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»Am Ende mei­nes Besuchs im Kran­ken­haus hat er ange­fan­gen, Erin­ne­run­gen zu erzäh­len. Er hat mir ins Gedächt­nis geru­fen, was ich mit sech­zehn gesagt haben muß. In dem Moment habe ich den ein­zi­gen Sinn von Freund­schaft, wie sie heu­te prak­ti­ziert wird, begrif­fen. Der Mensch ist auf sie ange­wie­sen, damit sein Gedächt­nis funk­tio­niert. Sich an sei­ne Ver­gan­gen­heit zu erin­nern, sie immer bei sich zu haben ist viel­leicht die not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung dafür, die Inte­gri­tät sei­nes Ichs zu wah­ren, wie man so sagt. Damit das Ich nicht schrumpft, damit es sein Volu­men behält, müs­sen die Erin­ne­run­gen begos­sen wer­den wie Topf­blu­men, und die­ses Gie­ßen erfor­dert den regel­mä­ßi­gen Kon­takt mit Zeu­gen der Ver­gan­gen­heit. Sie sind unser Spie­gel; unser Gedächt­nis; man ver­langt nichts von ihnen, außer daß sie von Zeit zu Zeit die­sen Spie­gel polie­ren, damit man sich dar­in anschau­en kann. Aber mich inter­es­siert nicht im gerings­ten, was ich auf dem Gym­na­si­um gemacht habe! Was ich mir seit mei­ner frü­hen Jugend, viel­leicht seit mei­ner Kind­heit immer gewünscht habe, war etwas ganz ande­res: die Freund­schaft als obers­ter Wert. Ich sage oft: vor die Wahl zwi­schen der Wahr­heit und dem Freund gestellt, wäh­le ich immer den Freund. Ich sag­te es, um zu pro­vo­zie­ren, aber ich mein­te es ernst. Heu­te weiß ich, daß die­se Maxi­me archa­isch ist. Sie moch­te für Achill gel­ten, den Freund des Patro­klos, für Alex­and­re Dumas‘ Mus­ke­tie­re, sogar für Sancho, der trotz all ihrer Zwis­tig­kei­ten ein ech­ter Freund sei­nes Herrn war. Aber sie gilt nicht für uns. Ich gehe in mei­nem Pes­si­mis­mus so weit, daß ich heu­te bereit bin, die Wahr­heit der Freund­schaft vor­zu­zie­hen. (…) Die Freund­schaft war für mich der Beweis, daß es etwas Stär­ke­res gibt als die Ideo­lo­gie, als die Reli­gi­on, als die Nati­on. In Dumas‘ Roman befin­den sich die Freun­de oft in geg­ne­ri­schen Lagern, so daß sie gezwun­gen sind, gegen­ein­an­der zu kämp­fen. Aber das ändert nichts an ihrer Freund­schaft. Sie hel­fen ein­an­der trotz­dem heim­lich, lis­tig und set­zen sich über die Wahr­heit ihres jewei­li­gen Lagers hin­weg. Sie haben die Freund­schaft über die Wahr­heit, die Sache, die Befeh­le von oben gestellt, über den König, über die Köni­gin, über alles.«
Milan Kun­de­ra – Die Identität

Was heißt das, »in der Wahr­heit leben«? Eine nega­ti­ve Defi­ni­ti­on ist ein­fach: es heißt, nicht zu lügen, sich nicht zu ver­ste­cken, nichts zu ver­heim­li­chen. Seit Franz Sabi­na kennt, lebt er in der Lüge. Er erzählt sei­ner Frau von einem Kon­greß in Ams­ter­dam, der nie statt­ge­fun­den, von Vor­le­sun­gen in Madrid, die er nie gehal­ten hat, und er hat Angst, mit Sabi­na in den Stra­ßen von Genf spa­zie­ren­zu­ge­hen. Es amü­siert ihn, zu lügen und sich zu ver­ste­cken, denn er hat es sonst nie getan. Er ist dabei ange­nehm auf­ge­regt, wie ein Klas­sen­pri­mus, der beschließt, end­lich ein­mal die Schu­le zu schwänzen.
Für Sabi­na ist »in der Wahr­heit leben«, weder sich selbst noch ande­re zu belü­gen, nur unter der Vor­aus­set­zung mög­lich, daß man ohne Publi­kum lebt. Von dem Moment an, wo jemand unse­rem Tun zuschaut, pas­sen wir uns wohl oder übel den Augen an, die uns beob­ach­ten, und alles, was wir tun, wird unwahr. Ein Publi­kum zu haben, an ein Publi­kum zu den­ken, heißt, in der Lüge zu leben. Sabi­na ver­ach­tet die Lite­ra­tur, in der ein Autor alle Inti­mi­tä­ten über sich und sei­ne Freun­de ver­rät. Wer sei­ne Inti­mi­tät ver­liert, der hat alles ver­lo­ren, denkt Sabi­na. Und wer frei­wil­lig dar­auf ver­zich­tet, der ist ein Mons­trum. Dar­um lei­det Sabi­na nicht im gerings­ten dar­un­ter, daß sie ihre Lie­be ver­heim­li­chen muß. Im Gegen­teil, nur so kann sie »in der Wahr­heit leben«.
Franz dage­gen ist über­zeugt, daß in der Tren­nung des Lebens in eine pri­va­te und eine öffent­li­che Sphä­re die Quel­le aller Lügen liegt: Man ist ein ande­rer im Pri­vat­le­ben als in der Öffent­lich­keit. »In der Wahr­heit leben« bedeu­tet für ihn, die Bar­rie­re zwi­schen Pri­vat und Öffent­lich­keit nie­der­zu­rei­ßen. Er zitiert gern den Satz von André Bre­ton, der besagt, daß er gern »in einem Glas­haus« gelebt hät­te, »wo es kei­ne Geheim­nis­se gibt und das allen Bli­cken offensteht«.
(Milan Kun­de­ra – Die uner­träg­li­che Leich­tig­keit des Seins)