Ver­gäng­lich­keit

Er lebt stets in Erwar­tun­gen. Er liebt es, alles in der Schwe­be zu las­sen. Er gehört zu den Men­schen, denen über­all, wo sie sich befin­den, zwang­haft ein­fällt, wie schön es jetzt auch anders­wo sein möch­te. Er flieht das Hier-und-Jetzt zumin­dest inner­lich. Er mag den Som­mer nicht, über­haupt kei­nen Zustand der Gegen­wär­tig­keit, liebt den Herbst, die Däm­me­rung, die Melan­cho­lie, Ver­gäng­lich­keit ist sein Ele­ment. Frau­en haben bei ihm leicht das Gefühl, ver­stan­den zu wer­den. Er hat wenig Freun­de unter Män­nern. Unter Män­nern kommt er sich nicht als Mann vor. Aber in sei­ner Grund­angst, nicht zu genü­gen, hat er eigent­lich auch Angst vor den Frau­en. Er erobert mehr, als er zu hal­ten ver­mag, und wenn die Part­ne­rin ein­mal sei­ne Gren­ze erspürt hat, ver­liert er jeden Mut; er ist nicht bereit, nicht imstan­de, geliebt zu wer­den als der Mensch, der er ist, und daher ver­nach­läs­sigt er unwill­kür­lich jede Frau, die ihn wahr­haft liebt, denn näh­me er ihre Lie­be wirk­lich ernst, so wäre er ja genö­tigt, infol­ge­des­sen sich selbst anzunehmen.
(Max Frisch – Stiller)

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert