Schlagwortarchiv für: Bildungsstrategien

„In der Regel feh­len denen, die über Bil­dungs­ka­pi­tal in nen­nens­wer­tem Umfang nicht ver­fü­gen, die ›rich­ti­gen‹ Infor­ma­tio­nen für eine in die höchs­ten Posi­tio­nen füh­ren­de Bil­dungs­in­ves­ti­ti­on, es fehlt ihnen die Ver­traut­heit mit den Struk­tu­ren und Wer­ten der Schu­le, und wo die­se nicht fehlt, wie zum Bei­spiel in den Fami­li­en der Leh­rer oder der klei­nen Beam­ten, da feh­len ihnen die mate­ri­el­le Sicher­heit und auch die Sicher­heit des Habi­tus, die jene ris­kan­ten Bil­dungs­we­ge ermög­li­chen wür­den, die den höchs­ten Gewinn ver­spre­chen“ (Krais & Gebau­er, 2002, S. 41).

Zusätz­lich zu einer kul­tu­rel­len und habi­tu­el­len Pas­sung, die sich als pri­mä­rer Her­kunfts­ef­fekt auf die schu­li­schen Leis­tun­gen aus­wirkt, ist die Bil­dungs­lauf­bahn inner­halb des Schul­sys­tems von zahl­rei­chen sich kumu­lie­ren­den Ent­schei­dun­gen geprägt, die je nach sozia­ler Her­kunft unter­schied­lich aus­fal­len, von der Wahl der vor­schu­li­schen Betreu­ung und der Grund­schu­le, über die wei­ter­füh­ren­de Schul­form, die Auf­nah­me einer beruf­li­chen Aus­bil­dung oder eines Stu­di­ums bis hin zur Wahl des spe­zi­fi­schen Stu­di­en­fachs. Die­se Bil­dungs­ent­schei­dun­gen sind vor allem in den ers­ten Abschnit­ten des Bil­dungs­ver­laufs wie etwa beim Über­gang von der Grund- in die wei­ter­füh­ren­de Schu­le elter­li­che Ent­schei­dun­gen, wäh­rend spä­ter auch der Schü­ler selbst die Ent­schei­dun­gen beein­flus­sen kann[1].

In der Bil­dungs­for­schung domi­nie­ren ver­schie­de­ne, auf Boudons (1974) Modell ratio­na­ler Wahl­ent­schei­dun­gen fußen­de Kon­zep­te (für einen Über­blick sie­he Maaz, Hau­sen, McEl­va­ny, & Bau­mert, 2006; Becker R., 2011; Stocké, 2010) die Erklä­rung der her­kunfts­spe­zi­fi­schen Bil­dungs­ent­schei­dun­gen, wie etwa die Theo­rie ratio­na­ler Bil­dungs­ent­schei­dun­gen (vgl. Erik­son & Jons­son, 1996), der mikro­theo­re­ti­sche Ansatz (vgl. Breen & Gold­thor­pe, 1997) oder die Wert-Erwar­tungs-Theo­rie (vgl. Esser, 1999). Der Kern all die­ser Theo­rien „besteht in der Annah­me, dass Indi­vi­du­en bei der Ent­schei­dungs­fin­dung kal­ku­lie­ren, wel­che Erträ­ge sich aus dem Besuch eines bestimm­ten Bil­dungs­gangs erge­ben und wel­che Kos­ten damit ver­bun­den sind“ (Maaz, Hau­sen, McEl­va­ny, & Bau­mert, 2006, S. 303; vgl. Hill­mert, 2007), dem­zu­fol­ge es sich bei Bil­dungs­ent­schei­dun­gen um zukunfts­ori­en­tier­te, nut­zen­ma­xi­mie­ren­de, ziel­ge­rich­te­te ratio­na­le Abwä­gung als „Teil der Lebens­pla­nung“ (Becker R., 2011, S. 107) han­de­le. Ver­all­ge­mei­nernd wird hier­zu das Motiv des Sta­tus­er­halts unter­stellt (vgl. Maaz, 2006; Maaz, Hau­sen, McEl­va­ny, & Bau­mert, 2006; Becker R., 2007; Hill­mert, 2007; Becker R., 2011), das als allei­ni­ges Motiv aller­dings bereits zu kurz greift, da milieu­spe­zi­fi­sche Ein­stel­lungs­mus­ter und Bil­dungs­aspi­ra­tio­nen gegen­über der Schu­le exis­tie­ren, die sich in ent­spre­chen­den her­kunfts­spe­zi­fi­schen ‚Stra­te­gien‘ äußern, sei­en es je nach Milieu etwa Auf­stiegs- oder Ver­mei­dungs­stra­te­gien. Damit ver­bun­den ist zudem die Fra­ge, wes­sen Nut­zen eigent­lich gemeint ist, wenn von Nut­zen­ma­xi­mie­rung gespro­chen wird (vgl. Dit­ton, 2007, S. 251) – der der Fami­lie, der des Kin­des oder gar ein gänz­lich anderer.

Die unglei­chen, her­kunfts­spe­zi­fi­schen Bil­dungs­ent­schei­dun­gen wer­den in die­sem Kon­text mit einer je nach sozia­ler Her­kunft unter­schied­lich aus­fal­len­den Ein­schät­zung und Bewer­tung der eige­nen Leis­tun­gen, des poten­ti­el­len Stu­di­en­erfolgs und des Kos­ten­ri­si­kos erklärt (vgl. Becker & Lau­ter­bach, 2007; Becker R., 2010), d.h. „[d]ie Ratio­na­li­tät der Bil­dungs­ent­schei­dung ergibt sich daher aus der (ver­nünf­ti­gen) Beach­tung von Mög­lich­kei­ten und Zwän­gen der Ent­schei­dungs- und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten, die wie­der­um mit der sozia­len Posi­ti­on der Fami­lie und ihren Res­sour­cen gege­ben sind“ (Becker R., 2007, S. 165). Wenn­gleich dar­auf hin­ge­wie­sen wird, dass der­ar­ti­ge „Eva­lua­tions- und Aus­wahl­pro­zes­se (…) nicht zwangs­läu­fig bewusst vor­ge­nom­men wer­den“ (Becker R., 2011, S. 127) müs­sen, wird doch immer wie­der betont, der­ar­ti­ge Bil­dungs­ent­schei­dun­gen basier­ten auf „kom­ple­xen Ent­schei­dungs­pro­zes­sen, denen in der Regel mehr oder weni­ger umfas­sen­de Infor­ma­ti­ons­su­chen, selek­ti­ve Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tun­gen und dar­auf basie­ren­de Abwä­gungs­pro­zes­se vor­aus­ge­hen“ (ebd., S. 107) – hier wird ent­we­der ein Wider­spruch offen­bar, oder es han­delt sich um eine Ein­schrän­kung der latent ratio­na­lis­ti­schen Sicht­wei­se zuguns­ten ande­rer Erklä­rungs­an­sät­ze wie etwa unter Zuhil­fe­nah­me des Habi­tus­kon­zepts. Für letz­te­res spricht, dass zugleich ‚frames‘ und ‚habits‘ ange­führt wer­den, die zu siche­ren und ‚auto­ma­ti­schen Ent­schei­dun­gen‘ füh­ren sol­len, da sie „sich in der Ver­gan­gen­heit immer bewährt haben“ (ebd., S. 127) und es die „Unbe­stimmt­heit der kon­kre­ten Hand­lungs­si­tua­ti­on (…) mög­li­cher­wei­se struk­tu­rell unmög­lich [macht], i.e.S. ‚ratio­nal’ zu han­deln“ (Hill­mert, 2007, S. 92), wes­we­gen auf bewähr­te, erfah­rungs­mä­ßi­ge (und eher unbe­wuss­te) Hand­lungs­me­cha­nis­men zurück­ge­grif­fen wer­den muss.

In die­sem Sin­ne soll das Kon­zept der ratio­na­len Wahl mit jenem des Habi­tus ver­bun­den wer­den, da „ratio­na­le Ent­schei­dun­gen übli­cher­wei­se mit den inkor­po­rier­ten Sche­ma­ta des Habi­tus weit­ge­hend zusam­men­fal­len“ (Lan­ge-Ves­ter & Tei­wes-Küg­ler, 2006, S. 60; vgl. Ves­ter, 2006; Grund­mann, 2006), was nichts ande­res bedeu­tet, als dass ein Indi­vi­du­um die objek­ti­ven Per­spek­ti­ven, Chan­cen und Wahr­schein­lich­kei­ten habi­tu­ell ver­in­ner­licht hat, die somit zur Grund­la­ge der eige­nen, sub­jek­ti­ven her­kunfts­spe­zi­fi­schen Ratio­na­li­tät gewor­den sind, sodass objek­ti­ve Mög­lich­kei­ten und sub­jek­ti­ve Ent­schei­dun­gen in einer Art Wahl der wahr­schein­lichs­ten Zukunft – ver­mit­telt über die impli­zi­te Kom­pli­zen­schaft des Habi­tus mit den ihn erzeu­gen­den Struk­tu­ren – in der Regel über­ein­stim­men, da der Habi­tus und der mit ihm ein­her­ge­hen­de prak­ti­sche Sinn als „Natur gewor­de­ne, in moto­ri­sche Sche­ma­ta und auto­ma­ti­sche Kör­per­re­ak­tio­nen ver­wan­del­te gesell­schaft­li­che Not­wen­dig­keit“ (Bour­dieu, 1987b, S. 127; vgl. Krais & Gebau­er, 2002) eine Ratio­na­li­tät erzeugt, die den erfah­re­nen gesell­schaft­li­chen Umstän­den am bes­ten ange­passt ist: „Ob die Wahl eines Stu­di­ums oder die Ent­schei­dung für einen Lehr­be­ruf eher ratio­nal kal­ku­lie­rend oder eher ohne spe­zi­fi­sche Kal­ku­la­ti­on erfolgt, lässt sich des­halb oft gar nicht unter­schei­den, weil bei­de Logi­ken des Han­delns zu über­ein­stim­men­den Ergeb­nis­sen füh­ren“ (Lan­ge-Ves­ter & Tei­wes-Küg­ler, 2006, S. 60) und „Über­ein­stim­mun­gen zwi­schen dem Wil­len der Akteu­re und den Len­kun­gen des Bil­dungs­sys­tems die Regel sind“ (Lan­ge-Ves­ter, 2009, S. 273). Wenn also eine ratio­na­le Wahl per Beob­ach­tung kon­stru­iert wird, heißt das nicht zwangs­läu­fig, dass der Akteur die­se auch bewusst als ratio­na­le Wahl erfah­ren bzw. voll­zo­gen hat, da „bewuss­tes und kal­ku­lie­ren­des Han­deln im All­tag von Men­schen einen Son­der­fall, kei­nes­wegs den ‚Nor­mal­mo­dus‘ des Han­delns dar­stellt“ (Bitt­ling­may­er, 2006, S. 45; vgl. Ves­ter, 2004), sind doch die „ein­träg­lichs­ten Stra­te­gien (…) meist die, wel­che außer­halb jeder Berech­nung (…) erzeugt wer­den“ (Bour­dieu, 1987a, S. 116), wes­halb zwar „eine sehr enge Kor­re­la­ti­on zwi­schen wis­sen­schaft­lich kon­stru­ier­ten objek­ti­ven Wahr­schein­lich­kei­ten (…) und sub­jek­ti­ven Erwar­tun­gen“ (ebd., S. 100) fest­ge­stellt wer­den kann, die aber nicht als Beleg für bewusst-kal­ku­lie­ren­des Han­deln miss­ver­stan­den wer­den soll­te (vgl. ebd.; Krais & Gebau­er, 2002; Wig­ger, 2009; Bour­dieu & Wac­quant, 1996).

Über den Habi­tus wer­den in der Regel „die unwahr­schein­lichs­ten Prak­ti­ken (…) durch eine Sofort­un­ter­wer­fung unter die Ord­nung, die aus der Not gern eine Tugend macht, also Abge­lehn­tes ver­wirft und Unver­meid­li­ches will, als undenk­ba­re aus­ge­schie­den“ (Bour­dieu, 1987a, S. 100), bevor über­haupt eine bewusst-kal­ku­lie­ren­de Abwä­gung statt­fin­den kann; so zum Bei­spiel im Fall des schul­ab­leh­nen­den Ver­hal­tens unter Kin­dern aus schul­bil­dungs­fer­nen Milieus, denn hier­bei wer­den die Spiel­re­geln von vorn­her­ein abge­lehnt, das Spiel nicht aner­kannt, weil die ohne­hin gerin­gen objek­ti­ven Erfolgs­chan­cen bereits habi­tu­ell ver­in­ner­licht wor­den sind. Bil­dungs­stra­te­gien und ratio­na­le Bil­dungs­ent­schei­dun­gen kön­nen somit nicht anders begrif­fen wer­den denn als „eine (impli­zi­te) Ver­nünf­tig­keit der Hand­lungs­plä­ne, wie sie sich aus dem Habi­tus des Indi­vi­du­ums bzw. der Fami­lie und aus der jewei­li­gen Posi­ti­on im sozia­len Raum ergibt“ (Bra­ke & Büch­ner, 2009, S. 69), dem­entspre­chend die­se Ver­nünf­tig­keit mit den jeweils milieu­spe­zi­fi­schen All­tags­prak­ti­ken, deren Zusam­men­wir­ken mit dem Hand­lungs­feld Schu­le, der unter­schied­li­chen Schul­nä­he und der Wert­schät­zung der Schu­le als auch der von der Schu­le erfah­re­nen Wert­schät­zung vari­iert (vgl. Lan­ge-Ves­ter & Tei­wes-Küg­ler, 2006; Grund­mann, 2006) und nicht objek­tiv fass­bar, son­dern nur anhand der sub­jek­ti­ven Dis­po­si­tio­nen erklär­bar ist.

Jeder ratio­na­lis­ti­sche Erklä­rungs­an­satz der Bil­dungs­ent­schei­dun­gen ist folg­lich „intel­lek­tu­ello­zen­trisch“ (Bour­dieu & Wac­quant, 1996, S. 153) und begeht daher den Feh­ler, objek­tiv fest­stell­ba­re Stra­te­gien als sub­jek­ti­ve Stra­te­gien zu inter­pre­tie­ren und dahin­ge­hend umzu­deu­ten (vgl. Bour­dieu, 1998, S. 207 & 210; Bour­dieu & Wac­quant, 1996, S. 100; Krais & Gebau­er, 2002, S. 23), womit er einer retro­spek­ti­ven Illu­si­on auf­liegt, indem „die objek­tiv fina­li­sier­te Akti­on des Habi­tus als das Ergeb­nis einer bewuss­ten und kal­ku­lier­ten (…) Stra­te­gie auf­ge­fasst wird und nicht als eine objek­ti­ve Stra­te­gie, die ihren Erfolg viel­fach nur ihrer Unbe­wusst­heit (…) ver­dankt“ (Bour­dieu, 2011, S. 25), zumal es tri­vi­al bis tau­to­lo­gisch anmu­tet zu kon­sta­tie­ren, Akteu­re ent­schie­den sich in einem ratio­na­len Pro­zess für die­je­ni­ge Alter­na­ti­ve, die bei ratio­na­ler Abwä­gung am sinn­volls­ten sei.

Hin­zu kom­men Kon­flikt­ver­hält­nis­se zwi­schen All­tags­pra­xis und schu­li­scher Pra­xis, die maß­geb­li­chen Ein­fluss auf die jeweils ver­folg­ten Bil­dungs­stra­te­gien aus­üben. In den unte­ren, schulbildungsferne(re)n Milieus pro­vo­ziert die Schu­le einen „kon­flikt­haf­te Gegen­satz, der hier zwi­schen lebens­welt­lich rele­van­ter und insti­tu­tio­nell gefor­der­ter Bil­dung besteht“ (Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Groh-Sam­berg, 2007, S. 48; vgl. Bitt­ling­may­er & Grund­mann, 2006; Dra­ven­au & Groh-Sam­berg, 2005), der letz­ten Endes eine die sozia­le Iden­ti­tät mas­siv beein­träch­ti­gen­de Bil­dungs­ent­schei­dung her­vor­ruft, die zuguns­ten der Schu­le und gegen das Her­kunfts­mi­lieu oder zuguns­ten des Her­kunfts­mi­lieus und gegen die Schu­le aus­fällt, denn jene „Hand­lungs­be­fä­hi­gun­gen und Kom­pe­ten­zen, die in der einen Welt zäh­len, sind in der jeweils ande­ren nichts wert“ (ebd., S. 49). Spä­tes­tens an die­ser Stel­le soll­te deut­lich wer­den, dass eine rein auf Nut­zen­ma­xi­mie­rung und ratio­na­le Abwä­gung fokus­sier­te Ana­ly­se der­ar­ti­ge iden­ti­täts­stif­ten­de oder -bedro­hen­de Ein­flüs­se und poten­ti­el­le Ent­frem­dungs­pro­zes­se größ­ten­teils igno­riert und nur eine lücken­haf­te Erklä­rung leis­ten kann, die der Akteurs­per­spek­ti­ve kaum gerecht wird, da auch die zu erwar­ten­de Ent­frem­dung und Ent­beh­rung und die damit ein­her­ge­hen­den Zumu­tun­gen in die Bil­dungs­ent­schei­dun­gen ein­ge­hen (Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Edel­stein, 2006). Die vor allem bei Fami­li­en mit nied­ri­gem Bil­dungs­sta­tus zu beob­ach­ten­de Selbst­eli­mi­nie­rung aus dem Schul­sys­tem, d.h. die Wahl wenig ertrag­rei­cher Bil­dungs­lauf­bah­nen, der Abbruch der­sel­ben oder die Ent­wick­lung von Gegen­wel­ten kann dar­um als Selbst­schutz ver­stan­den wer­den, um „der wei­te­ren Kon­fron­ta­ti­on mit den lebens­welt­lich inkom­men­sur­a­blen Impe­ra­ti­ven schu­li­scher Bil­dung aus dem Weg [zu] gehen“ (Grund­mann, Groh-Sam­berg, Bitt­ling­may­er, & Bau­er, 2003, S. 39; vgl. Dit­ton, 2010; Dra­ven­au, 2006).

Unzu­rei­chen­de ana­ly­ti­sche Schär­fe wei­sen die Ratio­nal-Choice-Theo­rien auch hin­sicht­lich des her­kunfts­spe­zi­fi­schen Zeit­ho­ri­zonts bei der Bil­dungs­pla­nung auf (vgl. Becker R., 2010; Becker R., 2011; Dit­ton, 2007), der von der mate­ri­el­len und kul­tu­rel­len Situa­ti­on der Fami­lie abhän­gig ist. Die Vor­stel­lung im Kon­text der Theo­rien ratio­na­ler Wahl lau­tet ver­ein­facht aus­ge­drückt: Auf­grund der mate­ri­el­len Situa­ti­on und weil die Aus­bil­dungs­we­ge unter­schied­li­che Kos­ten und Nut­zen auf­wei­sen, wird von den Akteu­ren in einem mehr oder weni­ger ratio­na­len Pro­zess der bewuss­te Zeit­ho­ri­zont ange­passt, der für Pla­nun­gen zur Ver­fü­gung steht. Die­se Vor­stel­lung ist erneut als ratio­na­lis­tisch zurück­zu­wei­sen, da sich der her­kunfts­spe­zi­fi­sche Zeit­ho­ri­zont nicht nur in ratio­na­ler Betrach­tung und dem Maß der kal­ku­lie­ren­den Vor­aus­pla­nung äußert, son­dern auch im Den­ken, der Wahr­neh­mung und somit dem Habi­tus an sich (vgl. Bour­dieu, 2000; Gar­ham­mer, 2002; Levi­ne, 1999). Da unte­re, schul­bil­dungs­fer­ne Milieus über kaum mate­ri­el­les und kul­tu­rel­les Kapi­tal ver­fü­gen und „lebens­welt­lich gera­de dar­auf ange­wie­sen sind, nur gerin­ge Erwar­tun­gen an ihre Zukunft, an die Plan­bar­keit ihres Lebens und an län­ger­fris­ti­ge Zie­le und bio­gra­fi­sche ‚Pro­jek­te‘ zu stel­len“ (Grund­mann, Bitt­ling­may­er, Dra­ven­au, & Groh-Sam­berg, 2007, S. 56), ent­wi­ckeln sie einen Habi­tus der Not, der als ein­zi­ge lebens­welt­lich prak­ti­ka­ble Stra­te­gie auf Hedo­nis­mus und das Genie­ßen des im Augen­blick Gege­be­nen setzt (vgl. Bour­dieu, 1982, S. 297) und damit den Zeit­ho­ri­zont stark ein­schränkt – dies aller­dings nicht als Ergeb­nis bewuss­ter Pro­zes­se, son­dern im Sin­ne einer habi­tu­el­len Anpas­sung an die lebens­welt­li­chen Erfor­der­nis­se. Dies bedeu­tet, für ris­kan­te­re Aus­bil­dungs­gän­ge und umfas­sen­de Bil­dungs­pla­nun­gen kön­nen sich haupt­säch­lich sol­che Akteu­re ent­schei­den, die über einen ent­spre­chen­den habi­tu­el­len Zeit­ho­ri­zont und die die­sem zugrun­de­lie­gen­de öko­no­mi­sche Grund­la­ge ver­fü­gen, wohin­ge­gen in „unbe­re­chen­ba­ren Lebens­ver­hält­nis­sen (…) das Ethos plan­mä­ßi­ger Lebens­füh­rung wenig [nutzt]“ (Ves­ter, 2004, S. 46), da es mit den all­täg­li­chen Pra­xen, die zum (Über-)Leben im Her­kunfts­mi­lieu not­wen­dig sind, kollidiert.

Ver­meint­lich irra­tio­na­le Bil­dungs­ent­schei­dun­gen, wie etwa die Wahl der Real­schu­le statt des Gym­na­si­ums oder der Abbruch eines Stu­di­ums, sind folg­lich nicht als irra­tio­nal im eigent­li­chen Sin­ne zu begrei­fen, da dies die jeweils her­kunfts­spe­zi­fi­sche Ratio­na­li­tät ver­ken­nen wür­de, auf der die Ent­schei­dun­gen basie­ren, ohne dabei zwin­gend Aus­druck sub­jek­tiv ratio­na­ler Ent­schei­dun­gen zu sein, „son­dern sie kön­nen im jewei­li­gen sozia­len Kon­text funk­tio­nal sein“ (Hill­mert, 2007, S. 91; vgl. Bitt­ling­may­er, 2006; Dra­ven­au, 2006; Grund­mann, 2006) und ledig­lich unter­schied­li­che Anschluss­fä­hig­keit an die Anfor­de­run­gen des insti­tu­tio­na­li­sier­ten Bil­dungs­we­sens aufweisen:

„Jede Ein­zel­ent­schei­dung, durch die sich ein Kind vom wei­te­ren Bil­dungs­auf­stieg aus­schließt oder in einen aus­sicht­lo­sen Zweig rele­gie­ren läßt, resul­tiert, selbst wenn sie durch den Druck inne­rer Beru­fung oder die Fest­stel­lung unzu­rei­chen­der Befä­hi­gung erzwun­gen scheint, aus der Gesamt­heit der objek­ti­ven Rela­tio­nen zwi­schen sozia­ler Klas­se und Bil­dungs­sys­tem“ (Bour­dieu & Pas­se­ron, 1971, S. 178).

Am Bei­spiel des Stu­di­ums lässt sich das Dar­ge­leg­te exem­pla­risch ver­deut­li­chen. Selbst bei ver­gleich­ba­ren schu­li­schen Leis­tun­gen wei­sen Kin­der aus Fami­li­en mit hoher for­ma­ler Bil­dung eine deut­lich stär­ke­re Stu­di­en­in­ten­ti­on auf als Kin­der aus schul­bil­dungs­fer­nen Milieus (vgl. Maaz, 2006; Reemts­ma Begab­ten­för­de­rungs­werk, 2009; Autoren­grup­pe Bil­dungs­be­richt­erstat­tung, 2010) und neh­men auch dann eher ein Stu­di­um auf, wenn sie sich selbst schlech­te Leis­tun­gen attes­tie­ren und nied­ri­ge Erfolgs­er­war­tun­gen haben (vgl. Becker R., 2010). Stu­den­ten aus unte­ren Milieus den­ken außer­dem häu­fi­ger an Stu­di­en­ab­bruch (vgl. Lan­ge-Ves­ter & Tei­wes-Küg­ler, 2004) – nicht sel­ten, weil sie einen stär­ke­ren Pra­xis­be­zug ver­mis­sen (vgl. Reemts­ma Begab­ten­för­de­rungs­werk, 2009, S. 29), was die sozia­le Distanz zu abs­trak­ter Bil­dung ver­deut­licht – und geben als Aus­druck des schul­bil­dungs­fer­nen Habi­tus einen gene­rell höhe­ren Bera­tungs­be­darf an (vgl. Isser­stedt, Mid­den­dorff, Kan­dul­la, Bor­chert, & Leszc­zen­sky, 2010, S. 35 & 461).

Ent­frem­dung, insti­tu­tio­nel­le Steue­rung und man­geln­de Pas­sungs­ver­hält­nis­se erwe­cken den Anschein, als sei­en es die Indi­vi­du­en selbst, die ihre Bil­dungs­we­ge wäh­len, sich durch­set­zen oder eli­mi­nie­ren las­sen, obwohl viel­mehr unter­schied­li­che Bil­dungs­stra­te­gien, diver­gie­ren­de Zeit­ho­ri­zon­te, impli­zi­te und expli­zi­te Zwän­ge und sym­bo­li­sche Gewalt, letzt­lich also Habi­tus­un­ter­schie­de und die in der Her­kunfts­fa­mi­lie vor­lie­gen­de Kapi­tal­aus­stat­tung für die Selbst­eli­mi­nie­run­gen aus dem Bil­dungs­sys­tem ver­ant­wort­lich sind (vgl. Ves­ter, 2004; Lan­ge-Ves­ter, 2009).


[1] Gemeint ist hier­mit die geziel­te, bewuss­te Beein­flus­sung der kon­kre­ten Bil­dungs­ent­schei­dung – die schu­li­schen Leis­tun­gen eines Schü­lers tra­gen ohne­hin zur Ent­schei­dungs­fin­dung bei, sei es als limi­tie­ren­der Fak­tor oder als Zugangsberechtigung.


Lite­ra­tur:

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  2. Becker, R. (2007). Sozia­le Ungleich­heit von Bil­dungs­chan­cen und Chan­cen­ge­rech­tig­keit. In R. Becker, & W. Lau­ter­bach (Hrsg.), Bil­dung als Pri­vi­leg (2. Auf­la­ge) (S. 157-185). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
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