Wie es sein sollte

Dein Seufzen treibt eine Weile auf dem Wasser. Erste Sonnenstrahlen umhüllen es mit rosa-goldenem Licht, bevor es in den Wellen des Flusses versinkt.

Wir sitzen auf einem Steg am Leineufer. Ein paar Enten schwimmen vor dem Steg herum. Jede von ihnen trägt einen kleinen Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen, eine Zigarre im Schnabelwinkel und hält in den Flügeln eine Zeitung mit diskreten Löchern zum Durchgucken.

„Ihre Beschattungstechnik ist nicht mehr sehr zeitgemäß“, flüstere ich verschwörerisch.

Du schaust mich verständnislos an und ich begreife, dass das stundenlange Gespräch in der endgültigen Trennung mündet, denn früher hättest Du verstanden und gelacht, jetzt siehst Du nur noch einige der allgegenwärtigen Enten.

Es gilt, sehr schnell zu sein, bevor das Verständnis und der Wille zur Nachsicht in eine Schlammschlacht ausarten. Es ist der Trick, sich das vorher einzugestehen, die Idealvorstellung einer freundschaftlichen Trennung zu demaskieren und dem neugewonnenen Gegner einen Schritt voraus zu sein.“

So hätte es Macchiavelli in seiner Brigitte-Kolumne geschrieben.

Ich atme die aprikosenfarbene Luft ein und starre auf die verschwimmenden Buchstaben des Leibnitz-Zitats an der Mauer des historischen Museums. Mit zusammengekniffenen Augen kann ich gerade noch die Turmuhr der Marktkirche erkennen. Schon halb fünf.

Keiner von uns sagt etwas. Die Stille hat die Konsistenz einer der zähen Rindsrouladen, die meine Mutter früher auf  den Tisch brachte, wenn die Familie gegen malayischen Linseneintopf mit Bananen oder Grünkernauflauf das Veto einlegte. Auf denen konnte man auch stundenlang rumkauen wie auf einem Kaugummi. War der Geschmack verbraucht, blieb der faserige, graubraune Klumpen zurück, den wir alle mit Todesverachtung schluckten. Ich frage mich, ob meine Mutter wirklich glaubte, uns würden die Rouladen schmecken.

„Jetzt, wo wir getrennte Leute sind, ist gegenseitiges Verständnis im Prinzip obsolet. Trotzdem möchte ich Dir eine Geschichte erzählen. Und zwar die von den Russen:

Als ich nach der Arbeit nach Hause komme, sitzen zwei Männer im Esszimmer. Einfach so. Mit der Selbstverständlichkeit von Familienmitgliedern. Beide haben Senfkristall vor sich stehen und eine große Flasche Wodka. Der eine ist bestimmt schon Anfang 50, sein Gesicht sieht aus wie von einem geschickten Künstler in rotem Lehm modelliert, etwas blasser, aber im gleichen Farbton. Selbst die Falten und Kerben haben etwas Mineralisches an sich, sogar sein Haar, wie das einer billigen Perücke, passt farblich ganz Ton in Ton zum Rest. Jemand sollte ihm mal sagen, dass Ton in Ton out ist. Die hellblauen Augen schwimmen in wässriger Gleichgültigkeit. Gleichzeitig ist er eine einzige Forderung, immerzu bereit, aufzuspringen und die ihm zugedachten Gaben des Lebens an sich zu reißen.

Der andere macht einen eher empfindsamen Eindruck, mit feineren Gesichtszügen, feinem schwarzen Haar und Augen, die man nur als seelenvoll bezeichnen kann. Ich stelle ihn mir sofort mit pomadisiertem Haar, in Frack und blankgeputzten Lackschuhen in einem Rauchzimmer vor, auf dem Tischchen neben ihm ein Kristallglas mit Likör. Mit feinen Herrschaften philosophische und soziale Probleme der Jahrhundertwende diskutierend. Albern, was einem während der Sekunden des ersten Ansehens durch den Kopf schießt. Mein Vater ist im ganzen Haus nicht zu finden und ich bin unsicher, was ich mit diesen beiden Männern anfangen soll.

Ich rufe Gerda an. Das Gespräch mit ihr ist eine Art Tauziehen mit Gummiseilen, aber immerhin weiß ich danach, dass die beiden Herren Juri und Michail heißen, zwei Deutschrussen und Musiker sind, die nun bei uns wohnen. Im Zimmer neben meinem. Sie seien wertvolle Künstler im Stil verfolgter Dissidenten. Nahezu Kleinodien.

Ich versuche, mich über diese Bereicherung zu freuen und gehe zurück um mich zumindest vorzustellen. Danach will ich eigentlich nur Ruhe. Stattdessen bekomme ich ein Glas Wodka aufgenötigt und Zigaretten angeboten.

Nach einem gefühlten Liter Schnaps kommt die Gleichgültigkeit. Juris Hand auf meinem Bein ist mir egal. Juris Hand an meinen Brüsten ist mir egal. Wäre ich nüchtern, täte ich aus Anstand etwas geziert, wäre aber trotzdem gleichgültig. Mein Körper ist etwas, das eben an mir und meinen Gedanken dranhängt. Stecken kaum Empfindungen drin. Im Laufe des Abends haben sich die beiden wohl geeinigt, denn Juri schleppt mich ganz selbstverständlich in mein Bett, zieht mich aus und fasst mich an. Kein Streicheln, eher ein lustloses Reiben, als müsse das eben sein, bevor man weitermachen kann. Wäre ich nüchtern, ich täte so, als gefiele mir das. Stöhnte etwas, bewegte das Becken, wie ich das sonst tat, wenn ich mit jemandem mitging. Jetzt liege ich aber einfach da. Er zieht erst meine Hosen runter, dann seine eigenen. Keinen Ton gibt er von sich, als er vehement in mich eindringt, nicht mal ein Ächzen oder Grunzen. Als bringe er eine Pflichtübung hinter sich. Sein Körpergeruch überwältigt meinen eigenen Dunst in einer resignierten feindlichen Übernahme. Es dauert überraschend lange, bis er seinen Prügel aus mir herauszieht und sich, immer noch geräuschlos, anzieht und das Zimmer verlässt. Auf dem Max Ernst Druck an der Wand neben mir entdecke ich Details, die mir bisher verborgen gewesen waren, obwohl der weiße Schleier des Moskitonetzes darüber liegt. Die Wolke links oben im Bild sieht fast aus wie ein Pandagesicht. Ein Comicpanda. Ich mag Max Ernst lieber als H.R. Giger. Die Bilder sind auf eine weniger plakative Art düster und beklemmend. Wenn man will, kann man eine Ahnung von Hoffnung daraus zusammensuchen, muss aber nicht.

Sperma läuft aus mir heraus, es fühlt sich an, als mache ich ins Bett. Irgendwie ist es  auch genauso. Ich mache stellvertretend für den Mineralischen in mein Bett. Besudle es. Die große Eule schaut mir wohlwollend mit plüschig umrahmten Glasaugen dabei zu.

Ich krieche durch die Löcher in der grünen Höhle, das Licht draußen verliert sich, die Pandawolke ist jetzt ein Rochen, oder eine Schlange. Sobald man in dem Bild drin ist, kann man sie nicht mehr sehen, doch die Wolken müssen sich verändern und weiterziehen, denn mit mir in der Szene muss zwangsläufig Zeit vergehen, Dynamik entstehen.

Das Moos, das die Höhleneingänge weich aufpolstert und den Boden zu einer ersten Ruhestätte macht, drücke ich mit Knien und Händen platt. Wo ich länger verharre, richtet es sich nicht wieder auf und an anderen Stellen kann ich hören, wie es aufatmet, weil meine Last fort ist. Ich bin schon so weit in den Berg vorgedrungen, dass das Klopfen und Öffnen meiner Zimmertür kaum noch zu hören ist. Jemand setzt sich neben mich auf die Bettkante. Der Boden aus weichem Gestein knarrt leise und gibt unter dem zusätzlichen Gewicht nach. Eine Feder streicht über mein Haar und die Wangen. Sie scheinen ganz feucht zu sein. Das Dunkel verkrampft sich, etwas nähert sich. Etwas Süßliches, Dumpfes. Zwei weiche Kissen legen sich auf meine Stirn, die Feder streicht über meinen Bauch. Ich ziehe die Beine an und drehe den Kopf und den Rest von mir weg, wieder dem Bild und der Wand zu. Die Höhle hat mich in das faulige Bett ausgespuckt. Gänsehaut dringt auch dort hin, wo mich noch das eine Hosenbein bedeckt. Mehr geht nicht, nur wegdrehen mit letzter Kraft. Die Feder löst sich nicht mit einem Puff in Luft auf, vielmehr bohrt sie sich penetrant sanft hinein. Nicht in den Körper, sondern in mich. Es ist angenehm und abstoßend gleichzeitig, wie Obst kurz vor dem Verfaulen. Wie an Stefanies Geburtstag auf dem Schoß ihres Stiefvaters. Michail gibt fortwährend Schhhs von sich, wie ein Zug. Er soll aus mir verschwinden. Niemand darf in mich hinein.“

Die Frau starrt blicklos in meine Richtung. Ihre Augen wogen selbstständig auf und ab mit den Wellen des Flusswassers. Vorhin hat sie mich noch angesehen, als hätte sie mich erkannt und es war dieser Blick, der mich bewog, den beiden eine der kostbaren, unendlichen Minuten für ihre Trennung zu schenken. Jetzt ist ihre Präsenz ein Loch in der Luft. Der Mann legt den Arm um sie und ich schwimme mit den anderen Enten am Ufer entlang auf eine alte Dame zu, die Brotstücke ins Wasser wirft. Auf dem Uhrenturm der Marktkirche schubst ein spielzeuggroßer Mensch den Zeiger an.

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