Weit­sicht

Das Auge war von jeher weit­sich­ti­ger als alle ande­ren Sin­ne, und es erzähl­te von den Wun­dern der Welt. Aber die andern Orga­ne nah­men das Auge nicht ernst, weil es von fer­nen Land­schaf­ten schwärm­te, die das Ohr nicht hör­te, die Nase nicht roch, die Zun­ge nicht schmeck­te, Hand und Fuß auch nicht fühlten.
Doch eines Tages sag­te das Auge: »Vor­sicht, hier ist eine Grube!«
»Fängst du schon wie­der an«, höhn­ten ein­stim­mig Hand und Fuß. »Wir füh­len kei­ne Grube!«
»Ich rie­che sie auch nicht!« sag­te groß­mäu­lig die Nase.
»Eine Gru­be? Schme­cke ich nicht!« wider­sprach auch der Mund.
»Ehr­lich gesagt, ich höre sie eben­falls nicht!« mel­de­te sich zuletzt noch, wie­wohl etwas höf­li­cher als die andern, das Ohr zu Wort.
Es dau­er­te nicht lan­ge, da stürz­te der Fuß und riß Hand und Mund, Nase und Ohr und auch das Auge mit sich hin­ab. Der Sturz sorg­te bei allen für Schmer­zen. Und das Auge litt wie die andern und wein­te. An die­sem Tag waren die ande­ren Sin­ne bereit, die Bedeu­tung der Weit­sicht zu akzeptieren.
(Rafik Scha­mi – Lob­lied und ande­re Olivenkerne)

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