei­tung, und nie fiel das Wort Date, geschwei­ge denn ein Kuss. An schlech­ten Tage fühl­te ich mich fei­ge und hass­te mich dafür, nicht den Mut auf­zu­brin­gen, sie ein­fach zu küs­sen, doch an guten Tagen klopf­te ich mir auf die Schul­ter, die Sache nicht noch wei­ter zu ver­tie­fen, wür­de sie doch sowie­so in einer Kata­stro­phe oder auf eine ande­re pein­li­che Art enden, aber jeden­falls enden. Es gab Men­schen in mei­nem Leben, zu denen ich freund­lich war, obwohl ich sie nicht aus­ste­hen konn­te. Mein Chef zum Bei­spiel, um ein Kli­schee zu erfül­len, denn wer mag schon sei­nen Chef, aber auch Leu­te in mei­nem Freun­des­kreis, Freun­de von Freun­den, irgend­wel­che Bekann­te sowie natür­lich die­je­ni­gen, von denen man sich erhofft, für die gespiel­te Freund­lich­keit irgend­wann ein­mal etwas zurück­zu­be­kom­men. Ich war ordent­lich und brav, könn­te man sagen, denn ich erfüll­te Auf­ga­ben, die mir zuge­tra­gen wur­den, in der Regel ohne zu mur­ren, befolg­te die Regeln, auch wenn sie mir noch so unsin­nig erschie­nen, wag­te nichts und ord­ne­te mich unter, wo es nur ging, weil alles ande­re nur wie­der zu Pro­ble­men geführt hät­te. Es war kein unan­ge­neh­mes Leben, doch es war ein Leben, das mich auch nicht wirk­lich befrie­dig­te. Ich ließ mich treiben.
Nach den Wor­ten des Arz­tes jedoch war alles anders. Mei­ne Per­spek­ti­ve, mei­ne Rol­le in der Welt und auch mei­ne Selbst­be­trach­tung hat­ten sich ver­än­dert. Ich wür­de viel­leicht bald ster­ben. Haben wir nicht alle die­sen Gedan­ken in uns, schlicht und ein­fach das zu tun, was uns wirk­lich glück­lich macht, wenn wir nur noch einen Tag zu leben hät­ten. Wenn es für mich auch nicht ein ein­zel­ner sein soll­te, so schie­nen mei­ne Tage doch gezählt. Wie lan­ge hät­te ich noch gehabt? Sechs Mona­te? Ein Jahr? Was ist in einem sol­chen Fall schon der Unter­schied zwi­schen einem Tag und einem Jahr? Oder anders gefragt: Was ist der Unter­schied zwi­schen einem Tag und einem Leben? Wie­so tra­gen wir die­se Vor­stel­lung mit uns her­um, wir wür­den plötz­lich alles ganz anders leben und erle­ben, wenn wir wüss­ten, es wäre unser letz­ter Tag? Wenn ich mor­gen ganz unspek­ta­ku­lär in der Dusche aus­rut­schen soll­te, wäre mein letz­ter Tag dann nicht der heu­ti­ge, also belie­big? Immer und nie zugleich? War­um ändern so vie­le Men­schen ihr Leben, wenn sie ein mehr oder weni­ger vages Datum für ihren Tod erfah­ren? Ver­brin­gen wir unse­re Leben viel­leicht so unglück­lich, so unbe­frie­di­gend, so leer, weil wir glau­ben, wir leb­ten für immer, wir könn­ten alles noch irgend­wann nach­ho­len, was wir ver­säu­men – und erst das bal­di­ge Ende, die­ser Gedan­ke an End­lich­keit bringt uns dazu, unser Leben wahr­haft zu genie­ßen, wenn es dafür schon fast zu spät ist? Ich weiß es nicht.
Was ich jedoch wuss­te, war, mein Leben soll­te anders wer­den. Ich woll­te die weni­ge Zeit, die mir viel­leicht noch blieb, sinn­voll nut­zen, sinn­vol­ler als bis­her. In mei­nem Kopf mal­te ich mir aus, wie mein Leben in Zukunft aus­se­hen soll­te. Zual­ler­erst wür­de ich sie anru­fen und um ein Date bit­ten, ein kla­res, ein­deu­ti­ges Date, um dem vor­sich­ti­gen Antas­ten end­lich ein Ende zu berei­ten. Es wäre ris­kant, natür­lich, so wie jede Lie­bes­er­klä­rung, aber ich hat­te nichts mehr zu ver­lie­ren. Vor mei­nem Chef wür­de ich nicht län­ger krie­chen, wenn er mich für sei­ne eige­ne Inkom­pe­tenz bestraft. Anstatt zu heu­cheln, wür­de ich immer mei­ne ehr­li­che Mei­nung zum Aus­druck brin­gen, auch wenn sie eini­gen Men­schen viel­leicht nicht gefal­len mag. Ich wür­de die­je­ni­gen mei­den, die mir nicht gut­tun, und wür­de mir Zeit für Men­schen und Din­ge neh­men, die mir beson­ders am Her­zen lie­gen. Ich wür­de ein bes­se­rer Freund sein, ein bes­se­rer Sohn, ein bes­se­rer Lieb­ha­ber, ein bes­se­rer Mensch. Das war es, was ich mir vor­stell­te, was in mir brann­te. Ich wür­de, wenigs­tens auf mei­ne letz­ten Tage, end­lich das Leben füh­ren, das ich schon die gan­ze Zeit hät­te füh­ren sollen.
Drei Tage spä­ter erhielt ich die Ergeb­nis­se. Der Arzt sag­te zu mir, ich hät­te rie­si­ges Glück, und was er damit mein­te, war wohl, ich bekä­me mein ewi­ges, unda­tier­tes Leben zurück. Ich ging nach Hau­se, setz­te mich auf mei­ne Couch und ver­ar­bei­te­te, was eben gesche­hen war. Ich dach­te an die Frau, mit der ich schon seit lan­ger Zeit so ger­ne aus­ge­hen wür­de, und ver­teu­fel­te mich dafür, sie noch immer nicht ange­ru­fen zu haben. Dann end­lich nahm ich das Tele­fon in die Hand, wähl­te die Num­mer mei­ner Eltern, erzähl­te ihnen die gute Nach­richt, und führ­te mein Leben wei­ter­hin wie zuvor.

It is easie­st to accept hap­pi­ness when it is brought about through things that one can con­trol, that one has achie­ved after much effort and reason. But the hap­pi­ness I had rea­ched with Chloe had not come as a result of any per­so­nal achie­ve­ment or effort. It was sim­ply the out­co­me of having, by a mira­cle of divi­ne inter­ven­ti­on, found a per­son who­se com­pa­ny was more valuable to me than that of anyo­ne else in the world. Such hap­pi­ness was dan­ge­rous pre­cis­e­ly becau­se it was so lack­ing in self-suf­fi­ci­ent per­ma­nence. Had I after months of ste­ady labor pro­du­ced a sci­en­ti­fic for­mu­la that had rocked the world of mole­cu­lar bio­lo­gy, I would have had no qualms about accep­ting the hap­pi­ness that had ensued from such a dis­co­very. The dif­fi­cul­ty of accep­ting the hap­pi­ness Chloe repre­sen­ted came from my absence in the cau­sal pro­cess lea­ding to it, and hence my lack of con­trol over the hap­pi­ness-indu­cing ele­ment in my life. It see­med to have been arran­ged by the gods, and was hence accom­pa­nied by all the pri­mi­ti­ve fear of divi­ne retribution.

„All of man’s unhap­pi­ness comes from an ina­bi­li­ty to stay in his room alo­ne,“ said Pas­cal, advo­ca­ting a need for man to build up his own resour­ces over and against a debi­li­ta­ting depen­dence on the social sphe­re. But how could this pos­si­bly be achie­ved in love? Proust tells the sto­ry of Moham­med II, who, sens­ing that he was fal­ling in love with one of the wives in his harem, at once had her kil­led becau­se he did not wish to live in spi­ri­tu­al bon­da­ge to ano­ther. Short of this approach, I had long ago given up hope of achie­ving self-suf­fi­ci­en­cy. I had gone out of my room, and begun to love ano­ther – ther­eby taking on the risk inse­pa­ra­ble from basing one’s life around ano­ther human being.
(Alain de Bot­ton – On Love)

Mir geht’s so gut,
ich kann ja gar nichts sagen.
Mir geht’s so gut,
ich darf mich nicht beschwern.
Mir geht’s so gut,
manch and­rer wäre froh.
Mir geht’s so schlecht,
weil’s mir so gut gehn muss.

(2010)

Ein Lie­bes­paar geht über die Stra­ße. Sie ver­liert einen Knopf. Ein Drit­ter hebt ihn auf, trägt ihn ihr nach. Das Elend hat ihn wie eine Flech­te über­zo­gen, sein Anzug, sei­ne Haut sogar, alles ist Elend.
»O dan­ke«, sagt die Frau und greift nach dem Knopf, den er aber fest­hält. »Das haben wir gar nicht gemerkt.«
»Natür­lich nicht«, bellt der Drit­te. »Immer ist es unse­re Auf­ga­be, uns um die Glück­li­chen zu küm­mern. Wir sol­len die Augen offen hal­ten. Wir sol­len sor­gen, dass nichts fehlt. Glau­ben Sie viel­leicht, die Glück­li­chen haben ein Auge auf uns? Träu­men Sie wei­ter! Ich bin nicht glück­lich, sehen Sie, ich lebe allein, mit mir in Frie­den, aber glück­lich? Küm­mert sich jemand um mich? Wird jemand an mei­nem Grab singen …«
So geht es immer wei­ter. Er redet mit dem Knopf in der Hand, den er nicht her­gibt. Sein Mono­log schlägt sich ins Gebüsch.
»Uner­wi­der­te Lie­be?«, fragt die Frau.
Er nickt.
»Dei­ne Zeit wird kom­men«, sagt sie.
Das ist ihm neu und gibt ihm zu den­ken. Drei Tage spä­ter nimmt er sein Glück in bei­de Hän­de und bucht einen Flug nach Madei­ra, wo ihn eine Woche Hotel ein statt­li­ches Sümm­chen kos­ten soll. Egal, fin­det er, fühlt sich sno­bis­tisch. Aller­dings stürz­te die Maschi­ne ins Meer, und er soll Madei­ra nie ken­nen­ler­nen. Das Hotel berech­net den Hin­ter­blie­be­nen drei Tage Stor­no-Gebühr, und die Lie­ben­den wer­den nicht ein­mal erfah­ren, dass ihn der Fund eines Knop­fes das Leben kos­ten soll­te. So groß ist ihr Glück.
(Roger Wil­lem­sen – Der Knacks)

In einem sei­ner Fil­me, The Fatal Glass of Beer, zeigt ein Alt­meis­ter der ame­ri­ka­ni­schen Film­ko­mik, W. C. Fields, den erschröck­li­chen, unauf­halt­sa­men Nie­der­gang eines jun­gen Man­nes, der der Ver­su­chung nicht wider­ste­hen kann, sein ers­tes Glas Bier zu trin­ken. Der war­nend erho­be­ne (wenn auch vor unter­drück­tem Lachen leicht zit­tern­de) Zei­ge­fin­ger ist nicht zu über­se­hen: Die Tat ist kurz, die Reue lang. Und wie lang! (Man den­ke nur an eine ande­re bibli­sche Urmut­ter: Eva, und das biß­chen Apfel…)
Die­se Fata­li­tät hat ihre unleug­ba­ren Vor­tei­le, die bis­her scham­haft ver­schwie­gen wur­den, in unse­rem auf­ge­klär­ten Zeit­al­ter aber nicht län­ger ver­heim­licht wer­den dür­fen: Reue hin, Reue her – für unser The­ma ist es viel wich­ti­ger, daß die nie wie­der gut­zu­ma­chen­den Fol­gen des ers­ten Gla­ses Bier alle wei­te­ren Glä­ser wenn schon nicht ent­schul­di­gen, so doch zwin­gend begrün­den. Anders aus­ge­drückt: schön – man steht schuld­be­la­den da, man hät­te es damals bes­ser wis­sen sol­len, aber jetzt ist es zu spät. Damals sün­dig­te man, jetzt ist man das Opfer des eige­nen Fehl­tritts. Ide­al ist die­se Form der Unglück­lich­keits­kon­struk­ti­on frei­lich nicht, nur passabel.
Suchen wir daher nach Ver­fei­ne­run­gen. Was, wenn wir am ursprüng­li­chen Ereig­nis unbe­tei­ligt sind? Wenn uns nie­mand der Mit­hil­fe beschul­di­gen kann? Kein Zwei­fel, dann sind wir rei­ne Opfer, und es soll nur jemand ver­su­chen, an unse­rem Opfer-Sta­tus zu rüt­teln oder gar zu erwar­ten, daß wir etwas dage­gen unter­neh­men. Was uns Gott, Welt, Schick­sal, Natur, Chro­mo­so­me und Hor­mo­ne, Gesell­schaft, Eltern, Ver­wand­te, Poli­zei, Leh­rer, Ärz­te, Chefs oder beson­ders Freun­de anta­ten, wiegt so schwer, daß die blo­ße Insi­nua­ti­on, viel­leicht etwas dage­gen tun zu kön­nen, schon eine Belei­di­gung ist. Außer­dem ist sie unwissenschaftlich.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)