Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden.
(Sokrates)

In einem Projekt, an dem ich bis vor circa einem Jahr beteiligt war, fiel einer der Mitarbeiter wiederholt durch Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit und mangelnde Kommunikationsfähigkeit auf. Nennen wir diese Person hier einfach einmal Peter. Peters Verhalten führte mitunter so weit, dass es den gesamten Fortschritt des Projekts erheblich verzögerte und zeitweise sogar das Projekt als Ganzes gefährdete.

Wenn Peter vom Rest des Teams zur Rede gestellt wurde, gelang es ihm meist, aufgrund seiner charismatischen Ausstrahlung alle anderen Mitglieder mittels Ausreden zu besänftigen und auf die Zukunft zu vertrösten.

Einmal allerdings, nach unzähligen solcher Verzögerungen und Unzuverlässigkeiten, kam es dann schließlich doch zu einer ernsten Aussprache, in der sich das Team recht vernünftig, wie mir schien, mit dem Problem auseinandersetzte und Peter recht freundlich, aber doch deutlich klar machte, weshalb ein solches Verhalten nicht nur das Projekt gefährde, sondern auch zwischenmenschlich im allgemeinen recht enttäuschend sei. Danach besserte sich sein Verhalten vorübergehend ein wenig, doch gelöst wurde das Problem im Endeffekt nur, indem Peter schlicht weniger Aufgaben zugeteilt wurden, die für das Projekt wichtig waren. Gelernt hatte er aus dem Gespräch anscheinend nichts.

Ein halbes Jahr später ungefähr unterhielt ich mich mit zwei anderen Teammitgliedern noch einmal über das Projekt im Allgemeinen sowie über das problematische Verhalten Peters im Speziellen. Einer der beiden besuchte auch in der Zeit nach Projektabschluss noch diverse Kurse, an denen auch Peter teilnahm, und konnte uns somit von ein paar zusätzlichen Eindrücken erzählen. Wir fragten uns, ob Peter langfristig aus seinen Fehlern und unseren Diskussionen irgendetwas gelernt hatte.

Die Antwort, die wir uns gaben, fiel recht ernüchternd aus und wurde von einem der beiden, mit denen ich mich unterhielt, prägnant zusammengefasst, indem er (nennen wir ihn Max) einen Satz zitierte, den Peter in der damaligen Diskussion zu seiner Verteidigung vorgebracht hatte: „Es ist bei mir halt so, dass ich den Kopf in den Sand stecke, wenn es Probleme gibt“.

Das Problematische an diesem einen Satz war nun nicht das Kopf-in-den-Sand-Stecken, sondern das unscheinbare „es ist bei mir halt so“. Max erklärte, es gebe seines Erachtens zwei Typen von Menschen, nämlich zum einen diejenigen, die glauben, Menschen könnten sich nicht ändern, und die anderen. Dieser eine Satz drückte laut Max in wenigen Worten alles über Peter aus, was hinsichtlich dieser zwei Typen von Bedeutung war: Peter gehört(e) zu ersteren.

Peter wird, darin waren wir uns einig, die gleichen Fehler wieder und immer wieder machen, denn er lernt nichts aus diesen Fehlern, will gar nichts daraus lernen, weil er nämlich glaubt, er sei „halt so“ – und nicht anders. Er nahm die Kritik zwar auf, zog daraus aber keine persönlichen Konsequenzen, weil das bedeutet hätte, sich selbst einzugestehen, etwas falsch gemacht zu haben, und weil das zugleich bedeuten würde, Engagement und Gedanken in die eigene Veränderung oder Weiterentwicklung stecken zu müssen, während die andere Lösung, die gewählte Lösung, doch so viel einfacher ist: Ich bin halt so – da kann man nichts machen.

Doch man kann, denn niemand ist „halt so“. „Ich bin halt so“ ist Schwachsinn. Es gibt kein fertiges Sein, keine abgeschlossene Persönlichkeit. „Ich bin halt so“ ist eine Ausrede und gleichzeitig eine selbsterfüllende Prophezeiung. Nur diejenigen, die diesen Glauben teilen, werden genau so bleiben. Wer sich selbst davon überzeugt, er sei „halt so“, wird sich auch immer wieder gleich verhalten, immer wieder die gleichen Fehler machen und diese Fehler als Bestätigung sehen, „halt so“ zu sein, anstatt daraus für die Zukunft irgendetwas zu lernen.

Eine andere Person verband diese mit beharrlicher Konsequenz vertretene Überzeugung, „halt so“ zu sein, mit noch einem anderen Dogma. Als ich sie einmal fragte, welche Entscheidungen sie bereue oder in welchen Fällen sie sich, im Nachhinein betrachtet, einmal falsch entschieden hätte oder sich heute anders entscheiden würde, antwortete sie mir, es gebe in ihrem Leben bisher keine solchen Entscheidungen. Zunächst glaubte ich noch, das sei nur ein Ausweichen, um der Beantwortung der Frage zu entgehen, doch was sie sagte, meinte sie tatsächlich vollkommen ernst, wie sich in der folgenden Zeit noch herausstellte.

Im Endeffekt bedeutet das, was sie damit ausdrückte, dass sie von sich selbst und für sich selbst glaubt, noch nie wirklich einen Fehler gemacht zu haben – nichts anderes sind Entscheidungen, die man bereut. Kann es einen solchen Menschen überhaupt geben? Ist das schlicht positives Denken in einer absurden, seiner auf die Spitze getriebenen Form? Oder Arroganz? Keine Entscheidungen zu bereuen heißt eben auch: Niemals um Verzeihung zu bitten, wenn man anderen auf die Füße tritt.

Um ihre Antwort zu erklären, argumentierte sie, dass sie nur dann wieder genau der selbe Mensch werden würde, der sie jetzt ist, wenn sie alle Entscheidungen, also auch Fehler, die uns prägten, erneut genauso treffen würde, wie sie sie tatsächlich getroffen hat. Würde sie sich an irgendeiner Stelle anders entscheiden, würde sie damit zugleich eine andere Persönlichkeit werden – dies würde sie gerne vermeiden, weil es das Schicksal eben so gewollt hätte und sie damit recht zufrieden sei.

Diese Argumentation ist so richtig wie trivial. Natürlich hatte sie Recht: Sie ist heute, wer sie ist, eben weil sie sich so entschieden hat, wie sie sich entschieden hat, und sie würde nur wieder genau der selbe Mensch werden, der sie jetzt ist, wenn sie alle Entscheidungen erneut genauso träfe. Bloß: Was sagt einem das? Alles und nichts.

Wenn sich ein Mensch tatsächlich die Frage stellen kann: „Würde ich alles, was ich in meinem Leben je getan habe, in der gleichen Situation wieder genauso machen?“, um dies dann mit Ja zu beantworten, halte ich das, egal bei wem, für Selbstbetrug. Etwas beim zweiten Mal anders zu machen, eine Entscheidung im Nachhinein zu revidieren, zeugt meines Erachtens keineswegs davon, eine andere Person sein zu wollen oder mit der eigenen Persönlichkeit unzufrieden zu sein. Es heißt nur, dass man aus Fehlern lernen kann, dass man nicht perfekt ist und sich auch nicht dafür hält. Völlig zu Recht sagte sie: Fehler prägen uns. Doch gerade aus diesem Grund halte ich es für vermessen, im Nachhinein – dieser rückblickenden Argumentation folgend – mit Kenntnis des Fehlers denselben noch einmal begehen zu wollen.

Zufriedensein und Entscheidungen zu bereuen schließt sich nicht aus. Im Gegenteil: Man kann mit sich selbst zufrieden sein und trotzdem Entscheidungen bereuen; man kann sogar mit sich selbst zufrieden sein, gerade weil man Entscheidungen bereut.

Ein zugespitztes Beispiel soll das Ganze verdeutlichen: Wenn ich weiß, dass eine meiner Entscheidungen einen Menschen das Leben kostete, welchen Grund sollte ich haben, diese Entscheidung noch einmal genauso zu treffen? Vielleicht hat sie für mich persönlich im Endeffekt dazu geführt, dass ich in Zukunft vorsichtiger bin, war für mich also alles in allem positiv, aber ermutigt oder entschuldigt das, sie noch einmal genau so zu treffen, um wieder genau der zu werden, der ich jetzt bin? Über metaphorische Leichen zu gehen und Fehler zu wiederholen, bloß um erneut derjenige zu werden, der man jetzt ist, zeugt vielleicht weniger von Selbstzufriedenheit als von Selbstgefälligkeit und einem egozentrischen Weltbild. Da scheint es wieder durch: Ich bin halt so – und nicht anders.

Ein wenig ähnelt diese Argumentation im Grunde Voltaires naiv-optimistischem Candide, der glaubt, alles sei gut und geschehe zu Recht, auch Krieg, Leid und Armut, da er sich in der besten aller möglichen Welten wähnt und folglich den jetzigen Zustand als den besten aller möglichen begreift. Somit ist alles gut, was geschieht und bis hierhin geschah. Pangloss, der Lehrer Candides, der ihm die Lehre der besten aller möglichen Welten ursprünglich nahegebracht hatte, sieht in allem Schlechten, das geschieht, etwas Gutes und rechtfertigt dessen Existenz, sei es Syphilis oder Krieg, aus einem relativierenden, anerkennenden Blickwinkel, anstatt es als Schlechtes wahrzunehmen und daran zu arbeiten, es zu ändern. Selbst als Candide am Ende, lange aus seinem Paradies vertrieben, soviel Leid erfahren und durchlebt hat, versucht Pangloss noch immer, alles Schlechte schönzureden, was selbst Candide mittlerweile nicht mehr ernst nehmen kann:

„Jegliche Begebenheit im menschlichen Leben gehört in die Kette der Dinge. Denn wären Sie nicht Baroneß Kunegundens halber mit derben Fußtritten aus dem schönsten aller Schlösser gejagt, von der Inquisition nicht eingezogen worden, hätten Sie nicht Amerika zu Fuße durchwandert, dem Herrn Baron nicht einen tüchtigen Stoß mit dem Degen versetzt, nicht all’ ihre Hammel aus dem guten Lande Eldorado eingebüßt, so würden Sie jetzt nicht hier eingemachten Zedrat und Pistazien essen.“

Wird diese Argumentation konsequent weitergeführt und dramatisiert, lässt sich damit von der Entscheidung zwischen Döner oder Pizza über Mobbing bis hin zu Mord alles schönreden, was zum heutigen Zustand führte. Ihr liegt der Glaube zugrunde, der Zustand, wie er ist, rechtfertige alles, was zu ihm führte, adle jedes Geschehen, gebe allem einen positiven Sinn, mache alles Schlechte gut. Nicht bloß ist das naiv und egozentrisch, sondern auch gefährlich, ob hinsichtlich des Zustands der Welt oder dem der eigenen Person.

Rückblickend betrachtet glaube ich, dass dies lediglich eine Rationalisierungsstrategie ist, sich die langjährig kultivierte „ich bin halt so“-Überzeugung mit einem Zirkelschluss makellos schönzureden: Wenn ich „halt so bin“, wie ich bin, und alles, was hierhin führte, gut ist, dann bin ich so, wie ich „halt bin“, perfekt. Kein Grund, das eigene Verhalten zu reflektieren, in Frage zu stellen oder gar zu ändern. Wenn ich durch meine Unzuverlässigkeit beispielsweise vergesse, anderen Leuten einen Termin abzusagen, für den sie extra 500km fahren müssen, dann ist das gar kein Fehler, denn so kommen die anderen wenigstens mal raus. So einfach kann das Leben sein. Was als flapsiger Spruch noch lustig ist, verkommt zu Selbstbetrug und Respektlosigkeit anderen gegenüber, sobald es jemand wirklich ernst meint.

In Wahrheit allerdings ist niemand von uns perfekt. Fehler, die ein Mensch macht und sich selbst eingesteht, sind normal und verzeihbar. Doch wenn ein Mensch, wie diese Beispielen zeigen, nicht bloß Fehler macht, sondern noch dazu seine Verhaltensweisen, die zu gerade diesen Fehlern führten, als „halt so“ und damit als unveränderlich begreift oder die Fehler als solche nicht einmal in Erwägung zieht, sondern stattdessen sich selbst und seiner Umwelt einredet, keine fehlerhaften Entscheidungen getroffen zu haben, wird solch ein Mensch auf lange Zeit unausstehlich und seine Fehler unverzeihlich. Sie geschehen dann auch tatsächlich immer wieder. 

Menschen ändern sich – wenn sie es wollen.

Wenn ich eine der vielen Polit- oder Gesellschafts-Talkshows sehe, womit nicht deren wenig ernstzunehmende nachmittägliche Derivate auf den privaten Sendern gemeint sind, rege ich mich meist recht schnell auf. Es ist relativ egal, ob die Diskussion sich dabei um politische, um gesellschaftliche oder um persönliche Themen dreht und ob ich mich mit einer Seite der Diskussion identifizieren kann oder nicht. Was mich aufregt, ist der jeweilige Drang, alle anderen mit missionarischem Eifer von der eigenen Position und der eigenen Art zu leben überzeugen zu wollen. Vegetarier wollen Fleischesser zu Vegetariern konvertieren, Faulenzer wollen Karrieremenschen zum lockeren Leben erziehen, Operngänger diffamieren DSDS-Gucker ob ihrer Kulturlosigkeit und jeweils entsprechend umgekehrt. Warum eigentlich?

Ich streite gerne mit anderen Leuten über Themen, bei denen wir uns nicht einig sind. Es macht Spaß und erweitert den eigenen Horizont. Von außen ist das, was ich tue, für einen objektiven Beobachter wahrscheinlich nur schwer von Überzeugungsarbeit zu unterscheiden (und vielleicht tue ich deswegen den beschriebenen Personen teilweise unrecht), doch meine eigene Motivation dazu ist keineswegs das missionarische Bestreben, den anderen von meiner individuellen Position zu überzeugen und das Ganze ideologisch womöglich noch mit der vermeintlichen Erziehung zu einer besseren Welt aufzuladen, wie es so oft praktiziert wird, sondern eine weitaus egoistischere:

Ich möchte für mich selbst – und zwar nur für mich selbst – die beste Art zu leben finden, die ich gerne guten Gewissens lebe und die mir sowohl Spaß als auch ein befriedigendes Leben ermöglicht, so schwammig und banal das nun auch klingen mag. Außerdem hilft es mir, meine Mitmenschen und ihre eigene Art zu leben besser zu verstehen.

Es gibt keinen einen richtigen Weg zu leben, der für alle Menschen allgemeingültig ist. Alle anderen von meiner Art zu leben, meinen Standpunkten und meinen Meinungen überzeugen zu wollen, spricht für mich recht deutlich von einer intoleranten Grundhaltung und überschätzender Verherrlichung der eigenen Positionen.

Deswegen liebe ich es, mit Menschen zu diskutieren, die eine völlig andere Meinung vertreten als ich selbst. Ich diskutiere gerne mit Parteimitgliedern jeglicher Art, mit Veganern, mit fundamentalistischen Gentechnikgegnern oder -befürwortern, mit Gläubigen und mit Anhängern eines völlig freien Marktes, mit Befürwortern von Studiengebühren und mit unbeugsamen Globalisierungsgegnern genauso wie mit den Advokaten globaler Ausbeutung, weil ich mit jeder dieser Diskussionen herausfinden möchte, welche Argumente der andere vorbringen kann, über welche Erfahrungen er verfügt, wie er zu seiner Meinung gekommen ist und wie konsequent er sie vertreten kann. Letztlich also, um herauszufinden, wie überzeugend er ist. Nicht primär, weil ich ihn überzeugen möchte, sondern weil er vielleicht Argumente hervorbringt, die ich nachvollziehen kann, die mir sinnvoll und stichhaltig erscheinen oder mich wenigstens ins Grübeln bringen, die mir letztendlich also helfen, meine eigenen Positionen, Meinungen und Überzeugungen fundiert zu untermauern oder zu hinterfragen und damit schließlich dazu beitragen, meinen eigenen, für mich – und nur für mich – besten Weg zu finden.

Wenn ich alleine etwas daraus mitnehme, ist das bereits gut, doch wenn idealerweise alle beteiligten Diskutanten im Zuge als auch in Folge der Diskussion ihre Positionen kritisch reflektieren, ist das ein voller Erfolg, denn nicht mehr und nicht weniger ist dabei mein vornehmliches Ziel. Wenn einer oder mehrere der Beteiligten, das beinhaltet selbstverständlich auch mich selbst, infolgedessen ihre Meinung ändern, ist das ein willkommener Effekt, denn wir alle lernen ständig dazu, aber nicht wesentlicher Antrieb und sollte das auch nicht sein.

Der Unterschied klingt entweder trivial oder höchst komplex, denn es geht darum, potentiell überzeugend zu sein, also die eigene Meinung konsistent, fundiert, konsequent und überzeugt zu vertreten, ohne überzeugen, ohne missionieren zu wollen, dabei aber immer offen für eigene Überzeugung durch neue Argumente zu sein.

Überzeugungsarbeit ist immer Machtdurchsetzung. Wer behauptet, DSDS-Gucker verfügten über kein Verständnis für Kultur und Faulenzer würden ihr Leben verschwenden, übt damit Macht aus, indem er die Deutungshoheit anstrebt und durchzusetzen versucht, was unter legitimer Kultur und Lebensführung zu verstehen sei. Alle, die nicht diesen Vorstellungen entsprechen, werden dadurch im- oder gar explizit für fehlgeleitet und ihre Lebensweise für falsch erklärt, wohingegen die eigene stets die richtige – die angeblich eine richtige – ist. Wie so vieles dreht sich hierbei alles um Macht und weniger um Fragen persönlicher Vorlieben, als die es kaschiert wird, denn ginge es lediglich um persönliche Vorlieben, bestünde nicht das Bestreben, andere von eben diesen überzeugen zu wollen.

Das einzige – und hier wird es paradox -, wovon ich andere überzeugen möchte, ist auf der einen Seite, dass es ein unvernünftiges, weil tendenziell totalitäres Unterfangen ist, andere verbissen von der eigenen Art zu leben überzeugen zu wollen, sowie auf der anderen Seite, offen für Überzeugung durch Argumente zu bleiben, denn sonst verrennt man sich in Fundamentalismus.

Viel liest man über die negativen Auswirkungen, die es haben kann, füttert man soziale Netzwerke, die eigene Homepage oder Blogs mit persönlichen Informationen. Wenngleich vieles davon auch zutreffend ist und die optimierte Selbstinszenierung oder Öffentlichmachung intimster Details bisweilen ins Pathologische abdriftet, so ist ein immer wieder erwähnter Punkt doch unter Umständen auch nützlich: Schnüffelei durch den aktuellen oder einen potentiellen Arbeitgeber.

Das Profil in sozialen Netzwerken, die eigene Homepage und Aussagen in Blogs werden mit der Schere im Kopf verfasst oder in vorauseilendem Gehorsam zensiert, um der Angst zu begegnen, der tatsächliche oder potentielle Arbeitgeber könnte Details über Privatleben, politische oder sexuelle Orientierung, Vorlieben und Abneigungen oder persönliche Meinungen erfahren und als – natürlich inoffizielle – Grundlage für negative Konsequenzen heranziehen, sei es das Ablehnen einer Bewerbung und Nichteinstellung, das Übergehen bei einer Beförderung oder in Extremfällen die Kündigung. Warum?

Genauso, wie diese dreiste Schnüffelei durch wenig Vertrauen verdienende Unternehmen, denen das Privatleben ihrer Mitarbeiter, solange es die Arbeit selbst nicht beeinträchtigt, nicht Grund für negative Sanktionen sein darf, soll und muss, in die eine Richtung funktioniert, wirkt sie auch in die andere, nämlich als vorzüglicher Arbeitgeberfilter. Möchte man für eine Firma arbeiten, die herumschnüffelt und einen Menschen nicht einstellt, weil er persönliche, vielleicht sogar peinliche Partyfotos in ein soziales Netzwerk geladen hat? Möchte man für eine Firma arbeiten, die eine politische Meinung jenseits der eigens propagierten als Knock-Out-Kriterium betrachtet? Wenn man nicht eingestellt wird, weil man sich in dieser oder jener Organisation engagiert, ist das dann, abseits vom Ökonomischen, wirklich ein Grund zur Trauer oder nicht eher zur Freude darüber, dass man nicht Teil eines Unternehmen mit solchen Praktiken geworden ist? Was für ein Zustand ist das, wenn man vorsichtig sein muss, welche politischen oder persönlichen Aussagen man trifft?

„Selbst schuld“, hört man süffisant von denjenigen, die sich entsprechend solcher an sie gestellten Erwartungen zensieren und die eigene Persönlichkeit demütig verstecken. „Selbst schuld“, kann man ihnen eigentlich nur antworten.

Seit Jahren schon möchte ich ein Buch über etwas schreiben, das mir sehr am Herzen liegt. Oder wenigstens ein PDF mit vielen Seiten. Der Ursprung dieses Wunsches liegt in mittlerweile schon nicht mehr fassbarer Vergangenheit, doch einen ernsthaften Anfang machte dieser Gedanke dann erst zum Ende meiner Schulzeiten, aber bis heute habe ich mit diesem Vorhaben keine großen Fortschritte erzielt. Ideen kommen und gehen und das Konzept wächst unaufhörlich, trotzdem schaffen es nur die seltensten dieser Ideen als ausformulierte Sätze, Abschnitte oder gar Seiten aufs elektronische Papier. Warum?

Viele Dinge spielen eine Rolle. Die üblichen Verdächtigen natürlich: mangelnde Zeit, Faulheit, nagender Perfektionismus und die Angst vor dem ersten Entwurf, der nie überzeugt. Einige davon – wahrscheinlich die meisten – mögen Ausreden sein, das ist sicher, doch sind all das generell Gründe, mit denen umgegangen, denen begegnet werden kann. Es sind Steine auf dem Weg, die wegzuräumen nicht das Problem ist, wenn man weiß, dass man den Weg unbedingt gehen möchte.

Der Hauptgrund allerdings, der mich daran hindert, irgendwie sinnvoll mit meinem Text voranzukommen, liegt in der Zukunft. Es sind all die Dinge, die in meinem Kopf als großes Muss auf mich zukommen: Ich muss Hausarbeiten machen, ich muss Referate vorbereiten, ich muss für Prüfungen lernen (obwohl ich noch nie für Prüfungen gelernt habe). Es ist dabei nicht der Zeitaufwand an sich, der für diese Dinge jeweils aufgebracht werden muss, denn er lässt mir genug Spielraum für Freizeit, sondern es sind die Dinge als solche, in denen ich keinen persönlichen Sinn sehe, die das Problem darstellen.

Freizeit bedeutet nicht gleichzeitig freie Zeit. Wenn in den Semesterferien alle Hausarbeiten hinter mir liegen, keine Klausuren anstehen und auch das kommende Semester im Idealfall noch einige Wochen entfernt liegt, ist das nur Freizeit, aber keine freie Zeit. Im Hinterkopf ist mir stets das störende Wissen allgegenwärtig, dass ich bald, wenn diese kurze Phase der Freizeit vergangen sein wird, wieder neue Referate werde vorbereiten müssen. Wenn die Referate vorbereitet und gehalten wurden, folgen die dazugehörigen Hausarbeiten, nach den Hausarbeiten folgen neue Referate. Wenn irgendwann Referate und Hausarbeiten einmal vorbei sind, stehen Diplomarbeit und Diplomprüfung bereits vor der Tür. Danach Bewerbungen, Vorstellungsgespräche, Einarbeitung, Arbeitsalltag. Jede dieser neuen Stufen ist von lächerlichen Bestätigungen irgendwelcher Instanzen bezeichnet: eine bestandene Klausur oder Prüfung, eine Note, eine gutgeheißene Arbeit, der Abschluss eines Projekts, die Versetzung in ein anderes Be(s)tätigungsfeld.

All dieses Müssen hängt in meinem Kopf ständig unbewusst über allem anderen, wie ein Rauschen im Radio, das einem die Musik verdirbt. Wenn ich Freizeit habe, vergeude ich sie mit irgendwelchen Serien oder Spielen, räume auf oder um, widme mich ganz generell dem so genannten Amüsement und Entertainment, um mich von einem Muss zum nächsten zu hangeln und die Zeit dazwischen totzuschlagen, in der Hoffnung auf ein Ende dieses Muss-Kreislaufs. Doch immer wieder erscheint irgendwo eine neue Stufe. Paralyse. Nie bekomme ich es hin, mich endlich mit dem zu beschäftigen, womit ich mich schon so lange beschäftigen möchte und was mir zudem so sehr am Herzen liegt. Hinzu kommt die Eigenschaft all dieser Nebenschauplätze – Hausarbeiten, Referate, Bewerbungen und so weiter -, eine derart große Menge an Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen, dass ein effektives und ungestörtes Konzentrieren auf das, was mir eigentlich wirklich wichtig ist, gar nicht möglich ist.

Meine letzte freie Zeit, die nicht nur als Freizeit bezeichnet werden kann, genoss ich direkt nach dem Abitur, als noch völlig offen war, ob ich Zivildienst würde leisten müssen oder nicht und wie es danach weitergehen würde. Diese Zeit, in der nicht klar war, welches Muss als nächstes und wann auftreten würde, in der es keinen fest geregelten Ablauf für die Zukunft gab, keine strukturierten Pläne, keine starren Schienen, auf denen alles zielgerichtet dahinrollt, war gleichzeitig die produktivste.

Was wir brauchen, ist freie Zeit, die nicht bloß Freizeit ist.

Sie haben sich immer über die biederen Schlipsträger und Hosenanzugträgerinnen lustig gemacht, die bei Banken, Versicherungen und Unternehmensberatungen arbeiten oder bei anderen, genauso miefigen wie langweiligen Firmen untergekommen sind und dort ihr trostloses Dasein verrichten. Das war ihre Sichtweise. So wollten sie nie enden, diese Perspektive haben sie stets verabscheut. Nun arbeiten sie selbst bei solcherart Banken, Versicherungen, Unternehmensberatungen, Marktforschungsinstituten oder in ähnlichen Feldern, die den gleichen kalten Charme versprühen, oder streben es an, das zu tun. Warum?

Verändert haben sie sich nicht. Das ist das Traurigste daran. Hätten sie sich geändert, hätten sie ihre früheren Überzeugungen über Bord geworfen, ja plakativ ausgedrückt sie sozusagen verraten, so wäre das – aus meiner persönlichen moralischen Perspektive – zwar äußerst schade, jedoch konsequent und hätte es verdient, respektiert zu werden. Genau das ist jedoch nicht der Fall. Unverändert gilt ihr Spott und Hohn den Langweilern und Spießern, wie sie sagen, die in all den seriösen Berufsfeldern von Banken bis zu Unternehmensberatungen ihr Geld verdienen, und auch weiterhin gehen sie mit der Verachtung der Werte hausieren, die diejenigen Institutionen vertreten, für die sie nun selbst tätig sind. Dass sie selbst dazugehören, wissen sie, und doch ist ihr Verhalten kein Ausdruck von kritischer Selbstironie. Sie sind nicht geworden, wer sie nie werden wollten, sondern sie spielen eine Rolle, sie inszenieren sich, verkaufen sich, ziehen Masken auf.

Auf der einen Seite haben sie ihre Überzeugungen behalten, doch auf der anderen Seite agieren sie genau entgegengesetzt. Ihre Überzeugungen sind Sonntagsüberzeugungen geworden, die unter der Woche in den Schrank gestellt werden, und sie selbst haben durch den Druck der ökonomisch-realen Situation eine komplizierte Ausprägung multipler Persönlichkeiten und moralischer Flexibilität entwickelt, die es ihnen erlaubt, mehrere sich widersprechende Pakete aus Handlungsmustern, Idealen und Überzeugungen in der eigenen Person zu vereinen.

Sie übernehmen eine Rolle. Sie haben ein Drehbuch zugeschickt bekommen, das ihnen nicht gefällt, dessen ihnen zugesprochene Rolle sie innerlich eigentlich ablehnen – und doch spielen sie sie. An freien Tagen lästern sie mit ihren Freunden und Bekannten über das, was sie an Arbeitstagen selbst verkörpern. Wenn jemand auf einer Party seine Ansicht zum Ausdruck bringt, er fände Arbeit zum Kotzen, dann finden sie das super, so richtig unterstützenswert, sie klopfen dem Mutigen solidarisch auf die Schulter und geben ihm Recht. Doch wenn am darauffolgenden Montag ein Kollege mit der gleichen Einstellung am Arbeitsplatz erscheint und dafür Ärger kassiert, raunen sie bloß noch „der Idiot ist selbst schuld!“ und wenden sich kopfschüttelnd ihrer Arbeit zu.

Sie sind keine Heuchler – in unterschiedlichen Situationen glauben sie tatsächlich verschiedene, teils diametral gegensätzliche Dinge und vertreten einander widersprechende Ansichten, ohne diese Widersprüchlichkeit bewusst zu erfassen. Kurz: Ihre neue Rolle verbietet es, eine authentische Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, ihre Persönlichkeit, sondern spaltet die eigene Identität in mehrere verschiedene Schein-Identitäten auf, die stets dort wirksam sind und die eigene Person möglichst ertragreich verkaufen, wo sie als angemessen erscheinen. Befeuert wird derartiges Verhalten durch widersprüchliche gesellschaftliche Anforderungen, wie etwa Planungskompetenz und Risikobereitschaft, Flexibilität und Verlässlichkeit, Konsumfreudigkeit und Abstinenz, Freiheit und Konformität, Teamfähigkeit und Egoismus, Familiensinn und ständige Mobilität.

Dieses Verhalten drückt dabei nicht bloß die harmlose Anpassung an äußere Umstände aus, wie sie in jeder Situation vorhanden ist, sondern verkörpert das allgegenwärtige Sich-Verkaufen und die damit verbundene und stets mitschwingende Selbstreg(ul)ierung, die dafür sorgt, sich aus Angst vor negativen Konsequenzen, beispielsweise von Seite des Arbeitsgebers, in jeder Situation den Anforderungen entsprechend zu vermarkten. Wer sich nicht richtig verkauft, also sich selbst zur Ware erklärt und die eigene Verwertbarkeit autonom maximiert und entsprechend anpreist, sei es nun am Arbeitsplatz, in der Disco oder in der Universität, gilt als hoffnungsloser Verlierer.

Jeder steht dabei für sich alleine, denn so muss es sein. In der Welt der Selbstdarstellung und des Sich-selbst-Verkaufens ist jeder andere der potentielle Feind, der sich schließlich ebenfalls möglichst erfolgreich verkaufen möchte. Mitmenschen werden reduziert auf Konkurrenten. Diese paranoide Atmosphäre des ständigen Misstrauens und der Angst produziert ein Verhalten, das sich schließlich auch auf die eigene Persönlichkeit und das Verhältnis zu den Mitmenschen auswirkt und dort selbst das Verhältnis zu denjenigen mit zunehmender Distanz belegt, die einem eigentlich am nächsten stehen. Die egoistischen und kalkulierend-rationalen Durchsetzungsstrategien, die im Berufsleben zumeist nahegelegt oder gar aufgezwungen werden, transportieren sich bis ins Private, wo sie sich in der austauschbaren Unverbindlichkeit kühl berechnender Verhältnisse zum Mitmenschen niederschlagen.

Freundschaften, so wie alle Beziehungen zu anderen Menschen, werden in dieser Welt der totalen Verwertung und Selbstverwertung ebenso als Waren begriffen, die nützlich und dienlich sein sollen, wie alles andere auch. Sie sind unverbindlich und oberflächlich. Man verkauft sich jedem neuen sozialen Kontakt auf eine andere Weise, um ihm das zu präsentieren, was er sehen möchte, und maximiert dadurch den Erfolg des Selbstverkaufens. Masken werden aufgezogen, Rollen gespielt, Auftritte geübt. Für jeden Kontakt entsteht ein neues soziales Ich, das eine möglichst überzeugende Fiktion darstellt, und die wirkliche Persönlichkeit, die Authentizität der eigenen Person, verkriecht sich aus Angst im stillen Kämmerlein, um die aufgebauten Illusionen nicht zu zerstören. Einen anderen Menschen an sich heranzulassen wird als potentielle Schwäche diskreditiert, die nur dann in Kauf genommen werden kann, wenn es der eigenen Lage dienlich ist, wenn es beispielsweise zu Prestigegewinn oder finanziellem Vorteil führt, zu Problemlösungen beiträgt oder ein den allgegenwärtigen Druck ausgleichendes Amüsement verspricht.

Strategien aus der so genannten Arbeitswelt, die dort unter Vorspielung eben solcher Rollen und dem Erzeugen von Fiktionen zu Erfolg führen sollen, werden nach einiger Zeit kritiklos in intimste Bereiche des eigenen Lebens übernommen und münden darin, den Betrug und die Illusion als angemessene Grundlagen zwischenmenschlicher Beziehungen und sogar Partnerschaften anzusehen, ohne zu begreifen, dass die Übertragung dieser Verhaltensweisen in eben diese Sphären, die stets zwingend authentischer Persönlichkeiten und Verhaltensweisen bedürfen, zwangsläufig zu Schwierigkeiten führen wird. So ist es kein Wunder, wenn entsprechende Freundschaften oder Partnerschaften zerbrechen.

All diesen Verlusten wird häufig mit dem Versuch der Uminterpretation begegnet: Die Unverbindlichkeit, das berechnende Verhalten und das illusorische Rollenspiel seien Ausdruck und Notwendigkeit der Freiheit des eigens selbstbestimmten Lebensentwurfs. Nur durch das Rollenspiel könne man die eigene Persönlichkeit vor der feindlichen Außenwelt schützen, lautet ein anderer Versuch der positiven Umdeutung, der nicht begreift, dass das Unterdrücken und daraus de facto resultierende Abschaffen dieser authentischen Persönlichkeit nicht zu deren Erhaltung beiträgt. Dieser Selbstbetrug erlaubt es, all die negativen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, als unvermeidlich abzustempeln, als hinderlich bei der eigenen Vermarktung. Es entsteht ein Typus Mensch, der seine fiktionalen Schein-Persönlichkeiten, die damit einhergehende Selbstentfremdung und das von Kalkül bestimmte Konkurrenz- und Nutzdenken gegenüber seinen Mitmenschen als etwas Positives begreift, das ihn zum Erfolg führt.

Entsteht dabei eine Gesellschaft, in der wir uns wohlfühlen?

Für einen Arbeitsplatz, den sie hassen, für eine Ausbildung, die sie gar nicht wollen, oder sogar nur für ein Praktikum, das wohl die niederste Form der Ausbeutung darstellt, tun sie alles.

Sie leugnen ihre eigene Meinung. Sie leugnen ihre Träume. Sie leugnen ihre Ideale. Sie leugnen ihre Vergangenheit. Sie leugnen, was sie sind. Sie zensieren ihre Internet-Auftritte. Sie wollen nicht zu dem stehen, was sie sagen und denken. Sie kontrollieren, was man bei Google über sie herausfinden kann, und wenn ihnen etwas nicht gefällt, dann wollen sie das ändern. Sie nehmen Bilder aus dem Netz, die sie vielleicht in einem schlechten Licht darstellen könnten. Sie wollen glänzen.

Sie haben ständig die Schere im Kopf. Sie wollen nicht auffallen. Zumindest nicht negativ. Doch weil es einfacher ist, überhaupt nicht aufzufallen, gehen sie diesen Weg. Sie buckeln nach oben und sie treten nach unten. Sie kuschen und gehorchen.

Sie brauchen Menschen, die ihnen sagen, was sie tun sollen. Sie wollen nicht alleine laufen, nicht ohne Führung, nicht ohne Geländer. Trotzdem sind sie einsam, auch wenn sie nicht allein sein mögen. Sie wissen nicht, wer sie sind, aber das interessiert sie auch gar nicht. Denn sie sind, was andere von ihnen verlangen. Macht das glücklich?

Wie Wiglaf Droste so treffend schrieb:

Sie wollen nicht frei sein, also sollen alle anderen auch nicht dürfen. (…) Wenn man ihnen ihre Leitplanken schon nicht wegnehmen kann, darf man immerhin drüberweg hüpfen. Innerhalb der Leitplankenkultur gibt es nichts zu finden, das sich zu suchen lohnte.
(Wiglaf Droste bei taz.de)

Gut ist es, an andern sich zu halten. Denn keiner trägt das Leben allein.
(Friedrich Hölderlin)

Kommunikation mit den Mitmenschen ist keine Einbahnstraße. Das gilt vor allem, aber nicht exklusiv, für die Kommunikation mit Freunden. Kommunikation mit den Mitmenschen ist auch kein Selbstbedienungsbasar. Sie sagen dir ihre Meinung – ungefragt. Sie sagen dir, worin du so richtig schlecht bist – ungefragt. Sie sagen dir, dass einige deiner Entscheidungen ziemlich blöd waren – ungefragt.

Das alles findet man vielleicht in jenen Momenten, in denen man es zu hören bekommt, ziemlich nervig und vielleicht sogar scheiße, aber es hilft – und es ist verdammt viel wert. Weil eben niemand perfekt ist. Weil niemand alles auf Anhieb super macht. Weil niemand je auslernt. Weil niemand alleine ist. Weil es gut ist, das eigene Handeln des Öfteren aus anderen Perspektiven und dabei nicht immer nur von den gleichen Personen beurteilt zu sehen, Ratschläge zu erhalten und Kritik zu ernten, da das eigene Selbstbild stets von der Verzerrung geprägt ist, wie man sich sehen möchte. Und weil man lernt, dass man nicht über jede nicht selbst gemachte Erfahrung erhaben ist.

Solche Ratschläge, Meinungen oder Kritiken anderer Menschen in Erwägung zu ziehen oder gar anzunehmen, mag vielleicht anfangs ein wenig das eigene Ego verletzen. Oder man ist außer sich, weil andere Menschen die Dreistigkeit besitzen, sich in das eigene Leben einzumischen. Aber letzten Endes stärkt es die eigene Persönlichkeit, und das ist viel wertvoller als ein angekratztes Ego. Es lohnt sich, dafür eventuelle Mauern einzureißen, die man gegenüber anderen Menschen und seiner Umwelt gebaut hat.

Sie anzunehmen hat nie etwas mit Schwäche oder Unfähigkeit zu tun. Im Gegenteil. Schwach – aber vor allem dumm – ist, wer denkt, alles alleine am besten zu wissen und zu können. Wer das glaubt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er schließlich tatsächlich das Leben ganz alleine tragen muss. Wer sich abschottet, verliert viel Wärme.

Eine jener Charakteristiken, die Freunde ausmachen, ist eben dieses Einmischen. Sie sagen dir von sich aus Dinge, die du vielleicht nicht hören willst, und das ist gut so. Sie sagen dir solche Dinge, ohne darauf angesprochen zu werden, denn auf Aufforderung könnte das jeder. Und sie versuchen dir zu helfen, auch und gerade wenn du sie nicht darum bittest oder wenn du wieder einmal so tust, als bräuchtest du keine Hilfe, denn auf Aufforderung könnte auch das jeder Beliebige. Ein Beliebiger nimmt allerdings nicht Anteil. Freunde schon. Das macht sie unbezahlbar. Auch wenn es hin und wieder nervt.

Das Ende des Jahres. Mit einigen Freunden und Bekannten ging ich auf eine der vielen Silvesterpartys in dieser Nacht und die Stimmung war super. Irgendwann im Laufe des Abends saß ich mit einigen Leuten herum und unterhielt mich mit ihnen. Ein Freund aus früheren Zeiten, den wir zufällig dort getroffen hatten, sah uns dasitzen, kam zu mir herüber und meinte:

„Willst du dich nicht ranmachen? Irgendeine kriegt man auf jeden Fall…“

Das Interessante an seiner Aussage ist unter anderem, dass er Recht hat. Irgendeine(n) findet man bei solchen Gelegenheiten auf jeden Fall, wenn man das möchte. Je später der Abend, desto höher die Wahrscheinlichkeit – das liegt nicht einmal hauptsächlich am Alkohol. Und ohne Frage ist das auch völlig legitim, wenn beide Seiten nur genau das erwarten: Irgendeine(n).

Für mich war dieser Kommentar jedoch einer jener Momente, in denen mir klar wird, dass das, was er ausdrückte, nicht meine Welt ist. Und dass ich nicht irgendeine möchte.

Wenn man dir liniertes Papier gibt, schreibe quer über die Zeilen.
(Juan Ramón Jiménez)

Ich kann diesen dummen Spruch nicht mehr hören: Sei doch mal konstruktiv!

Wieso nämlich sollte ich konstruktiv sein, mich also irgendwie an der Verbesserung des Gegebenen beteiligen? Irgendetwas Konstruktives zu artikulieren, von Innen an den gegebenen Fundamenten tatsächlich mitzuarbeiten, wie fehlerhaft und instabil sie auch sein mögen, erscheint mir wenn nicht kollaborativ, dann doch zumindest scheinheilig. Deswegen mag ich mich im Rahmen des Gegebenen oft nicht konstruktiv äußern, nehme an tagespolitischen Diskussionen meist nicht ernsthaft teil und habe zu vielen Streitfragen, die scheinbar nur zwei Positionsrichtungen zulassen, eine gänzlich andere Ansicht.

Wie kann man die Chancengleichheit in der Institution Schule anheben? Wie kann man die Transparenz bei Entscheidungen auf Staatsebene fördern? Was ergibt ein Vergleich der verschiedenen Parteiensysteme? Wie kann man die Arbeitsbedingungen von Lohnabhängigen verbessern? Wie hoch sollten die Steuern sein? Keine Ahnung, ist mir scheißegal – denn das sind alles interne Fragestellungen eines Gebildes, dessen Teil ich nicht sein und an dessen Verbesserung ich nicht mitwirken möchte.

Vor einiger Zeit las ich bei der Frankfurter Rundschau ein Zitat, das der Sache irgendwie nahe kommt:

Der linke Romancier und Liedermacher Franz Josef Degenhardt, einst gefeiert wie ein Popstar und bis heute der mit Abstand klügste Chronist und Songschreiber der Republik, lehnt es mit einer denkwürdigen Erklärung ab, von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung noch Gebrauch zu machen: »Ich bin dermaßen dissident zu den herrschenden Verhältnissen und der herrschenden Meinung, in allem uneinverstanden mit dem, was ist, dass der Versuch, außer in meinen Liedern und Erzählungen, einverständlich dies und das Wünschbare zu verdeutlichen, mir – nun nicht gerade als kollaborativ erscheint -, aber doch unmöglich ist. Es wäre, zur Zeit jedenfalls, so unverständlich, wie wenn ein Mister Spock aus einer ganz anderen Galaxie und einer viel späteren Zeit einem jetzigen Erdbewohner seine ganz andere Welt erklären würde, in der es kein Geld und keine Ware gibt, eine Gesellschaft existiert, die auf einer Gebrauchswert- und Bedürfnis-Ökonomie beruht als Voraussetzung für Demokratie und das Ende von Ausbeutung. Und dass sowas mittels Wahlzettel nicht erreichbar ist.«

Konstruktiv sein? Ganz im Gegenteil: Destruktive und unterminierende Kritik an dem, was ist, Aufdeckung von Mythen und sich lustig machen über die existierenden Lächerlichkeiten, das sind Perspektiven, die weitaus sympathischer sind als konstruktive Mitarbeit. Ein solches Vorgehen, selbstverständlich stets gewaltfrei, schafft – das ist das Ziel – Ballast ab, ohne den man dann – danach – wirklich konstruktiv vorgehen kann, denn man kann auf Sand kein stabiles Haus bauen, so sehr man sich auch bemüht, so schön man es auch einrichtet.

Als Denkanregung, auch wenn sich vieles, aber leider nicht das Wesentliche verändert hat:

Wir haben Fehler gemacht, wir legen ein volles Geständnis ab: Wir sind nachgiebig gewesen, wir sind anpassungsfähig gewesen, wir sind nicht radikal gewesen. Wir haben uns um die Immatrikulation beworben, wir haben die Immatrikulationsbestimmungen gelesen, wir haben uns den Immatrikulationsbestimmungen unterworfen. Wir haben Formulare ausgefüllt, die auszufüllen eine Zumutung war. Wir haben über unsere Religionszugehörigkeit Auskunft gegeben, obwohl wir keiner Religion zugehörten. Wir haben für unsere Bewerbung Gründe angeführt, die nicht unsere Gründe waren. Wir haben unsere Zulassung erhalten, wir haben unseren besten Anzug angezogen, wir sind zur Immatrikulationsfeier gegangen. Wir haben uns hingesetzt, haben gewartet, wir wären am liebsten gleich wieder gegangen. Wir haben uns zur Feier des Augenblicks von unseren Plätzen erhoben, obwohl uns die Feierlichkeit des Augenblicks nicht bewußt geworden ist. Wir sind, als unsere Professoren in langen Talaren und schwarzen Käppis erblickten, nicht in ein nicht enden wollendes Gelächter ausgebrochen. Wir haben uns wieder hingesetzt, als wir uns wieder hinsetzen durften. Wir haben die Ansprache des Rektors gehört, wir haben die Ansprache des Dekans gehört, wir haben die Ansprache des Studentenvertreters gehört. Wir haben die Worte der Redner in uns aufgenommen, wir haben ab und zu die Augen geschlossen, wir haben uns jedesmal entschließen müssen, bevor wir gehustet haben, wir sind nicht weiter aufgefallen, wir sind liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen gewesen. Wir haben uns des Vorzugs, ein akademischer Bürger zu sein, versichern lassen, bevor wir das als reinen Vorzug empfanden. Wir haben unsere Universität freie Universität genannt, obwohl wir da gar nicht sicher waren. Wir haben eine Gemeinschaft von Lernenden und Lehrenden gebildet, obwohl diese Gemeinschaft erst noch zu bilden war. Wir haben den Immatrikulationstee getrunken, wir haben unser Studium begonnen, wir haben die Pflichtvorlesungen belegt, wir sind nicht in den SDS eingetreten. Wir haben uns ein Semester lang mit der Frage beschäftigt, warum die Goten das t hauchten und wir haben über einen Franzosen des neunzehnten Jahrhunderts gearbeitet, der seinerseits über einen Römer des zweiten Jahrhunderts gearbeitet hatte. Wir haben mit dieser Arbeit keinen Erfolg gehabt, denn wir haben die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Franzosen des neunzehnten Jahrhunderts, die über einen Römer des zweiten Jahrhunderts gearbeitet haben, nicht gebührend berücksichtigt. Wir sind deprimiert gewesen, wir haben uns zu Recht kritisiert gefühlt, wir haben es das nächste Mal besser gemacht. Wir haben Seminararbeiten gemacht, die zu machen reine Zeitverschwendung war, wir haben Seminarsitzungen protokolliert, die nicht zu protokollieren, sondern nur zu kritisieren waren. Wir haben Tatsachen auswendig gelernt, aus denen nicht das mindeste zu lernen war. Wir haben Prüfungen vorbereitet, die nur der Prüfung unseres Gehorsams dienten. Wir sind nervös geworden, wir sind unlustig geworden, wir sind immer schwieriger geworden, wir litten an mangelnder Konzentration, wir konnten nicht einschlafen, wir konnten nicht beischlafen, wir haben uns einmal ausgesprochen. Wir haben uns sagen lassen, wir müßten erst mal mit uns selber fertig werden. Wir sind mit uns selber fertig geworden.

Wir sind sachlich gewesen, wir sind gehorsam gewesen, wir sind wirklich unerträglich gewesen. Diejenigen, die mit Magnifizenz anzureden waren, haben wir mit Magnifizenz angeredet. Diejenigen, die mit Herr Professor anzureden waren, haben wir mit Herr Professor angeredet. Diejenigen, die mit Herr Doktor anzureden waren, haben wir mit Herr Doktor angeredet. Diejenigen, die mit Herr Professor Doktor Doktor anzureden waren, haben wir mit Herr Professor Doktor Doktor angeredet. Wir wollen es nie wieder tun. Wir haben uns durch schlechte Noten kleinkriegen lassen, wir haben uns durch gute Noten wieder aufmöbeln lassen, wir haben es mit uns machen lassen. Wenn wir bei unserem Professor in der Vorlesung waren, dann haben wir ihm nicht auf die Finger gesehen, wenn wir uns von ihm prüfen ließen, haben wir nicht ins Gesicht gesehen, wenn wir auf dem Klo neben ihm standen, dann haben wir nicht auf seinen Schwanz gesehen. Wir wollen es das nächste Mal tun. Wir haben unser Studium fortgesetzt, wir haben die erforderliche Semesterzahl belegt, wir haben die in uns gesetzten Erwartungen nicht enttäuscht. Wir haben die Gesetze des Strafrechts auswendig gelernt, obwohl wir doch nicht an den Sinn der Bestrafung glauben. Wir haben die Gesetze der zweiten Lautverschiebung gelernt, während andere die Notstandsgesetze verabschiedeten. Wir haben uns zur Gotischprüfung gratulieren lassen, während unser Bundespräsident der südafrikanischen Regierung zu ihrer Rassenpolitik gratulierte. Wir haben an die Freiheit der Wissenschaft geglaubt, wie andere an die Freiheit Südvietnams glauben.

Wir haben es dahin kommen lassen, daß sie uns anläßlich eines Sit-Ins, das sich ausdrücklich gegen die unerträgliche Ruhe und Ordnung an dieser Universität richtete, mit einem Hinweis auf Ruhe und Ordnung zu Ruhe und Ordnung zu bringen versuchten. Wir haben es dahin kommen lassen, daß einer unserer seltenen Spezialisten auf dem Gebiet des Marxismus unsere Aktionen mit denen des Faschismus verwechselt hat, was doch wirklich eine wissenschaftliche Fehlleistung ist. Wir haben uns da offenbar nicht klar ausgedrückt, wir wollen uns jetzt klar ausdrücken. Es geht tatsächlich um die Abschaffung von Ruhe und Ordnung, es geht um undemokratisches Verhalten, es geht darum, endlich nicht mehr sachlich zu sein. Wir haben in aller Sachlichkeit über den Krieg in Vietnam informiert, obwohl wir erlebt haben, daß wir die unvorstellbarsten Einzelheiten über die amerikanische Politik in Vietnam zitieren können, ohne daß die Phantasie unserer Nachbarn in Gang gekommen wäre, aber daß wir nur einen Rasen betreten zu brauchen, dessen Betreten verboten ist, um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen.

Wir haben vollkommen demokratisch gegen die Notstandsgesetze demonstriert, obwohl wir gesehen haben, daß wir sämtliche Ränge des Zivildienstes aufzählen können, ohne irgendeine Erinnerung wachzurufen, aber daß wir nur die polizeilich vorgeschriebene Marschrichtung zu ändern brauchen, um den Oberbürgermeister und die Bevölkerung aus den Betten zu holen. Wir haben ruhig und ordentlich eine Hochschulreform gefordert, obwohl wir herausgefunden haben, daß wir gegen die Universitätsverfassung reden können, soviel und solange wir wollen, ohne daß sich ein Aktendeckel hebt, aber daß wir nur gegen die baupolizeilichen Bestimmungen zu verstoßen brauchen, um den ganzen Universitätsaufbau ins Wanken zu bringen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, daß wir erst den Rasen zerstören müssen, bevor wir die Lügen über Vietnam zerstören können, daß wir erst die Marschrichtung ändern müssen, bevor wir etwas an den Notstandsgesetzen ändern können, daß wir erst die Hausordnung brechen müssen, bevor wir die Universitätsordnung brechen können. Da haben wir den Einfall gehabt, daß das Betretungsverbot des Rasens, das Änderungsverbot der Marschrichtung, das Veranstaltungsverbot der Baupolizei genau die Verbote sind, mit denen die Herrschenden dafür sorgen, daß die Empörung über die Verbrechen in Vietnam, über die Notstandspsychose, über die vergreiste Universitätsverfassung schön ruhig und wirkungslos bleibt.

Da haben wir gemerkt, daß sich in solchen Vorgängen die kriminelle Gleichgültigkeit einer ganzen Nation austobt. Da haben wir es endlich gefressen, daß gegen den Magnifizenzwahn und akademische Sondergerichte, gegen Prüfungen, in denen man nur das Fürchten, gegen Seminare, in denen man nur das Nachschlagen lernt, gegen Ausbildungspläne, die uns systematisch verbilden, gegen Sachlichkeit, die nichts anderes als Müdigkeit bedeutet, gegen die Verketzerung der Emotion, aus der die Herrschenden das Recht ableiten, über die Folterungen in Vietnam mit der gleichen Ruhe reden zu können wie über das Wetter reden zu dürfen, gegen demokratisches Verhalten, das dazu dient, die Demokratie nicht aufkommen zu lassen, gegen Ruhe und Ordnung, in der die Unterdrücker sich ausruhen, gegen verlogene Rationalität und wohlweisliche Gefühlsarmut, – daß wir gegen den ganzen alten Plunder am sachlichsten argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren, und uns hier in den Hausflur auf den Fußboden setzen. Das wollen wir jetzt tun.
(Peter Schneider, 5. Mai 1967 – zitiert nach: Jürgen Miermeister, Joch Staadt (Hrsg.): Provokationen. Die Studenten- und Jugendrevolte in ihren Flugblättern 1965-1971, S. 47ff)