Unsereiner muß ja immer warten, wohin er auch kommt. Denn wer kein Geld besitzt, von dem nimmt man an, daß er wenigstens unermeßlich viel Zeit hat. Wer Geld besitzt, kann es mit Geld abmachen; wer kein Geld zum Hinlegen hat, muß es mit seiner Zeit bezahlen und mit seiner Geduld. Denn wird man gar aufsässig oder äußert man seine Ungeduld in einer Weise, die unbeliebt ist, so weiß der Beamte so viele Wege zu gehen, daß man viermal mehr an Zeit bezahlen muß. So beläßt man es bei der Zeitstrafe, die einem auferlegt wird.
(B. Traven – Das Totenschiff)
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Im Bewusstsein der Zeitlichkeit setzt sich der Knacks durch. Auch wo er nicht identifiziert wird, bricht er sich Bahn in den zuwiderlaufenden Kräften, etwa im Versuch, seiner Arbeit mit einer Beschleunigung des Lebensgefühls zu begegnen. Mach schnell, und du wirst ihn mit bloßem Auge, mit bloßem inneren Auge, nicht mehr wahrnehmen. Die Geschwindigkeit wird den Knacks dahinraffen.
Hat die Sprache diese Beschleunigung mit vollzogen? Und ob: In den Siebzigern beantwortete man die Frage »How are you« mit »good«, in den Achtzigern antwortete man auf die gleiche Frage mit »busy«.
Was war geschehen? Die Beschleunigung verriet sich in Komparativen. Der Schnellzug verschwand, er war nicht schnell genug; der Eilbrief verschwand, denn schon das Eilen selbst klingt gemächlich: Altmodische Vokabeln, sie erinnern an die langsame Art, schnell zu sein.
Stattdessen wurden die Indizien der Beschleunigung moralisch: was schnell war, war gut. Es war gut, »auf der Überholspur« zu leben, es war »in«, Fast Food zu mögen, aber Fast Food ist eigentlich Fast Eat, und es erreichte rasch das eigene Heim. Mit der 5-Minuten-Terrine erreicht die Küche ohne Koch und ohne Ritual die Haushalte. Alles beschleunigt: Schnellrasur, Schnellimbiss, Schnelllifting, Schnelltankstelle, Schnellrestaurant, Schnellreinigung wie juristische Schnellverfahren. Es geht schneller: Die einzige Musiksendung auf der Höhe der Zeit hieß »Fast Forward«, die Droge der urbanen Jugend »Speed«. Dies alles arbeitet an der Fiktion des gewonnenen Lebens, es sagt, wenn du schneller bist, schneller reist, Zeit sparst, wirst du am Ende mehr davon haben.
(…)
Wir haben keine Zeit. Wir haben alle keine Zeit. Wir haben sie schon deshalb nicht, damit wir uns nicht zu gut fühlen. Bruch, Knacks, Ermüdung, Scheitern, Kollaps: Unsere ruinösen Ich-Reste sollen nicht erscheinen, nicht aufbrechen, nicht mitsprechen.
(Roger Willemsen – Der Knacks)
Let me tell you a story, the Dial went on. The house that your great-great-great-grandmother and I moved into when we first became married looked out onto the small falls (…). It had wood floors, long windows, and enough room for a large family. It was a handsome house. A good house.
But the water, your great-great-great-grandmother said, I can’t hear myself think.
Time, I urged her. Give it time.
And let me tell you, while the house was unreasonably humid, and the front lawn perpetual mud from all the spray, while the walls needed to be repapered every six months, and chips of paint fell from the ceiling like snow for all seasons, what they say about people who live next to waterfalls is true.
What, my grandfather asked, do they say?
They say that people who live next to waterfalls don’t hear the water.
They say that?
They do. Of course, your great-great-great-grandmother was right. It was terrible at first. We couldn’t stand to be in the house for more than a few hours at a time. The first two weeks were filled with nights of intermittent sleep and quarreling for the sake of being heard over the water. We fought so much just to remind ourselves that we were in love, and not in hate.
But the next weeks were a little better. It was possible to sleep a few good hours each night and eat in only mild discomfort. Your great-great-great-grandmother still cursed the water (whose personification had become anatomically refined), but less frequently, and with less fury. Her attacks on me also quieted. It’s your fault, she would say. You wanted to live here.
Life continued, as life continues, and time passed, as time passes, and after a little more than two months: Do you hear that? I asked her on one of the rare mornings we sat at the table together. Hear it? I put down my coffee and rose from my chair. You hear that thing?
What thing? she asked.
Exactly! I said, running outside to pump my fist at the waterfall. Exactly!
We danced, throwing handfuls of water in the air, hearing nothing at all. We alternated hugs of forgiveness and shouts of human triumph at the water. Who wins the day? Who wins the day, waterfall? We do! We do!
And this is what living next to a waterfall is like, Safran. Every widow wakes one morning, perhaps after years of pure and unwavering grieving, to realize she slept a good night’s sleep, and will be able to eat breakfast, and doesn’t hear her husband’s ghost all the time, but only some of the time. Her grief is replaced with a useful sadness. Every parent who loses a child finds a way to laugh again. The timbre begins to fade. The edge dulls. The hurt lessens. Every love is carved from loss. Mine was. Yours is. Your great-great-great-grandchildren’s will be. But we learn to live in that love.
(Jonathan Safran Foer – Everything is Illuminated)
Freie Zeit gilt hier als Plage,
birgt sie Raum doch für Gedanken,
die sind störend, gar verachtet,
bringen Weltbilder ins Wanken.
(2009)
Gegenüber der imaginären Anthropologie der Wirtschaftswissenschaft, die sich noch nie der Formulierung universeller Gesetze der »zeitlichen Präferenz« entschlagen konnte, ist daran zu erinnern, daß die jeweilige Geneigtheit zur Unterordnung gegenwärtiger Wünsche unter zukünftige Befriedigungen davon abhängt, wie »vernünftig« dieses Opfer ist, d.h. von den jeweiligen Chancen, auf jeden Fall in der Zukunft mehr an Befriedigung zu erhalten als was gegenwärtig geopfert wurde. Unter die ökonomischen Bedingungen der Neigung, untermittelbare Wunscherfüllung zugunsten künftig erhoffter zurückzustellen, ist gleichermaßen die in der gegenwärtigen Lage angelegte Wahrscheinlichkeit der zukünftigen Befriedigung zu rechnen. (…) Für diejenigen, die – wie es so heißt – keine Zukunft haben, die jedenfalls von dieser wenig zu erwarten haben, stellt der Hedonismus, der Tag für Tag zu den unmittelbar gegebenen seltenen Befriedigungsmöglichkeiten (»die günstigen Augenblicke«) greifen läßt, allemal noch die einzig denkbare Philosophie dar. Verständlicher wird damit, warum der vornehmlich im Verhältnis zur Nahrung sich offenbarende praktische Materialismus zu einem der Grundbestandteile des Ethos, ja selbst der Ethik der unteren Klassen gehört: das Gegenwärtigsein im Gegenwärtigen, das sich bekundet in der Sorge, die günstigen Augenblicke auszunutzen und die Zeit zu nehmen, wie sie kommt, ist von sich aus Manifestation von Solidarität mit den anderen (die im übrigen häufig genug die einzige vorhandene Sicherheit gegen die Unbill der Zukunft bilden) insoweit, als in diesem gleichsam vollkommenen zeitlichen Immanenzverhalten sich doch auch die Anerkennung der die spezifische Lage definierenden Grenzen offenbart.
(Pierre Bourdieu – Die feinen Unterschiede)
Ein wunderbarer Text von Lars Frers, den ich schon vor einigen Jahren entdeckt habe und nun, um ihn auch hier zu verbreiten, gemäß CC-Lizenz als Vollzitat wiedergeben möchte (das Original findet sich hier):
Es scheint viele Gründe zu geben, die gegen den Müßiggang sprechen. Der beste von ihnen ist vielleicht der Vorwurf, dass das Nichtstun, das nicht auf etwas konkretes hin orientierte Tätigsein unproduktiv sei. Der Sinn unseres Daseins sei ja schließlich nicht das Treiben durch die Welt, sondern das aktive Nutzen des uns gegebenen Handlungspotentials, der uns gegebenen Freiheit. Müßiggänger verschleudern dieses Potential. Im schlimmsten Fall sind sie eh zu gar nichts nutze, im besten Falle ist es bedauerlich, dass sie sich nicht mehr für ihre, die oder irgendeine Sache einsetzen, denn ihre Mitarbeit ist gefragt und die Sache drängt. Wozu also zögern? Mutig, auf zur Tat!
In der Muße liegt eine besondere Kraft. Sie ist ein Rückzug aus dem Drängen und Ziehen des Alltagsgeschäfts, ein Rückzug, der es ermöglicht die Dinge und die Menschen noch einmal aus der Distanz anzuschauen, zu sehen, zu denken und zu fühlen, ob eingeschlagene Richtungen dorthin führen, wo ich eigentlich hin will. Sich mit diesen grundsätzlichen Fragen zu konfrontieren braucht Zeit. Kann ich mich dazu zwingen, mich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen? Vielleicht, aber ich glaube nicht, dass ich unter Druck zu den Fragen – und möglicherweise auch Antworten – kommen kann, die für mich wichtig sind. Man findet vielleicht auch unter Druck Antworten, aber wahrscheinlich stellt man sich nicht die richtigen Fragen.
Für mich ist der Übergang vom Faulsein zur Muße oder von der Ablenkung zur Muße nicht vollständig klar. Klar ist mir nur, das ich nicht direkt von der Arbeit und vom Alltagsgeschäft in die Muße eintreten kann. Es braucht erst einige Zeit (das heißt in der Regel: einige Tage oder besondere Umstände wie eine anstehende Reise oder einen Urlaub), bis ich keine Lust mehr habe, mich abzulenken, bis ich mich mit der Welt und mir beschäftigen möchte oder bis ich einfach offen bin für Eindrücke und Wahrnehmungen, die ich sonst ausfiltere.
In der Muße allerdings finde ich nicht unbedingt den Frieden. Muße bedeutet nicht Zen-mäßig nach dem Einssein mit der Welt zu streben oder ins Nirvana oder die völlige Ruhe einzutauchen. In der Muße liegt eine Kraft, etwas aktives, auf die Welt bezogenes. Sie ist ein Distanz-zur-Welt-einnehmen, aber sie ist nicht ein sich-von-der-Welt-lösen. Dies scheint mir das Besondere und das Produktive: eine Reorganisation, eine Neueinschätzung und ein weitgehend unbefangenes in Perspektive setzen wird möglich. Von dieser Perspektive aus kann ich dann gestärkt mit Bezug auf meine Welt Tätig werden. Es wird sozusagen ein fester Boden geschaffen, von dem aus ich mich beteiligen kann, der Halt gibt in einer Welt, in der es eine völlig unüberschaubare Anzahl von attraktiven Angeboten und von Verführungen jedweder Art gibt. Ich glaube, dass es kaum möglich ist, ohne solche Pausen – die anfangs Zerstreung sein mögen, die aber später Raum und Zeit zur Konzentration bieten – die Dinge zu tun, die man eigentlich tun möchte und sollte.
Etwas unheimlich finde ich, dass ich bereits seit über sieben Monaten eine einzelne, leere Datei auf dem sonst immer aufgeräumten Desktop meines Computers habe. Die Datei heisst 041105-musse.txt. Das heisst, ich habe mir am 4. November des vergangenen Jahres überlegt, dass ich gerne etwas über die Muße schreiben möchte. In der Datei stand nur der Titel dieses Eintrags Mut zur Muße. Offensichtlich habe ich in den vergangenen Monaten eben nicht die Muße und den Mut gefunden, mich mit diesem Thema schriftlich auseinanderzusetzen. Statt dessen habe ich lieber über gesehene Filme geschrieben, an meiner Arbeit gesessen, Exzerpte angefertigt und allerlei anderes erledigt. Das hat auch alles seinen Sinn, aber ich finde es bedauerlich, dass ich mich nicht vorher dieser Sache gewidmet habe, die mir eigentlich wirklich am Herzen liegt.
Zum Abschluss möchte ich noch einmal auf den Mut eingehen, den es zur Muße benötigt. Mut scheint mir vor allem aus zwei Gründen erforderlich.
- Die Umwelt unterstellt in ihrer spezifischen Form von Normalität und Arbeitsethik, dass Müßiggang unmoralisch und unverantwortlich wäre. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall, aber ich fühle auch den Zwang, mich für dieses illegitime Verhalten zu rechtfertigen (sonst würde ich wohl kaum diesen Text hier schreiben). Das Perfide ist, dass der häufig nur indirekte Vorwurf der Unangemessenheit sowohl von Seiten des entfesselten Kapitalismus als auch von dessen Gegnern kommt. Im einen Fall drängt die Konkurrenz, im anderen die Sache. In beiden Fällen ist Nichtkonformität ausserordentlich irritierend.
- Mut ist gegenüber sich selbst erforderlich. Eigene, bereits getroffene Entscheidungen werden hinterfragt. Es ist vorher unklar, was eigentlich herauskommt und ob es einen wirklich ‚weiterbringen‘ wird man sich der Reflexion stellen möchte. In der Regel ist bei mir ein merkwürdiges Zusammenspiel aus Unzufriedenheit und Zuversicht, aus Verpflichtungsfreiheit und Motiviertheit erforderlich, damit ich den Mut zur Muße aufbringe.
(Lars Frers, Juni 2005)
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