Wer glaubt, etwas zu sein, hat auf­ge­hört, etwas zu werden.
(Sokra­tes)

In einem Pro­jekt, an dem ich bis vor cir­ca einem Jahr betei­ligt war, fiel einer der Mit­ar­bei­ter wie­der­holt durch Unpünkt­lich­keit, Unzu­ver­läs­sig­keit und man­geln­de Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit auf. Nen­nen wir die­se Per­son hier ein­fach ein­mal Peter. Peters Ver­hal­ten führ­te mit­un­ter so weit, dass es den gesam­ten Fort­schritt des Pro­jekts erheb­lich ver­zö­ger­te und zeit­wei­se sogar das Pro­jekt als Gan­zes gefährdete.

Wenn Peter vom Rest des Teams zur Rede gestellt wur­de, gelang es ihm meist, auf­grund sei­ner cha­ris­ma­ti­schen Aus­strah­lung alle ande­ren Mit­glie­der mit­tels Aus­re­den zu besänf­ti­gen und auf die Zukunft zu vertrösten.

Ein­mal aller­dings, nach unzäh­li­gen sol­cher Ver­zö­ge­run­gen und Unzu­ver­läs­sig­kei­ten, kam es dann schließ­lich doch zu einer erns­ten Aus­spra­che, in der sich das Team recht ver­nünf­tig, wie mir schien, mit dem Pro­blem aus­ein­an­der­setz­te und Peter recht freund­lich, aber doch deut­lich klar mach­te, wes­halb ein sol­ches Ver­hal­ten nicht nur das Pro­jekt gefähr­de, son­dern auch zwi­schen­mensch­lich im all­ge­mei­nen recht ent­täu­schend sei. Danach bes­ser­te sich sein Ver­hal­ten vor­über­ge­hend ein wenig, doch gelöst wur­de das Pro­blem im End­ef­fekt nur, indem Peter schlicht weni­ger Auf­ga­ben zuge­teilt wur­den, die für das Pro­jekt wich­tig waren. Gelernt hat­te er aus dem Gespräch anschei­nend nichts.

Ein hal­bes Jahr spä­ter unge­fähr unter­hielt ich mich mit zwei ande­ren Team­mit­glie­dern noch ein­mal über das Pro­jekt im All­ge­mei­nen sowie über das pro­ble­ma­ti­sche Ver­hal­ten Peters im Spe­zi­el­len. Einer der bei­den besuch­te auch in der Zeit nach Pro­jekt­ab­schluss noch diver­se Kur­se, an denen auch Peter teil­nahm, und konn­te uns somit von ein paar zusätz­li­chen Ein­drü­cken erzäh­len. Wir frag­ten uns, ob Peter lang­fris­tig aus sei­nen Feh­lern und unse­ren Dis­kus­sio­nen irgend­et­was gelernt hatte.

Die Ant­wort, die wir uns gaben, fiel recht ernüch­ternd aus und wur­de von einem der bei­den, mit denen ich mich unter­hielt, prä­gnant zusam­men­ge­fasst, indem er (nen­nen wir ihn Max) einen Satz zitier­te, den Peter in der dama­li­gen Dis­kus­si­on zu sei­ner Ver­tei­di­gung vor­ge­bracht hat­te: „Es ist bei mir halt so, dass ich den Kopf in den Sand ste­cke, wenn es Pro­ble­me gibt“.

Das Pro­ble­ma­ti­sche an die­sem einen Satz war nun nicht das Kopf-in-den-Sand-Ste­cken, son­dern das unschein­ba­re „es ist bei mir halt so“. Max erklär­te, es gebe sei­nes Erach­tens zwei Typen von Men­schen, näm­lich zum einen die­je­ni­gen, die glau­ben, Men­schen könn­ten sich nicht ändern, und die ande­ren. Die­ser eine Satz drück­te laut Max in weni­gen Wor­ten alles über Peter aus, was hin­sicht­lich die­ser zwei Typen von Bedeu­tung war: Peter gehört(e) zu ersteren.

Peter wird, dar­in waren wir uns einig, die glei­chen Feh­ler wie­der und immer wie­der machen, denn er lernt nichts aus die­sen Feh­lern, will gar nichts dar­aus ler­nen, weil er näm­lich glaubt, er sei „halt so“ – und nicht anders. Er nahm die Kri­tik zwar auf, zog dar­aus aber kei­ne per­sön­li­chen Kon­se­quen­zen, weil das bedeu­tet hät­te, sich selbst ein­zu­ge­ste­hen, etwas falsch gemacht zu haben, und weil das zugleich bedeu­ten wür­de, Enga­ge­ment und Gedan­ken in die eige­ne Ver­än­de­rung oder Wei­ter­ent­wick­lung ste­cken zu müs­sen, wäh­rend die ande­re Lösung, die gewähl­te Lösung, doch so viel ein­fa­cher ist: Ich bin halt so – da kann man nichts machen.

Doch man kann, denn nie­mand ist „halt so“. „Ich bin halt so“ ist Schwach­sinn. Es gibt kein fer­ti­ges Sein, kei­ne abge­schlos­se­ne Per­sön­lich­keit. „Ich bin halt so“ ist eine Aus­re­de und gleich­zei­tig eine selbst­er­fül­len­de Pro­phe­zei­ung. Nur die­je­ni­gen, die die­sen Glau­ben tei­len, wer­den genau so blei­ben. Wer sich selbst davon über­zeugt, er sei „halt so“, wird sich auch immer wie­der gleich ver­hal­ten, immer wie­der die glei­chen Feh­ler machen und die­se Feh­ler als Bestä­ti­gung sehen, „halt so“ zu sein, anstatt dar­aus für die Zukunft irgend­et­was zu lernen.

Eine ande­re Per­son ver­band die­se mit beharr­li­cher Kon­se­quenz ver­tre­te­ne Über­zeu­gung, „halt so“ zu sein, mit noch einem ande­ren Dog­ma. Als ich sie ein­mal frag­te, wel­che Ent­schei­dun­gen sie bereue oder in wel­chen Fäl­len sie sich, im Nach­hin­ein betrach­tet, ein­mal falsch ent­schie­den hät­te oder sich heu­te anders ent­schei­den wür­de, ant­wor­te­te sie mir, es gebe in ihrem Leben bis­her kei­ne sol­chen Ent­schei­dun­gen. Zunächst glaub­te ich noch, das sei nur ein Aus­wei­chen, um der Beant­wor­tung der Fra­ge zu ent­ge­hen, doch was sie sag­te, mein­te sie tat­säch­lich voll­kom­men ernst, wie sich in der fol­gen­den Zeit noch herausstellte.

Im End­ef­fekt bedeu­tet das, was sie damit aus­drück­te, dass sie von sich selbst und für sich selbst glaubt, noch nie wirk­lich einen Feh­ler gemacht zu haben – nichts ande­res sind Ent­schei­dun­gen, die man bereut. Kann es einen sol­chen Men­schen über­haupt geben? Ist das schlicht posi­ti­ves Den­ken in einer absur­den, sei­ner auf die Spit­ze getrie­be­nen Form? Oder Arro­ganz? Kei­ne Ent­schei­dun­gen zu bereu­en heißt eben auch: Nie­mals um Ver­zei­hung zu bit­ten, wenn man ande­ren auf die Füße tritt.

Um ihre Ant­wort zu erklä­ren, argu­men­tier­te sie, dass sie nur dann wie­der genau der sel­be Mensch wer­den wür­de, der sie jetzt ist, wenn sie alle Ent­schei­dun­gen, also auch Feh­ler, die uns präg­ten, erneut genau­so tref­fen wür­de, wie sie sie tat­säch­lich getrof­fen hat. Wür­de sie sich an irgend­ei­ner Stel­le anders ent­schei­den, wür­de sie damit zugleich eine ande­re Per­sön­lich­keit wer­den – dies wür­de sie ger­ne ver­mei­den, weil es das Schick­sal eben so gewollt hät­te und sie damit recht zufrie­den sei.

Die­se Argu­men­ta­ti­on ist so rich­tig wie tri­vi­al. Natür­lich hat­te sie Recht: Sie ist heu­te, wer sie ist, eben weil sie sich so ent­schie­den hat, wie sie sich ent­schie­den hat, und sie wür­de nur wie­der genau der sel­be Mensch wer­den, der sie jetzt ist, wenn sie alle Ent­schei­dun­gen erneut genau­so trä­fe. Bloß: Was sagt einem das? Alles und nichts.

Wenn sich ein Mensch tat­säch­lich die Fra­ge stel­len kann: „Wür­de ich alles, was ich in mei­nem Leben je getan habe, in der glei­chen Situa­ti­on wie­der genau­so machen?“, um dies dann mit Ja zu beant­wor­ten, hal­te ich das, egal bei wem, für Selbst­be­trug. Etwas beim zwei­ten Mal anders zu machen, eine Ent­schei­dung im Nach­hin­ein zu revi­die­ren, zeugt mei­nes Erach­tens kei­nes­wegs davon, eine ande­re Per­son sein zu wol­len oder mit der eige­nen Per­sön­lich­keit unzu­frie­den zu sein. Es heißt nur, dass man aus Feh­lern ler­nen kann, dass man nicht per­fekt ist und sich auch nicht dafür hält. Völ­lig zu Recht sag­te sie: Feh­ler prä­gen uns. Doch gera­de aus die­sem Grund hal­te ich es für ver­mes­sen, im Nach­hin­ein – die­ser rück­bli­cken­den Argu­men­ta­ti­on fol­gend – mit Kennt­nis des Feh­lers den­sel­ben noch ein­mal bege­hen zu wollen.

Zufrie­den­s­ein und Ent­schei­dun­gen zu bereu­en schließt sich nicht aus. Im Gegen­teil: Man kann mit sich selbst zufrie­den sein und trotz­dem Ent­schei­dun­gen bereu­en; man kann sogar mit sich selbst zufrie­den sein, gera­de weil man Ent­schei­dun­gen bereut.

Ein zuge­spitz­tes Bei­spiel soll das Gan­ze ver­deut­li­chen: Wenn ich weiß, dass eine mei­ner Ent­schei­dun­gen einen Men­schen das Leben kos­te­te, wel­chen Grund soll­te ich haben, die­se Ent­schei­dung noch ein­mal genau­so zu tref­fen? Viel­leicht hat sie für mich per­sön­lich im End­ef­fekt dazu geführt, dass ich in Zukunft vor­sich­ti­ger bin, war für mich also alles in allem posi­tiv, aber ermu­tigt oder ent­schul­digt das, sie noch ein­mal genau so zu tref­fen, um wie­der genau der zu wer­den, der ich jetzt bin? Über meta­pho­ri­sche Lei­chen zu gehen und Feh­ler zu wie­der­ho­len, bloß um erneut der­je­ni­ge zu wer­den, der man jetzt ist, zeugt viel­leicht weni­ger von Selbst­zu­frie­den­heit als von Selbst­ge­fäl­lig­keit und einem ego­zen­tri­schen Welt­bild. Da scheint es wie­der durch: Ich bin halt so – und nicht anders.

Ein wenig ähnelt die­se Argu­men­ta­ti­on im Grun­de Vol­taires naiv-opti­mis­ti­schem Can­di­de, der glaubt, alles sei gut und gesche­he zu Recht, auch Krieg, Leid und Armut, da er sich in der bes­ten aller mög­li­chen Wel­ten wähnt und folg­lich den jet­zi­gen Zustand als den bes­ten aller mög­li­chen begreift. Somit ist alles gut, was geschieht und bis hier­hin geschah. Pang­loss, der Leh­rer Can­di­des, der ihm die Leh­re der bes­ten aller mög­li­chen Wel­ten ursprüng­lich nahe­ge­bracht hat­te, sieht in allem Schlech­ten, das geschieht, etwas Gutes und recht­fer­tigt des­sen Exis­tenz, sei es Syphi­lis oder Krieg, aus einem rela­ti­vie­ren­den, aner­ken­nen­den Blick­win­kel, anstatt es als Schlech­tes wahr­zu­neh­men und dar­an zu arbei­ten, es zu ändern. Selbst als Can­di­de am Ende, lan­ge aus sei­nem Para­dies ver­trie­ben, soviel Leid erfah­ren und durch­lebt hat, ver­sucht Pang­loss noch immer, alles Schlech­te schön­zu­re­den, was selbst Can­di­de mitt­ler­wei­le nicht mehr ernst neh­men kann:

„Jeg­li­che Bege­ben­heit im mensch­li­chen Leben gehört in die Ket­te der Din­ge. Denn wären Sie nicht Baro­neß Kune­gun­dens hal­ber mit der­ben Fuß­trit­ten aus dem schöns­ten aller Schlös­ser gejagt, von der Inqui­si­ti­on nicht ein­ge­zo­gen wor­den, hät­ten Sie nicht Ame­ri­ka zu Fuße durch­wan­dert, dem Herrn Baron nicht einen tüch­ti­gen Stoß mit dem Degen ver­setzt, nicht all’ ihre Ham­mel aus dem guten Lan­de Eldo­ra­do ein­ge­büßt, so wür­den Sie jetzt nicht hier ein­ge­mach­ten Zedrat und Pis­ta­zi­en essen.“

Wird die­se Argu­men­ta­ti­on kon­se­quent wei­ter­ge­führt und dra­ma­ti­siert, lässt sich damit von der Ent­schei­dung zwi­schen Döner oder Piz­za über Mob­bing bis hin zu Mord alles schön­re­den, was zum heu­ti­gen Zustand führ­te. Ihr liegt der Glau­be zugrun­de, der Zustand, wie er ist, recht­fer­ti­ge alles, was zu ihm führ­te, adle jedes Gesche­hen, gebe allem einen posi­ti­ven Sinn, mache alles Schlech­te gut. Nicht bloß ist das naiv und ego­zen­trisch, son­dern auch gefähr­lich, ob hin­sicht­lich des Zustands der Welt oder dem der eige­nen Person.

Rück­bli­ckend betrach­tet glau­be ich, dass dies ledig­lich eine Ratio­na­li­sie­rungs­stra­te­gie ist, sich die lang­jäh­rig kul­ti­vier­te „ich bin halt so“-Überzeugung mit einem Zir­kel­schluss makel­los schön­zu­re­den: Wenn ich „halt so bin“, wie ich bin, und alles, was hier­hin führ­te, gut ist, dann bin ich so, wie ich „halt bin“, per­fekt. Kein Grund, das eige­ne Ver­hal­ten zu reflek­tie­ren, in Fra­ge zu stel­len oder gar zu ändern. Wenn ich durch mei­ne Unzu­ver­läs­sig­keit bei­spiels­wei­se ver­ges­se, ande­ren Leu­ten einen Ter­min abzu­sa­gen, für den sie extra 500km fah­ren müs­sen, dann ist das gar kein Feh­ler, denn so kom­men die ande­ren wenigs­tens mal raus. So ein­fach kann das Leben sein. Was als flap­si­ger Spruch noch lus­tig ist, ver­kommt zu Selbst­be­trug und Respekt­lo­sig­keit ande­ren gegen­über, sobald es jemand wirk­lich ernst meint.

In Wahr­heit aller­dings ist nie­mand von uns per­fekt. Feh­ler, die ein Mensch macht und sich selbst ein­ge­steht, sind nor­mal und ver­zeih­bar. Doch wenn ein Mensch, wie die­se Bei­spie­len zei­gen, nicht bloß Feh­ler macht, son­dern noch dazu sei­ne Ver­hal­tens­wei­sen, die zu gera­de die­sen Feh­lern führ­ten, als „halt so“ und damit als unver­än­der­lich begreift oder die Feh­ler als sol­che nicht ein­mal in Erwä­gung zieht, son­dern statt­des­sen sich selbst und sei­ner Umwelt ein­re­det, kei­ne feh­ler­haf­ten Ent­schei­dun­gen getrof­fen zu haben, wird solch ein Mensch auf lan­ge Zeit unaus­steh­lich und sei­ne Feh­ler unver­zeih­lich. Sie gesche­hen dann auch tat­säch­lich immer wieder. 

Men­schen ändern sich – wenn sie es wollen.

Wenn ich eine der vie­len Polit- oder Gesell­schafts-Talk­shows sehe, womit nicht deren wenig ernst­zu­neh­men­de nach­mit­täg­li­che Deri­va­te auf den pri­va­ten Sen­dern gemeint sind, rege ich mich meist recht schnell auf. Es ist rela­tiv egal, ob die Dis­kus­si­on sich dabei um poli­ti­sche, um gesell­schaft­li­che oder um per­sön­li­che The­men dreht und ob ich mich mit einer Sei­te der Dis­kus­si­on iden­ti­fi­zie­ren kann oder nicht. Was mich auf­regt, ist der jewei­li­ge Drang, alle ande­ren mit mis­sio­na­ri­schem Eifer von der eige­nen Posi­ti­on und der eige­nen Art zu leben über­zeu­gen zu wol­len. Vege­ta­ri­er wol­len Fleisch­esser zu Vege­ta­ri­ern kon­ver­tie­ren, Fau­len­zer wol­len Kar­rie­re­men­schen zum locke­ren Leben erzie­hen, Opern­gän­ger dif­fa­mie­ren DSDS-Gucker ob ihrer Kul­tur­lo­sig­keit und jeweils ent­spre­chend umge­kehrt. War­um eigentlich?

Ich strei­te ger­ne mit ande­ren Leu­ten über The­men, bei denen wir uns nicht einig sind. Es macht Spaß und erwei­tert den eige­nen Hori­zont. Von außen ist das, was ich tue, für einen objek­ti­ven Beob­ach­ter wahr­schein­lich nur schwer von Über­zeu­gungs­ar­beit zu unter­schei­den (und viel­leicht tue ich des­we­gen den beschrie­be­nen Per­so­nen teil­wei­se unrecht), doch mei­ne eige­ne Moti­va­ti­on dazu ist kei­nes­wegs das mis­sio­na­ri­sche Bestre­ben, den ande­ren von mei­ner indi­vi­du­el­len Posi­ti­on zu über­zeu­gen und das Gan­ze ideo­lo­gisch womög­lich noch mit der ver­meint­li­chen Erzie­hung zu einer bes­se­ren Welt auf­zu­la­den, wie es so oft prak­ti­ziert wird, son­dern eine weit­aus egoistischere:

Ich möch­te für mich selbst – und zwar nur für mich selbst – die bes­te Art zu leben fin­den, die ich ger­ne guten Gewis­sens lebe und die mir sowohl Spaß als auch ein befrie­di­gen­des Leben ermög­licht, so schwam­mig und banal das nun auch klin­gen mag. Außer­dem hilft es mir, mei­ne Mit­men­schen und ihre eige­ne Art zu leben bes­ser zu verstehen.

Es gibt kei­nen einen rich­ti­gen Weg zu leben, der für alle Men­schen all­ge­mein­gül­tig ist. Alle ande­ren von mei­ner Art zu leben, mei­nen Stand­punk­ten und mei­nen Mei­nun­gen über­zeu­gen zu wol­len, spricht für mich recht deut­lich von einer into­le­ran­ten Grund­hal­tung und über­schät­zen­der Ver­herr­li­chung der eige­nen Positionen.

Des­we­gen lie­be ich es, mit Men­schen zu dis­ku­tie­ren, die eine völ­lig ande­re Mei­nung ver­tre­ten als ich selbst. Ich dis­ku­tie­re ger­ne mit Par­tei­mit­glie­dern jeg­li­cher Art, mit Vega­nern, mit fun­da­men­ta­lis­ti­schen Gen­tech­nik­geg­nern oder -befür­wor­tern, mit Gläu­bi­gen und mit Anhän­gern eines völ­lig frei­en Mark­tes, mit Befür­wor­tern von Stu­di­en­ge­büh­ren und mit unbeug­sa­men Glo­ba­li­sie­rungs­geg­nern genau­so wie mit den Advo­ka­ten glo­ba­ler Aus­beu­tung, weil ich mit jeder die­ser Dis­kus­sio­nen her­aus­fin­den möch­te, wel­che Argu­men­te der ande­re vor­brin­gen kann, über wel­che Erfah­run­gen er ver­fügt, wie er zu sei­ner Mei­nung gekom­men ist und wie kon­se­quent er sie ver­tre­ten kann. Letzt­lich also, um her­aus­zu­fin­den, wie über­zeu­gend er ist. Nicht pri­mär, weil ich ihn über­zeu­gen möch­te, son­dern weil er viel­leicht Argu­men­te her­vor­bringt, die ich nach­voll­zie­hen kann, die mir sinn­voll und stich­hal­tig erschei­nen oder mich wenigs­tens ins Grü­beln brin­gen, die mir letzt­end­lich also hel­fen, mei­ne eige­nen Posi­tio­nen, Mei­nun­gen und Über­zeu­gun­gen fun­diert zu unter­mau­ern oder zu hin­ter­fra­gen und damit schließ­lich dazu bei­tra­gen, mei­nen eige­nen, für mich – und nur für mich – bes­ten Weg zu finden.

Wenn ich allei­ne etwas dar­aus mit­neh­me, ist das bereits gut, doch wenn idea­ler­wei­se alle betei­lig­ten Dis­ku­tan­ten im Zuge als auch in Fol­ge der Dis­kus­si­on ihre Posi­tio­nen kri­tisch reflek­tie­ren, ist das ein vol­ler Erfolg, denn nicht mehr und nicht weni­ger ist dabei mein vor­nehm­li­ches Ziel. Wenn einer oder meh­re­re der Betei­lig­ten, das beinhal­tet selbst­ver­ständ­lich auch mich selbst, infol­ge­des­sen ihre Mei­nung ändern, ist das ein will­kom­me­ner Effekt, denn wir alle ler­nen stän­dig dazu, aber nicht wesent­li­cher Antrieb und soll­te das auch nicht sein.

Der Unter­schied klingt ent­we­der tri­vi­al oder höchst kom­plex, denn es geht dar­um, poten­ti­ell über­zeu­gend zu sein, also die eige­ne Mei­nung kon­sis­tent, fun­diert, kon­se­quent und über­zeugt zu ver­tre­ten, ohne über­zeu­gen, ohne mis­sio­nie­ren zu wol­len, dabei aber immer offen für eige­ne Über­zeu­gung durch neue Argu­men­te zu sein.

Über­zeu­gungs­ar­beit ist immer Macht­durch­set­zung. Wer behaup­tet, DSDS-Gucker ver­füg­ten über kein Ver­ständ­nis für Kul­tur und Fau­len­zer wür­den ihr Leben ver­schwen­den, übt damit Macht aus, indem er die Deu­tungs­ho­heit anstrebt und durch­zu­set­zen ver­sucht, was unter legi­ti­mer Kul­tur und Lebens­füh­rung zu ver­ste­hen sei. Alle, die nicht die­sen Vor­stel­lun­gen ent­spre­chen, wer­den dadurch im- oder gar expli­zit für fehl­ge­lei­tet und ihre Lebens­wei­se für falsch erklärt, wohin­ge­gen die eige­ne stets die rich­ti­ge – die angeb­lich eine rich­ti­ge – ist. Wie so vie­les dreht sich hier­bei alles um Macht und weni­ger um Fra­gen per­sön­li­cher Vor­lie­ben, als die es kaschiert wird, denn gin­ge es ledig­lich um per­sön­li­che Vor­lie­ben, bestün­de nicht das Bestre­ben, ande­re von eben die­sen über­zeu­gen zu wollen.

Das ein­zi­ge – und hier wird es para­dox -, wovon ich ande­re über­zeu­gen möch­te, ist auf der einen Sei­te, dass es ein unver­nünf­ti­ges, weil ten­den­zi­ell tota­li­tä­res Unter­fan­gen ist, ande­re ver­bis­sen von der eige­nen Art zu leben über­zeu­gen zu wol­len, sowie auf der ande­ren Sei­te, offen für Über­zeu­gung durch Argu­men­te zu blei­ben, denn sonst ver­rennt man sich in Fundamentalismus.

Viel liest man über die nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen, die es haben kann, füt­tert man sozia­le Netz­wer­ke, die eige­ne Home­page oder Blogs mit per­sön­li­chen Infor­ma­tio­nen. Wenn­gleich vie­les davon auch zutref­fend ist und die opti­mier­te Selbst­in­sze­nie­rung oder Öffent­lich­ma­chung intims­ter Details bis­wei­len ins Patho­lo­gi­sche abdrif­tet, so ist ein immer wie­der erwähn­ter Punkt doch unter Umstän­den auch nütz­lich: Schnüf­fe­lei durch den aktu­el­len oder einen poten­ti­el­len Arbeitgeber.

Das Pro­fil in sozia­len Netz­wer­ken, die eige­ne Home­page und Aus­sa­gen in Blogs wer­den mit der Sche­re im Kopf ver­fasst oder in vor­aus­ei­len­dem Gehor­sam zen­siert, um der Angst zu begeg­nen, der tat­säch­li­che oder poten­ti­el­le Arbeit­ge­ber könn­te Details über Pri­vat­le­ben, poli­ti­sche oder sexu­el­le Ori­en­tie­rung, Vor­lie­ben und Abnei­gun­gen oder per­sön­li­che Mei­nun­gen erfah­ren und als – natür­lich inof­fi­zi­el­le – Grund­la­ge für nega­ti­ve Kon­se­quen­zen her­an­zie­hen, sei es das Ableh­nen einer Bewer­bung und Nicht­ein­stel­lung, das Über­ge­hen bei einer Beför­de­rung oder in Extrem­fäl­len die Kün­di­gung. Warum?

Genau­so, wie die­se dreis­te Schnüf­fe­lei durch wenig Ver­trau­en ver­die­nen­de Unter­neh­men, denen das Pri­vat­le­ben ihrer Mit­ar­bei­ter, solan­ge es die Arbeit selbst nicht beein­träch­tigt, nicht Grund für nega­ti­ve Sank­tio­nen sein darf, soll und muss, in die eine Rich­tung funk­tio­niert, wirkt sie auch in die ande­re, näm­lich als vor­züg­li­cher Arbeit­ge­ber­fil­ter. Möch­te man für eine Fir­ma arbei­ten, die her­um­schnüf­felt und einen Men­schen nicht ein­stellt, weil er per­sön­li­che, viel­leicht sogar pein­li­che Par­ty­fo­tos in ein sozia­les Netz­werk gela­den hat? Möch­te man für eine Fir­ma arbei­ten, die eine poli­ti­sche Mei­nung jen­seits der eigens pro­pa­gier­ten als Knock-Out-Kri­te­ri­um betrach­tet? Wenn man nicht ein­ge­stellt wird, weil man sich in die­ser oder jener Orga­ni­sa­ti­on enga­giert, ist das dann, abseits vom Öko­no­mi­schen, wirk­lich ein Grund zur Trau­er oder nicht eher zur Freu­de dar­über, dass man nicht Teil eines Unter­neh­men mit sol­chen Prak­ti­ken gewor­den ist? Was für ein Zustand ist das, wenn man vor­sich­tig sein muss, wel­che poli­ti­schen oder per­sön­li­chen Aus­sa­gen man trifft?

„Selbst schuld“, hört man süf­fi­sant von den­je­ni­gen, die sich ent­spre­chend sol­cher an sie gestell­ten Erwar­tun­gen zen­sie­ren und die eige­ne Per­sön­lich­keit demü­tig ver­ste­cken. „Selbst schuld“, kann man ihnen eigent­lich nur antworten.

Seit Jah­ren schon möch­te ich ein Buch über etwas schrei­ben, das mir sehr am Her­zen liegt. Oder wenigs­tens ein PDF mit vie­len Sei­ten. Der Ursprung die­ses Wun­sches liegt in mitt­ler­wei­le schon nicht mehr fass­ba­rer Ver­gan­gen­heit, doch einen ernst­haf­ten Anfang mach­te die­ser Gedan­ke dann erst zum Ende mei­ner Schul­zei­ten, aber bis heu­te habe ich mit die­sem Vor­ha­ben kei­ne gro­ßen Fort­schrit­te erzielt. Ideen kom­men und gehen und das Kon­zept wächst unauf­hör­lich, trotz­dem schaf­fen es nur die sel­tens­ten die­ser Ideen als aus­for­mu­lier­te Sät­ze, Abschnit­te oder gar Sei­ten aufs elek­tro­ni­sche Papier. Warum?

Vie­le Din­ge spie­len eine Rol­le. Die übli­chen Ver­däch­ti­gen natür­lich: man­geln­de Zeit, Faul­heit, nagen­der Per­fek­tio­nis­mus und die Angst vor dem ers­ten Ent­wurf, der nie über­zeugt. Eini­ge davon – wahr­schein­lich die meis­ten – mögen Aus­re­den sein, das ist sicher, doch sind all das gene­rell Grün­de, mit denen umge­gan­gen, denen begeg­net wer­den kann. Es sind Stei­ne auf dem Weg, die weg­zu­räu­men nicht das Pro­blem ist, wenn man weiß, dass man den Weg unbe­dingt gehen möchte.

Der Haupt­grund aller­dings, der mich dar­an hin­dert, irgend­wie sinn­voll mit mei­nem Text vor­an­zu­kom­men, liegt in der Zukunft. Es sind all die Din­ge, die in mei­nem Kopf als gro­ßes Muss auf mich zukom­men: Ich muss Haus­ar­bei­ten machen, ich muss Refe­ra­te vor­be­rei­ten, ich muss für Prü­fun­gen ler­nen (obwohl ich noch nie für Prü­fun­gen gelernt habe). Es ist dabei nicht der Zeit­auf­wand an sich, der für die­se Din­ge jeweils auf­ge­bracht wer­den muss, denn er lässt mir genug Spiel­raum für Frei­zeit, son­dern es sind die Din­ge als sol­che, in denen ich kei­nen per­sön­li­chen Sinn sehe, die das Pro­blem darstellen.

Frei­zeit bedeu­tet nicht gleich­zei­tig freie Zeit. Wenn in den Semes­ter­fe­ri­en alle Haus­ar­bei­ten hin­ter mir lie­gen, kei­ne Klau­su­ren anste­hen und auch das kom­men­de Semes­ter im Ide­al­fall noch eini­ge Wochen ent­fernt liegt, ist das nur Frei­zeit, aber kei­ne freie Zeit. Im Hin­ter­kopf ist mir stets das stö­ren­de Wis­sen all­ge­gen­wär­tig, dass ich bald, wenn die­se kur­ze Pha­se der Frei­zeit ver­gan­gen sein wird, wie­der neue Refe­ra­te wer­de vor­be­rei­ten müs­sen. Wenn die Refe­ra­te vor­be­rei­tet und gehal­ten wur­den, fol­gen die dazu­ge­hö­ri­gen Haus­ar­bei­ten, nach den Haus­ar­bei­ten fol­gen neue Refe­ra­te. Wenn irgend­wann Refe­ra­te und Haus­ar­bei­ten ein­mal vor­bei sind, ste­hen Diplom­ar­beit und Diplom­prü­fung bereits vor der Tür. Danach Bewer­bun­gen, Vor­stel­lungs­ge­sprä­che, Ein­ar­bei­tung, Arbeits­all­tag. Jede die­ser neu­en Stu­fen ist von lächer­li­chen Bestä­ti­gun­gen irgend­wel­cher Instan­zen bezeich­net: eine bestan­de­ne Klau­sur oder Prü­fung, eine Note, eine gut­ge­hei­ße­ne Arbeit, der Abschluss eines Pro­jekts, die Ver­set­zung in ein ande­res Be(s)tätigungsfeld.

All die­ses Müs­sen hängt in mei­nem Kopf stän­dig unbe­wusst über allem ande­ren, wie ein Rau­schen im Radio, das einem die Musik ver­dirbt. Wenn ich Frei­zeit habe, ver­geu­de ich sie mit irgend­wel­chen Seri­en oder Spie­len, räu­me auf oder um, wid­me mich ganz gene­rell dem so genann­ten Amü­se­ment und Enter­tain­ment, um mich von einem Muss zum nächs­ten zu han­geln und die Zeit dazwi­schen tot­zu­schla­gen, in der Hoff­nung auf ein Ende die­ses Muss-Kreis­laufs. Doch immer wie­der erscheint irgend­wo eine neue Stu­fe. Para­ly­se. Nie bekom­me ich es hin, mich end­lich mit dem zu beschäf­ti­gen, womit ich mich schon so lan­ge beschäf­ti­gen möch­te und was mir zudem so sehr am Her­zen liegt. Hin­zu kommt die Eigen­schaft all die­ser Neben­schau­plät­ze – Haus­ar­bei­ten, Refe­ra­te, Bewer­bun­gen und so wei­ter -, eine der­art gro­ße Men­ge an Auf­merk­sam­keit für sich zu bean­spru­chen, dass ein effek­ti­ves und unge­stör­tes Kon­zen­trie­ren auf das, was mir eigent­lich wirk­lich wich­tig ist, gar nicht mög­lich ist.

Mei­ne letz­te freie Zeit, die nicht nur als Frei­zeit bezeich­net wer­den kann, genoss ich direkt nach dem Abitur, als noch völ­lig offen war, ob ich Zivil­dienst wür­de leis­ten müs­sen oder nicht und wie es danach wei­ter­ge­hen wür­de. Die­se Zeit, in der nicht klar war, wel­ches Muss als nächs­tes und wann auf­tre­ten wür­de, in der es kei­nen fest gere­gel­ten Ablauf für die Zukunft gab, kei­ne struk­tu­rier­ten Plä­ne, kei­ne star­ren Schie­nen, auf denen alles ziel­ge­rich­tet dahin­rollt, war gleich­zei­tig die produktivste.

Was wir brau­chen, ist freie Zeit, die nicht bloß Frei­zeit ist.

Sie haben sich immer über die bie­de­ren Schlips­trä­ger und Hosen­an­zug­trä­ge­rin­nen lus­tig gemacht, die bei Ban­ken, Ver­si­che­run­gen und Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen arbei­ten oder bei ande­ren, genau­so mie­fi­gen wie lang­wei­li­gen Fir­men unter­ge­kom­men sind und dort ihr trost­lo­ses Dasein ver­rich­ten. Das war ihre Sicht­wei­se. So woll­ten sie nie enden, die­se Per­spek­ti­ve haben sie stets ver­ab­scheut. Nun arbei­ten sie selbst bei sol­cher­art Ban­ken, Ver­si­che­run­gen, Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen, Markt­for­schungs­in­sti­tu­ten oder in ähn­li­chen Fel­dern, die den glei­chen kal­ten Charme ver­sprü­hen, oder stre­ben es an, das zu tun. Warum?

Ver­än­dert haben sie sich nicht. Das ist das Trau­rigs­te dar­an. Hät­ten sie sich geän­dert, hät­ten sie ihre frü­he­ren Über­zeu­gun­gen über Bord gewor­fen, ja pla­ka­tiv aus­ge­drückt sie sozu­sa­gen ver­ra­ten, so wäre das – aus mei­ner per­sön­li­chen mora­li­schen Per­spek­ti­ve – zwar äußerst scha­de, jedoch kon­se­quent und hät­te es ver­dient, respek­tiert zu wer­den. Genau das ist jedoch nicht der Fall. Unver­än­dert gilt ihr Spott und Hohn den Lang­wei­lern und Spie­ßern, wie sie sagen, die in all den seriö­sen Berufs­fel­dern von Ban­ken bis zu Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen ihr Geld ver­die­nen, und auch wei­ter­hin gehen sie mit der Ver­ach­tung der Wer­te hau­sie­ren, die die­je­ni­gen Insti­tu­tio­nen ver­tre­ten, für die sie nun selbst tätig sind. Dass sie selbst dazu­ge­hö­ren, wis­sen sie, und doch ist ihr Ver­hal­ten kein Aus­druck von kri­ti­scher Selbst­iro­nie. Sie sind nicht gewor­den, wer sie nie wer­den woll­ten, son­dern sie spie­len eine Rol­le, sie insze­nie­ren sich, ver­kau­fen sich, zie­hen Mas­ken auf.

Auf der einen Sei­te haben sie ihre Über­zeu­gun­gen behal­ten, doch auf der ande­ren Sei­te agie­ren sie genau ent­ge­gen­ge­setzt. Ihre Über­zeu­gun­gen sind Sonn­tags­über­zeu­gun­gen gewor­den, die unter der Woche in den Schrank gestellt wer­den, und sie selbst haben durch den Druck der öko­no­misch-rea­len Situa­ti­on eine kom­pli­zier­te Aus­prä­gung mul­ti­pler Per­sön­lich­kei­ten und mora­li­scher Fle­xi­bi­li­tät ent­wi­ckelt, die es ihnen erlaubt, meh­re­re sich wider­spre­chen­de Pake­te aus Hand­lungs­mus­tern, Idea­len und Über­zeu­gun­gen in der eige­nen Per­son zu vereinen.

Sie über­neh­men eine Rol­le. Sie haben ein Dreh­buch zuge­schickt bekom­men, das ihnen nicht gefällt, des­sen ihnen zuge­spro­che­ne Rol­le sie inner­lich eigent­lich ableh­nen – und doch spie­len sie sie. An frei­en Tagen läs­tern sie mit ihren Freun­den und Bekann­ten über das, was sie an Arbeits­ta­gen selbst ver­kör­pern. Wenn jemand auf einer Par­ty sei­ne Ansicht zum Aus­druck bringt, er fän­de Arbeit zum Kot­zen, dann fin­den sie das super, so rich­tig unter­stüt­zens­wert, sie klop­fen dem Muti­gen soli­da­risch auf die Schul­ter und geben ihm Recht. Doch wenn am dar­auf­fol­gen­den Mon­tag ein Kol­le­ge mit der glei­chen Ein­stel­lung am Arbeits­platz erscheint und dafür Ärger kas­siert, rau­nen sie bloß noch „der Idi­ot ist selbst schuld!“ und wen­den sich kopf­schüt­telnd ihrer Arbeit zu.

Sie sind kei­ne Heuch­ler – in unter­schied­li­chen Situa­tio­nen glau­ben sie tat­säch­lich ver­schie­de­ne, teils dia­me­tral gegen­sätz­li­che Din­ge und ver­tre­ten ein­an­der wider­spre­chen­de Ansich­ten, ohne die­se Wider­sprüch­lich­keit bewusst zu erfas­sen. Kurz: Ihre neue Rol­le ver­bie­tet es, eine authen­ti­sche Per­sön­lich­keit zum Aus­druck zu brin­gen, ihre Per­sön­lich­keit, son­dern spal­tet die eige­ne Iden­ti­tät in meh­re­re ver­schie­de­ne Schein-Iden­ti­tä­ten auf, die stets dort wirk­sam sind und die eige­ne Per­son mög­lichst ertrag­reich ver­kau­fen, wo sie als ange­mes­sen erschei­nen. Befeu­ert wird der­ar­ti­ges Ver­hal­ten durch wider­sprüch­li­che gesell­schaft­li­che Anfor­de­run­gen, wie etwa Pla­nungs­kom­pe­tenz und Risi­ko­be­reit­schaft, Fle­xi­bi­li­tät und Ver­läss­lich­keit, Kon­sum­freu­dig­keit und Abs­ti­nenz, Frei­heit und Kon­for­mi­tät, Team­fä­hig­keit und Ego­is­mus, Fami­li­en­sinn und stän­di­ge Mobilität.

Die­ses Ver­hal­ten drückt dabei nicht bloß die harm­lo­se Anpas­sung an äuße­re Umstän­de aus, wie sie in jeder Situa­ti­on vor­han­den ist, son­dern ver­kör­pert das all­ge­gen­wär­ti­ge Sich-Ver­kau­fen und die damit ver­bun­de­ne und stets mit­schwin­gen­de Selbstreg(ul)ierung, die dafür sorgt, sich aus Angst vor nega­ti­ven Kon­se­quen­zen, bei­spiels­wei­se von Sei­te des Arbeits­ge­bers, in jeder Situa­ti­on den Anfor­de­run­gen ent­spre­chend zu ver­mark­ten. Wer sich nicht rich­tig ver­kauft, also sich selbst zur Ware erklärt und die eige­ne Ver­wert­bar­keit auto­nom maxi­miert und ent­spre­chend anpreist, sei es nun am Arbeits­platz, in der Dis­co oder in der Uni­ver­si­tät, gilt als hoff­nungs­lo­ser Verlierer.

Jeder steht dabei für sich allei­ne, denn so muss es sein. In der Welt der Selbst­dar­stel­lung und des Sich-selbst-Ver­kau­fens ist jeder ande­re der poten­ti­el­le Feind, der sich schließ­lich eben­falls mög­lichst erfolg­reich ver­kau­fen möch­te. Mit­men­schen wer­den redu­ziert auf Kon­kur­ren­ten. Die­se para­no­ide Atmo­sphä­re des stän­di­gen Miss­trau­ens und der Angst pro­du­ziert ein Ver­hal­ten, das sich schließ­lich auch auf die eige­ne Per­sön­lich­keit und das Ver­hält­nis zu den Mit­men­schen aus­wirkt und dort selbst das Ver­hält­nis zu den­je­ni­gen mit zuneh­men­der Distanz belegt, die einem eigent­lich am nächs­ten ste­hen. Die ego­is­ti­schen und kal­ku­lie­rend-ratio­na­len Durch­set­zungs­stra­te­gien, die im Berufs­le­ben zumeist nahe­ge­legt oder gar auf­ge­zwun­gen wer­den, trans­por­tie­ren sich bis ins Pri­va­te, wo sie sich in der aus­tausch­ba­ren Unver­bind­lich­keit kühl berech­nen­der Ver­hält­nis­se zum Mit­men­schen niederschlagen.

Freund­schaf­ten, so wie alle Bezie­hun­gen zu ande­ren Men­schen, wer­den in die­ser Welt der tota­len Ver­wer­tung und Selbst­ver­wer­tung eben­so als Waren begrif­fen, die nütz­lich und dien­lich sein sol­len, wie alles ande­re auch. Sie sind unver­bind­lich und ober­fläch­lich. Man ver­kauft sich jedem neu­en sozia­len Kon­takt auf eine ande­re Wei­se, um ihm das zu prä­sen­tie­ren, was er sehen möch­te, und maxi­miert dadurch den Erfolg des Selbst­ver­kau­fens. Mas­ken wer­den auf­ge­zo­gen, Rol­len gespielt, Auf­trit­te geübt. Für jeden Kon­takt ent­steht ein neu­es sozia­les Ich, das eine mög­lichst über­zeu­gen­de Fik­ti­on dar­stellt, und die wirk­li­che Per­sön­lich­keit, die Authen­ti­zi­tät der eige­nen Per­son, ver­kriecht sich aus Angst im stil­len Käm­mer­lein, um die auf­ge­bau­ten Illu­sio­nen nicht zu zer­stö­ren. Einen ande­ren Men­schen an sich her­an­zu­las­sen wird als poten­ti­el­le Schwä­che dis­kre­di­tiert, die nur dann in Kauf genom­men wer­den kann, wenn es der eige­nen Lage dien­lich ist, wenn es bei­spiels­wei­se zu Pres­ti­ge­ge­winn oder finan­zi­el­lem Vor­teil führt, zu Pro­blem­lö­sun­gen bei­trägt oder ein den all­ge­gen­wär­ti­gen Druck aus­glei­chen­des Amü­se­ment verspricht.

Stra­te­gien aus der so genann­ten Arbeits­welt, die dort unter Vor­spie­lung eben sol­cher Rol­len und dem Erzeu­gen von Fik­tio­nen zu Erfolg füh­ren sol­len, wer­den nach eini­ger Zeit kri­tik­los in intims­te Berei­che des eige­nen Lebens über­nom­men und mün­den dar­in, den Betrug und die Illu­si­on als ange­mes­se­ne Grund­la­gen zwi­schen­mensch­li­cher Bezie­hun­gen und sogar Part­ner­schaf­ten anzu­se­hen, ohne zu begrei­fen, dass die Über­tra­gung die­ser Ver­hal­tens­wei­sen in eben die­se Sphä­ren, die stets zwin­gend authen­ti­scher Per­sön­lich­kei­ten und Ver­hal­tens­wei­sen bedür­fen, zwangs­läu­fig zu Schwie­rig­kei­ten füh­ren wird. So ist es kein Wun­der, wenn ent­spre­chen­de Freund­schaf­ten oder Part­ner­schaf­ten zerbrechen.

All die­sen Ver­lus­ten wird häu­fig mit dem Ver­such der Umin­ter­pre­ta­ti­on begeg­net: Die Unver­bind­lich­keit, das berech­nen­de Ver­hal­ten und das illu­so­ri­sche Rol­len­spiel sei­en Aus­druck und Not­wen­dig­keit der Frei­heit des eigens selbst­be­stimm­ten Lebens­ent­wurfs. Nur durch das Rol­len­spiel kön­ne man die eige­ne Per­sön­lich­keit vor der feind­li­chen Außen­welt schüt­zen, lau­tet ein ande­rer Ver­such der posi­ti­ven Umdeu­tung, der nicht begreift, dass das Unter­drü­cken und dar­aus de fac­to resul­tie­ren­de Abschaf­fen die­ser authen­ti­schen Per­sön­lich­keit nicht zu deren Erhal­tung bei­trägt. Die­ser Selbst­be­trug erlaubt es, all die nega­ti­ven Kon­se­quen­zen, die sich dar­aus erge­ben, als unver­meid­lich abzu­stem­peln, als hin­der­lich bei der eige­nen Ver­mark­tung. Es ent­steht ein Typus Mensch, der sei­ne fik­tio­na­len Schein-Per­sön­lich­kei­ten, die damit ein­her­ge­hen­de Selbst­ent­frem­dung und das von Kal­kül bestimm­te Kon­kur­renz- und Nutz­den­ken gegen­über sei­nen Mit­men­schen als etwas Posi­ti­ves begreift, das ihn zum Erfolg führt.

Ent­steht dabei eine Gesell­schaft, in der wir uns wohlfühlen?

Für einen Arbeits­platz, den sie has­sen, für eine Aus­bil­dung, die sie gar nicht wol­len, oder sogar nur für ein Prak­ti­kum, das wohl die nie­ders­te Form der Aus­beu­tung dar­stellt, tun sie alles.

Sie leug­nen ihre eige­ne Mei­nung. Sie leug­nen ihre Träu­me. Sie leug­nen ihre Idea­le. Sie leug­nen ihre Ver­gan­gen­heit. Sie leug­nen, was sie sind. Sie zen­sie­ren ihre Inter­net-Auf­trit­te. Sie wol­len nicht zu dem ste­hen, was sie sagen und den­ken. Sie kon­trol­lie­ren, was man bei Goog­le über sie her­aus­fin­den kann, und wenn ihnen etwas nicht gefällt, dann wol­len sie das ändern. Sie neh­men Bil­der aus dem Netz, die sie viel­leicht in einem schlech­ten Licht dar­stel­len könn­ten. Sie wol­len glänzen.

Sie haben stän­dig die Sche­re im Kopf. Sie wol­len nicht auf­fal­len. Zumin­dest nicht nega­tiv. Doch weil es ein­fa­cher ist, über­haupt nicht auf­zu­fal­len, gehen sie die­sen Weg. Sie buckeln nach oben und sie tre­ten nach unten. Sie kuschen und gehorchen.

Sie brau­chen Men­schen, die ihnen sagen, was sie tun sol­len. Sie wol­len nicht allei­ne lau­fen, nicht ohne Füh­rung, nicht ohne Gelän­der. Trotz­dem sind sie ein­sam, auch wenn sie nicht allein sein mögen. Sie wis­sen nicht, wer sie sind, aber das inter­es­siert sie auch gar nicht. Denn sie sind, was ande­re von ihnen ver­lan­gen. Macht das glücklich?

Wie Wiglaf Dros­te so tref­fend schrieb:

Sie wol­len nicht frei sein, also sol­len alle ande­ren auch nicht dür­fen. (…) Wenn man ihnen ihre Leit­plan­ken schon nicht weg­neh­men kann, darf man immer­hin drü­ber­weg hüp­fen. Inner­halb der Leit­plan­ken­kul­tur gibt es nichts zu fin­den, das sich zu suchen lohnte.
(Wiglaf Dros­te bei taz.de)

Gut ist es, an andern sich zu hal­ten. Denn kei­ner trägt das Leben allein.
(Fried­rich Hölderlin)

Kom­mu­ni­ka­ti­on mit den Mit­men­schen ist kei­ne Ein­bahn­stra­ße. Das gilt vor allem, aber nicht exklu­siv, für die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Freun­den. Kom­mu­ni­ka­ti­on mit den Mit­men­schen ist auch kein Selbst­be­die­nungs­ba­sar. Sie sagen dir ihre Mei­nung – unge­fragt. Sie sagen dir, wor­in du so rich­tig schlecht bist – unge­fragt. Sie sagen dir, dass eini­ge dei­ner Ent­schei­dun­gen ziem­lich blöd waren – ungefragt.

Das alles fin­det man viel­leicht in jenen Momen­ten, in denen man es zu hören bekommt, ziem­lich ner­vig und viel­leicht sogar schei­ße, aber es hilft – und es ist ver­dammt viel wert. Weil eben nie­mand per­fekt ist. Weil nie­mand alles auf Anhieb super macht. Weil nie­mand je aus­lernt. Weil nie­mand allei­ne ist. Weil es gut ist, das eige­ne Han­deln des Öfte­ren aus ande­ren Per­spek­ti­ven und dabei nicht immer nur von den glei­chen Per­so­nen beur­teilt zu sehen, Rat­schlä­ge zu erhal­ten und Kri­tik zu ern­ten, da das eige­ne Selbst­bild stets von der Ver­zer­rung geprägt ist, wie man sich sehen möch­te. Und weil man lernt, dass man nicht über jede nicht selbst gemach­te Erfah­rung erha­ben ist.

Sol­che Rat­schlä­ge, Mei­nun­gen oder Kri­ti­ken ande­rer Men­schen in Erwä­gung zu zie­hen oder gar anzu­neh­men, mag viel­leicht anfangs ein wenig das eige­ne Ego ver­let­zen. Oder man ist außer sich, weil ande­re Men­schen die Dreis­tig­keit besit­zen, sich in das eige­ne Leben ein­zu­mi­schen. Aber letz­ten Endes stärkt es die eige­ne Per­sön­lich­keit, und das ist viel wert­vol­ler als ein ange­kratz­tes Ego. Es lohnt sich, dafür even­tu­el­le Mau­ern ein­zu­rei­ßen, die man gegen­über ande­ren Men­schen und sei­ner Umwelt gebaut hat.

Sie anzu­neh­men hat nie etwas mit Schwä­che oder Unfä­hig­keit zu tun. Im Gegen­teil. Schwach – aber vor allem dumm – ist, wer denkt, alles allei­ne am bes­ten zu wis­sen und zu kön­nen. Wer das glaubt, braucht sich nicht zu wun­dern, wenn er schließ­lich tat­säch­lich das Leben ganz allei­ne tra­gen muss. Wer sich abschot­tet, ver­liert viel Wärme.

Eine jener Cha­rak­te­ris­ti­ken, die Freun­de aus­ma­chen, ist eben die­ses Ein­mi­schen. Sie sagen dir von sich aus Din­ge, die du viel­leicht nicht hören willst, und das ist gut so. Sie sagen dir sol­che Din­ge, ohne dar­auf ange­spro­chen zu wer­den, denn auf Auf­for­de­rung könn­te das jeder. Und sie ver­su­chen dir zu hel­fen, auch und gera­de wenn du sie nicht dar­um bit­test oder wenn du wie­der ein­mal so tust, als bräuch­test du kei­ne Hil­fe, denn auf Auf­for­de­rung könn­te auch das jeder Belie­bi­ge. Ein Belie­bi­ger nimmt aller­dings nicht Anteil. Freun­de schon. Das macht sie unbe­zahl­bar. Auch wenn es hin und wie­der nervt.

Das Ende des Jah­res. Mit eini­gen Freun­den und Bekann­ten ging ich auf eine der vie­len Sil­ves­ter­par­tys in die­ser Nacht und die Stim­mung war super. Irgend­wann im Lau­fe des Abends saß ich mit eini­gen Leu­ten her­um und unter­hielt mich mit ihnen. Ein Freund aus frü­he­ren Zei­ten, den wir zufäl­lig dort getrof­fen hat­ten, sah uns dasit­zen, kam zu mir her­über und meinte:

„Willst du dich nicht ran­ma­chen? Irgend­ei­ne kriegt man auf jeden Fall…“

Das Inter­es­san­te an sei­ner Aus­sa­ge ist unter ande­rem, dass er Recht hat. Irgendeine(n) fin­det man bei sol­chen Gele­gen­hei­ten auf jeden Fall, wenn man das möch­te. Je spä­ter der Abend, des­to höher die Wahr­schein­lich­keit – das liegt nicht ein­mal haupt­säch­lich am Alko­hol. Und ohne Fra­ge ist das auch völ­lig legi­tim, wenn bei­de Sei­ten nur genau das erwar­ten: Irgendeine(n).

Für mich war die­ser Kom­men­tar jedoch einer jener Momen­te, in denen mir klar wird, dass das, was er aus­drück­te, nicht mei­ne Welt ist. Und dass ich nicht irgend­ei­ne möchte.

Wenn man dir linier­tes Papier gibt, schrei­be quer über die Zeilen.
(Juan Ramón Jiménez)

Ich kann die­sen dum­men Spruch nicht mehr hören: Sei doch mal konstruktiv!

Wie­so näm­lich soll­te ich kon­struk­tiv sein, mich also irgend­wie an der Ver­bes­se­rung des Gege­be­nen betei­li­gen? Irgend­et­was Kon­struk­ti­ves zu arti­ku­lie­ren, von Innen an den gege­be­nen Fun­da­men­ten tat­säch­lich mit­zu­ar­bei­ten, wie feh­ler­haft und insta­bil sie auch sein mögen, erscheint mir wenn nicht kol­la­bo­ra­tiv, dann doch zumin­dest schein­hei­lig. Des­we­gen mag ich mich im Rah­men des Gege­be­nen oft nicht kon­struk­tiv äußern, neh­me an tages­po­li­ti­schen Dis­kus­sio­nen meist nicht ernst­haft teil und habe zu vie­len Streit­fra­gen, die schein­bar nur zwei Posi­ti­ons­rich­tun­gen zulas­sen, eine gänz­lich ande­re Ansicht.

Wie kann man die Chan­cen­gleich­heit in der Insti­tu­ti­on Schu­le anhe­ben? Wie kann man die Trans­pa­renz bei Ent­schei­dun­gen auf Staats­ebe­ne för­dern? Was ergibt ein Ver­gleich der ver­schie­de­nen Par­tei­en­sys­te­me? Wie kann man die Arbeits­be­din­gun­gen von Lohn­ab­hän­gi­gen ver­bes­sern? Wie hoch soll­ten die Steu­ern sein? Kei­ne Ahnung, ist mir scheiß­egal – denn das sind alles inter­ne Fra­ge­stel­lun­gen eines Gebil­des, des­sen Teil ich nicht sein und an des­sen Ver­bes­se­rung ich nicht mit­wir­ken möchte.

Vor eini­ger Zeit las ich bei der Frank­fur­ter Rund­schau ein Zitat, das der Sache irgend­wie nahe kommt:

Der lin­ke Roman­cier und Lie­der­ma­cher Franz Josef Degen­hardt, einst gefei­ert wie ein Pop­star und bis heu­te der mit Abstand klügs­te Chro­nist und Song­schrei­ber der Repu­blik, lehnt es mit einer denk­wür­di­gen Erklä­rung ab, von sei­nem Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung noch Gebrauch zu machen: »Ich bin der­ma­ßen dis­si­dent zu den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen und der herr­schen­den Mei­nung, in allem unein­ver­stan­den mit dem, was ist, dass der Ver­such, außer in mei­nen Lie­dern und Erzäh­lun­gen, ein­ver­ständ­lich dies und das Wünsch­ba­re zu ver­deut­li­chen, mir – nun nicht gera­de als kol­la­bo­ra­tiv erscheint -, aber doch unmög­lich ist. Es wäre, zur Zeit jeden­falls, so unver­ständ­lich, wie wenn ein Mis­ter Spock aus einer ganz ande­ren Gala­xie und einer viel spä­te­ren Zeit einem jet­zi­gen Erd­be­woh­ner sei­ne ganz ande­re Welt erklä­ren wür­de, in der es kein Geld und kei­ne Ware gibt, eine Gesell­schaft exis­tiert, die auf einer Gebrauchs­wert- und Bedürf­nis-Öko­no­mie beruht als Vor­aus­set­zung für Demo­kra­tie und das Ende von Aus­beu­tung. Und dass sowas mit­tels Wahl­zet­tel nicht erreich­bar ist.«

Kon­struk­tiv sein? Ganz im Gegen­teil: Destruk­ti­ve und unter­mi­nie­ren­de Kri­tik an dem, was ist, Auf­de­ckung von Mythen und sich lus­tig machen über die exis­tie­ren­den Lächer­lich­kei­ten, das sind Per­spek­ti­ven, die weit­aus sym­pa­thi­scher sind als kon­struk­ti­ve Mit­ar­beit. Ein sol­ches Vor­ge­hen, selbst­ver­ständ­lich stets gewalt­frei, schafft – das ist das Ziel – Bal­last ab, ohne den man dann – danach – wirk­lich kon­struk­tiv vor­ge­hen kann, denn man kann auf Sand kein sta­bi­les Haus bau­en, so sehr man sich auch bemüht, so schön man es auch einrichtet.

Als Denkan­re­gung, auch wenn sich vie­les, aber lei­der nicht das Wesent­li­che ver­än­dert hat:

Wir haben Feh­ler gemacht, wir legen ein vol­les Geständ­nis ab: Wir sind nach­gie­big gewe­sen, wir sind anpas­sungs­fä­hig gewe­sen, wir sind nicht radi­kal gewe­sen. Wir haben uns um die Imma­tri­ku­la­ti­on bewor­ben, wir haben die Imma­tri­ku­la­ti­ons­be­stim­mun­gen gele­sen, wir haben uns den Imma­tri­ku­la­ti­ons­be­stim­mun­gen unter­wor­fen. Wir haben For­mu­la­re aus­ge­füllt, die aus­zu­fül­len eine Zumu­tung war. Wir haben über unse­re Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit Aus­kunft gege­ben, obwohl wir kei­ner Reli­gi­on zuge­hör­ten. Wir haben für unse­re Bewer­bung Grün­de ange­führt, die nicht unse­re Grün­de waren. Wir haben unse­re Zulas­sung erhal­ten, wir haben unse­ren bes­ten Anzug ange­zo­gen, wir sind zur Imma­tri­ku­la­ti­ons­fei­er gegan­gen. Wir haben uns hin­ge­setzt, haben gewar­tet, wir wären am liebs­ten gleich wie­der gegan­gen. Wir haben uns zur Fei­er des Augen­blicks von unse­ren Plät­zen erho­ben, obwohl uns die Fei­er­lich­keit des Augen­blicks nicht bewußt gewor­den ist. Wir sind, als unse­re Pro­fes­so­ren in lan­gen Tala­ren und schwar­zen Käp­pis erblick­ten, nicht in ein nicht enden wol­len­des Geläch­ter aus­ge­bro­chen. Wir haben uns wie­der hin­ge­setzt, als wir uns wie­der hin­set­zen durf­ten. Wir haben die Anspra­che des Rek­tors gehört, wir haben die Anspra­che des Dekans gehört, wir haben die Anspra­che des Stu­den­ten­ver­tre­ters gehört. Wir haben die Wor­te der Red­ner in uns auf­ge­nom­men, wir haben ab und zu die Augen geschlos­sen, wir haben uns jedes­mal ent­schlie­ßen müs­sen, bevor wir gehus­tet haben, wir sind nicht wei­ter auf­ge­fal­len, wir sind lie­be Kom­mi­li­to­nin­nen und Kom­mi­li­to­nen gewe­sen. Wir haben uns des Vor­zugs, ein aka­de­mi­scher Bür­ger zu sein, ver­si­chern las­sen, bevor wir das als rei­nen Vor­zug emp­fan­den. Wir haben unse­re Uni­ver­si­tät freie Uni­ver­si­tät genannt, obwohl wir da gar nicht sicher waren. Wir haben eine Gemein­schaft von Ler­nen­den und Leh­ren­den gebil­det, obwohl die­se Gemein­schaft erst noch zu bil­den war. Wir haben den Imma­tri­ku­la­ti­ons­tee getrun­ken, wir haben unser Stu­di­um begon­nen, wir haben die Pflicht­vor­le­sun­gen belegt, wir sind nicht in den SDS ein­ge­tre­ten. Wir haben uns ein Semes­ter lang mit der Fra­ge beschäf­tigt, war­um die Goten das t hauch­ten und wir haben über einen Fran­zo­sen des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts gear­bei­tet, der sei­ner­seits über einen Römer des zwei­ten Jahr­hun­derts gear­bei­tet hat­te. Wir haben mit die­ser Arbeit kei­nen Erfolg gehabt, denn wir haben die neu­es­ten Ent­wick­lun­gen auf dem Gebiet der Fran­zo­sen des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts, die über einen Römer des zwei­ten Jahr­hun­derts gear­bei­tet haben, nicht gebüh­rend berück­sich­tigt. Wir sind depri­miert gewe­sen, wir haben uns zu Recht kri­ti­siert gefühlt, wir haben es das nächs­te Mal bes­ser gemacht. Wir haben Semi­nar­ar­bei­ten gemacht, die zu machen rei­ne Zeit­ver­schwen­dung war, wir haben Semi­nar­sit­zun­gen pro­to­kol­liert, die nicht zu pro­to­kol­lie­ren, son­dern nur zu kri­ti­sie­ren waren. Wir haben Tat­sa­chen aus­wen­dig gelernt, aus denen nicht das min­des­te zu ler­nen war. Wir haben Prü­fun­gen vor­be­rei­tet, die nur der Prü­fung unse­res Gehor­sams dien­ten. Wir sind ner­vös gewor­den, wir sind unlus­tig gewor­den, wir sind immer schwie­ri­ger gewor­den, wir lit­ten an man­geln­der Kon­zen­tra­ti­on, wir konn­ten nicht ein­schla­fen, wir konn­ten nicht bei­schla­fen, wir haben uns ein­mal aus­ge­spro­chen. Wir haben uns sagen las­sen, wir müß­ten erst mal mit uns sel­ber fer­tig wer­den. Wir sind mit uns sel­ber fer­tig geworden.

Wir sind sach­lich gewe­sen, wir sind gehor­sam gewe­sen, wir sind wirk­lich uner­träg­lich gewe­sen. Die­je­ni­gen, die mit Magni­fi­zenz anzu­re­den waren, haben wir mit Magni­fi­zenz ange­re­det. Die­je­ni­gen, die mit Herr Pro­fes­sor anzu­re­den waren, haben wir mit Herr Pro­fes­sor ange­re­det. Die­je­ni­gen, die mit Herr Dok­tor anzu­re­den waren, haben wir mit Herr Dok­tor ange­re­det. Die­je­ni­gen, die mit Herr Pro­fes­sor Dok­tor Dok­tor anzu­re­den waren, haben wir mit Herr Pro­fes­sor Dok­tor Dok­tor ange­re­det. Wir wol­len es nie wie­der tun. Wir haben uns durch schlech­te Noten klein­krie­gen las­sen, wir haben uns durch gute Noten wie­der auf­mö­beln las­sen, wir haben es mit uns machen las­sen. Wenn wir bei unse­rem Pro­fes­sor in der Vor­le­sung waren, dann haben wir ihm nicht auf die Fin­ger gese­hen, wenn wir uns von ihm prü­fen lie­ßen, haben wir nicht ins Gesicht gese­hen, wenn wir auf dem Klo neben ihm stan­den, dann haben wir nicht auf sei­nen Schwanz gese­hen. Wir wol­len es das nächs­te Mal tun. Wir haben unser Stu­di­um fort­ge­setzt, wir haben die erfor­der­li­che Semes­ter­zahl belegt, wir haben die in uns gesetz­ten Erwar­tun­gen nicht ent­täuscht. Wir haben die Geset­ze des Straf­rechts aus­wen­dig gelernt, obwohl wir doch nicht an den Sinn der Bestra­fung glau­ben. Wir haben die Geset­ze der zwei­ten Laut­ver­schie­bung gelernt, wäh­rend ande­re die Not­stands­ge­set­ze ver­ab­schie­de­ten. Wir haben uns zur Gotisch­prü­fung gra­tu­lie­ren las­sen, wäh­rend unser Bun­des­prä­si­dent der süd­afri­ka­ni­schen Regie­rung zu ihrer Ras­sen­po­li­tik gra­tu­lier­te. Wir haben an die Frei­heit der Wis­sen­schaft geglaubt, wie ande­re an die Frei­heit Süd­viet­nams glauben.

Wir haben es dahin kom­men las­sen, daß sie uns anläß­lich eines Sit-Ins, das sich aus­drück­lich gegen die uner­träg­li­che Ruhe und Ord­nung an die­ser Uni­ver­si­tät rich­te­te, mit einem Hin­weis auf Ruhe und Ord­nung zu Ruhe und Ord­nung zu brin­gen ver­such­ten. Wir haben es dahin kom­men las­sen, daß einer unse­rer sel­te­nen Spe­zia­lis­ten auf dem Gebiet des Mar­xis­mus unse­re Aktio­nen mit denen des Faschis­mus ver­wech­selt hat, was doch wirk­lich eine wis­sen­schaft­li­che Fehl­leis­tung ist. Wir haben uns da offen­bar nicht klar aus­ge­drückt, wir wol­len uns jetzt klar aus­drü­cken. Es geht tat­säch­lich um die Abschaf­fung von Ruhe und Ord­nung, es geht um unde­mo­kra­ti­sches Ver­hal­ten, es geht dar­um, end­lich nicht mehr sach­lich zu sein. Wir haben in aller Sach­lich­keit über den Krieg in Viet­nam infor­miert, obwohl wir erlebt haben, daß wir die unvor­stell­bars­ten Ein­zel­hei­ten über die ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik in Viet­nam zitie­ren kön­nen, ohne daß die Phan­ta­sie unse­rer Nach­barn in Gang gekom­men wäre, aber daß wir nur einen Rasen betre­ten zu brau­chen, des­sen Betre­ten ver­bo­ten ist, um ehr­li­ches, all­ge­mei­nes und nach­hal­ti­ges Grau­en zu erregen.

Wir haben voll­kom­men demo­kra­tisch gegen die Not­stands­ge­set­ze demons­triert, obwohl wir gese­hen haben, daß wir sämt­li­che Rän­ge des Zivil­diens­tes auf­zäh­len kön­nen, ohne irgend­ei­ne Erin­ne­rung wach­zu­ru­fen, aber daß wir nur die poli­zei­lich vor­ge­schrie­be­ne Marsch­rich­tung zu ändern brau­chen, um den Ober­bür­ger­meis­ter und die Bevöl­ke­rung aus den Bet­ten zu holen. Wir haben ruhig und ordent­lich eine Hoch­schul­re­form gefor­dert, obwohl wir her­aus­ge­fun­den haben, daß wir gegen die Uni­ver­si­täts­ver­fas­sung reden kön­nen, soviel und solan­ge wir wol­len, ohne daß sich ein Akten­de­ckel hebt, aber daß wir nur gegen die bau­po­li­zei­li­chen Bestim­mun­gen zu ver­sto­ßen brau­chen, um den gan­zen Uni­ver­si­täts­auf­bau ins Wan­ken zu brin­gen. Da sind wir auf den Gedan­ken gekom­men, daß wir erst den Rasen zer­stö­ren müs­sen, bevor wir die Lügen über Viet­nam zer­stö­ren kön­nen, daß wir erst die Marsch­rich­tung ändern müs­sen, bevor wir etwas an den Not­stands­ge­set­zen ändern kön­nen, daß wir erst die Haus­ord­nung bre­chen müs­sen, bevor wir die Uni­ver­si­täts­ord­nung bre­chen kön­nen. Da haben wir den Ein­fall gehabt, daß das Betre­tungs­ver­bot des Rasens, das Ände­rungs­ver­bot der Marsch­rich­tung, das Ver­an­stal­tungs­ver­bot der Bau­po­li­zei genau die Ver­bo­te sind, mit denen die Herr­schen­den dafür sor­gen, daß die Empö­rung über die Ver­bre­chen in Viet­nam, über die Not­stands­psy­cho­se, über die ver­greis­te Uni­ver­si­täts­ver­fas­sung schön ruhig und wir­kungs­los bleibt.

Da haben wir gemerkt, daß sich in sol­chen Vor­gän­gen die kri­mi­nel­le Gleich­gül­tig­keit einer gan­zen Nati­on aus­tobt. Da haben wir es end­lich gefres­sen, daß gegen den Magni­fi­zenz­wahn und aka­de­mi­sche Son­der­ge­rich­te, gegen Prü­fun­gen, in denen man nur das Fürch­ten, gegen Semi­na­re, in denen man nur das Nach­schla­gen lernt, gegen Aus­bil­dungs­plä­ne, die uns sys­te­ma­tisch ver­bil­den, gegen Sach­lich­keit, die nichts ande­res als Müdig­keit bedeu­tet, gegen die Ver­ket­ze­rung der Emo­ti­on, aus der die Herr­schen­den das Recht ablei­ten, über die Fol­te­run­gen in Viet­nam mit der glei­chen Ruhe reden zu kön­nen wie über das Wet­ter reden zu dür­fen, gegen demo­kra­ti­sches Ver­hal­ten, das dazu dient, die Demo­kra­tie nicht auf­kom­men zu las­sen, gegen Ruhe und Ord­nung, in der die Unter­drü­cker sich aus­ru­hen, gegen ver­lo­ge­ne Ratio­na­li­tät und wohl­weis­li­che Gefühl­s­ar­mut, – daß wir gegen den gan­zen alten Plun­der am sach­lichs­ten argu­men­tie­ren, wenn wir auf­hö­ren zu argu­men­tie­ren, und uns hier in den Haus­flur auf den Fuß­bo­den set­zen. Das wol­len wir jetzt tun.
(Peter Schnei­der, 5. Mai 1967 – zitiert nach: Jür­gen Mier­meis­ter, Joch Staadt (Hrsg.): Pro­vo­ka­tio­nen. Die Stu­den­ten- und Jugend­re­vol­te in ihren Flug­blät­tern 1965-1971, S. 47ff)