Der Erfolg der »Realisten« beruht nicht nur auf ihrer Kunst, sich als Führer unentbehrlich zu machen, sondern auch auf der Natur des Gehorsams jener, die solche Führer benötigen, um ihr Selbst abgeben zu können. Deren Bedürfnis nach Anpassung richtet ihr gesamtes Sein danach aus, daß sie Regeln erfüllen. Sie hängen an den Buchstaben des Gesetzes und der Verordnungen und zerstören so die Realität unserer Gefühlswelt. Auf diese Weise brauchen sie ihre eigenen zerstörerischen Impulse nicht zu erkennen. Sie finden oft ihren Ort in der Bürokratie, wo sie im Namen von Gesetz und Ordnung Gefühle niederwalzen und sich selbst dabei völlig im Recht fühlen können.
Diese Konformisten sind die Fußsoldaten der psyopathischen Führernaturen und helfen ihnen, die Welt in den Abgrund zu treiben. Diese Kollaboration erst macht die Lage so bedrohlich. 1940 schrieb ein Beamter des deutschen Justizministeriums an seinen Minister im Hinblick auf die Euthanasie, daß dieser doch seinen ganzen Einfluß geltend machen solle, um endlich dem gesetzlosen Töten von Geisteskranken und Behinderten eine gesetzliche Basis zu geben. Die Ehre der gesamten Justiz stehe auf dem Spiel.
Das Gewissen bedeutet hier nichts, einzig die Gewissenhaftigkeit, wie Roland Kirbach diese Haltung bitter kommentierte. Die Bereitschaft, die Regeln höher zu achten als das Leben, macht die unheilige Allianz von Konformist und Psychopath möglich.
(Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität)
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Sie haben sich immer über die biederen Schlipsträger und Hosenanzugträgerinnen lustig gemacht, die bei Banken, Versicherungen und Unternehmensberatungen arbeiten oder bei anderen, genauso miefigen wie langweiligen Firmen untergekommen sind und dort ihr trostloses Dasein verrichten. Das war ihre Sichtweise. So wollten sie nie enden, diese Perspektive haben sie stets verabscheut. Nun arbeiten sie selbst bei solcherart Banken, Versicherungen, Unternehmensberatungen, Marktforschungsinstituten oder in ähnlichen Feldern, die den gleichen kalten Charme versprühen, oder streben es an, das zu tun. Warum?
Verändert haben sie sich nicht. Das ist das Traurigste daran. Hätten sie sich geändert, hätten sie ihre früheren Überzeugungen über Bord geworfen, ja plakativ ausgedrückt sie sozusagen verraten, so wäre das – aus meiner persönlichen moralischen Perspektive – zwar äußerst schade, jedoch konsequent und hätte es verdient, respektiert zu werden. Genau das ist jedoch nicht der Fall. Unverändert gilt ihr Spott und Hohn den Langweilern und Spießern, wie sie sagen, die in all den seriösen Berufsfeldern von Banken bis zu Unternehmensberatungen ihr Geld verdienen, und auch weiterhin gehen sie mit der Verachtung der Werte hausieren, die diejenigen Institutionen vertreten, für die sie nun selbst tätig sind. Dass sie selbst dazugehören, wissen sie, und doch ist ihr Verhalten kein Ausdruck von kritischer Selbstironie. Sie sind nicht geworden, wer sie nie werden wollten, sondern sie spielen eine Rolle, sie inszenieren sich, verkaufen sich, ziehen Masken auf.
Auf der einen Seite haben sie ihre Überzeugungen behalten, doch auf der anderen Seite agieren sie genau entgegengesetzt. Ihre Überzeugungen sind Sonntagsüberzeugungen geworden, die unter der Woche in den Schrank gestellt werden, und sie selbst haben durch den Druck der ökonomisch-realen Situation eine komplizierte Ausprägung multipler Persönlichkeiten und moralischer Flexibilität entwickelt, die es ihnen erlaubt, mehrere sich widersprechende Pakete aus Handlungsmustern, Idealen und Überzeugungen in der eigenen Person zu vereinen.
Sie übernehmen eine Rolle. Sie haben ein Drehbuch zugeschickt bekommen, das ihnen nicht gefällt, dessen ihnen zugesprochene Rolle sie innerlich eigentlich ablehnen – und doch spielen sie sie. An freien Tagen lästern sie mit ihren Freunden und Bekannten über das, was sie an Arbeitstagen selbst verkörpern. Wenn jemand auf einer Party seine Ansicht zum Ausdruck bringt, er fände Arbeit zum Kotzen, dann finden sie das super, so richtig unterstützenswert, sie klopfen dem Mutigen solidarisch auf die Schulter und geben ihm Recht. Doch wenn am darauffolgenden Montag ein Kollege mit der gleichen Einstellung am Arbeitsplatz erscheint und dafür Ärger kassiert, raunen sie bloß noch „der Idiot ist selbst schuld!“ und wenden sich kopfschüttelnd ihrer Arbeit zu.
Sie sind keine Heuchler – in unterschiedlichen Situationen glauben sie tatsächlich verschiedene, teils diametral gegensätzliche Dinge und vertreten einander widersprechende Ansichten, ohne diese Widersprüchlichkeit bewusst zu erfassen. Kurz: Ihre neue Rolle verbietet es, eine authentische Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, ihre Persönlichkeit, sondern spaltet die eigene Identität in mehrere verschiedene Schein-Identitäten auf, die stets dort wirksam sind und die eigene Person möglichst ertragreich verkaufen, wo sie als angemessen erscheinen. Befeuert wird derartiges Verhalten durch widersprüchliche gesellschaftliche Anforderungen, wie etwa Planungskompetenz und Risikobereitschaft, Flexibilität und Verlässlichkeit, Konsumfreudigkeit und Abstinenz, Freiheit und Konformität, Teamfähigkeit und Egoismus, Familiensinn und ständige Mobilität.
Dieses Verhalten drückt dabei nicht bloß die harmlose Anpassung an äußere Umstände aus, wie sie in jeder Situation vorhanden ist, sondern verkörpert das allgegenwärtige Sich-Verkaufen und die damit verbundene und stets mitschwingende Selbstreg(ul)ierung, die dafür sorgt, sich aus Angst vor negativen Konsequenzen, beispielsweise von Seite des Arbeitsgebers, in jeder Situation den Anforderungen entsprechend zu vermarkten. Wer sich nicht richtig verkauft, also sich selbst zur Ware erklärt und die eigene Verwertbarkeit autonom maximiert und entsprechend anpreist, sei es nun am Arbeitsplatz, in der Disco oder in der Universität, gilt als hoffnungsloser Verlierer.
Jeder steht dabei für sich alleine, denn so muss es sein. In der Welt der Selbstdarstellung und des Sich-selbst-Verkaufens ist jeder andere der potentielle Feind, der sich schließlich ebenfalls möglichst erfolgreich verkaufen möchte. Mitmenschen werden reduziert auf Konkurrenten. Diese paranoide Atmosphäre des ständigen Misstrauens und der Angst produziert ein Verhalten, das sich schließlich auch auf die eigene Persönlichkeit und das Verhältnis zu den Mitmenschen auswirkt und dort selbst das Verhältnis zu denjenigen mit zunehmender Distanz belegt, die einem eigentlich am nächsten stehen. Die egoistischen und kalkulierend-rationalen Durchsetzungsstrategien, die im Berufsleben zumeist nahegelegt oder gar aufgezwungen werden, transportieren sich bis ins Private, wo sie sich in der austauschbaren Unverbindlichkeit kühl berechnender Verhältnisse zum Mitmenschen niederschlagen.
Freundschaften, so wie alle Beziehungen zu anderen Menschen, werden in dieser Welt der totalen Verwertung und Selbstverwertung ebenso als Waren begriffen, die nützlich und dienlich sein sollen, wie alles andere auch. Sie sind unverbindlich und oberflächlich. Man verkauft sich jedem neuen sozialen Kontakt auf eine andere Weise, um ihm das zu präsentieren, was er sehen möchte, und maximiert dadurch den Erfolg des Selbstverkaufens. Masken werden aufgezogen, Rollen gespielt, Auftritte geübt. Für jeden Kontakt entsteht ein neues soziales Ich, das eine möglichst überzeugende Fiktion darstellt, und die wirkliche Persönlichkeit, die Authentizität der eigenen Person, verkriecht sich aus Angst im stillen Kämmerlein, um die aufgebauten Illusionen nicht zu zerstören. Einen anderen Menschen an sich heranzulassen wird als potentielle Schwäche diskreditiert, die nur dann in Kauf genommen werden kann, wenn es der eigenen Lage dienlich ist, wenn es beispielsweise zu Prestigegewinn oder finanziellem Vorteil führt, zu Problemlösungen beiträgt oder ein den allgegenwärtigen Druck ausgleichendes Amüsement verspricht.
Strategien aus der so genannten Arbeitswelt, die dort unter Vorspielung eben solcher Rollen und dem Erzeugen von Fiktionen zu Erfolg führen sollen, werden nach einiger Zeit kritiklos in intimste Bereiche des eigenen Lebens übernommen und münden darin, den Betrug und die Illusion als angemessene Grundlagen zwischenmenschlicher Beziehungen und sogar Partnerschaften anzusehen, ohne zu begreifen, dass die Übertragung dieser Verhaltensweisen in eben diese Sphären, die stets zwingend authentischer Persönlichkeiten und Verhaltensweisen bedürfen, zwangsläufig zu Schwierigkeiten führen wird. So ist es kein Wunder, wenn entsprechende Freundschaften oder Partnerschaften zerbrechen.
All diesen Verlusten wird häufig mit dem Versuch der Uminterpretation begegnet: Die Unverbindlichkeit, das berechnende Verhalten und das illusorische Rollenspiel seien Ausdruck und Notwendigkeit der Freiheit des eigens selbstbestimmten Lebensentwurfs. Nur durch das Rollenspiel könne man die eigene Persönlichkeit vor der feindlichen Außenwelt schützen, lautet ein anderer Versuch der positiven Umdeutung, der nicht begreift, dass das Unterdrücken und daraus de facto resultierende Abschaffen dieser authentischen Persönlichkeit nicht zu deren Erhaltung beiträgt. Dieser Selbstbetrug erlaubt es, all die negativen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, als unvermeidlich abzustempeln, als hinderlich bei der eigenen Vermarktung. Es entsteht ein Typus Mensch, der seine fiktionalen Schein-Persönlichkeiten, die damit einhergehende Selbstentfremdung und das von Kalkül bestimmte Konkurrenz- und Nutzdenken gegenüber seinen Mitmenschen als etwas Positives begreift, das ihn zum Erfolg führt.
Entsteht dabei eine Gesellschaft, in der wir uns wohlfühlen?
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