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Gut ist es, an andern sich zu halten. Denn keiner trägt das Leben allein.
(Friedrich Hölderlin)

Kommunikation mit den Mitmenschen ist keine Einbahnstraße. Das gilt vor allem, aber nicht exklusiv, für die Kommunikation mit Freunden. Kommunikation mit den Mitmenschen ist auch kein Selbstbedienungsbasar. Sie sagen dir ihre Meinung – ungefragt. Sie sagen dir, worin du so richtig schlecht bist – ungefragt. Sie sagen dir, dass einige deiner Entscheidungen ziemlich blöd waren – ungefragt.

Das alles findet man vielleicht in jenen Momenten, in denen man es zu hören bekommt, ziemlich nervig und vielleicht sogar scheiße, aber es hilft – und es ist verdammt viel wert. Weil eben niemand perfekt ist. Weil niemand alles auf Anhieb super macht. Weil niemand je auslernt. Weil niemand alleine ist. Weil es gut ist, das eigene Handeln des Öfteren aus anderen Perspektiven und dabei nicht immer nur von den gleichen Personen beurteilt zu sehen, Ratschläge zu erhalten und Kritik zu ernten, da das eigene Selbstbild stets von der Verzerrung geprägt ist, wie man sich sehen möchte. Und weil man lernt, dass man nicht über jede nicht selbst gemachte Erfahrung erhaben ist.

Solche Ratschläge, Meinungen oder Kritiken anderer Menschen in Erwägung zu ziehen oder gar anzunehmen, mag vielleicht anfangs ein wenig das eigene Ego verletzen. Oder man ist außer sich, weil andere Menschen die Dreistigkeit besitzen, sich in das eigene Leben einzumischen. Aber letzten Endes stärkt es die eigene Persönlichkeit, und das ist viel wertvoller als ein angekratztes Ego. Es lohnt sich, dafür eventuelle Mauern einzureißen, die man gegenüber anderen Menschen und seiner Umwelt gebaut hat.

Sie anzunehmen hat nie etwas mit Schwäche oder Unfähigkeit zu tun. Im Gegenteil. Schwach – aber vor allem dumm – ist, wer denkt, alles alleine am besten zu wissen und zu können. Wer das glaubt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er schließlich tatsächlich das Leben ganz alleine tragen muss. Wer sich abschottet, verliert viel Wärme.

Eine jener Charakteristiken, die Freunde ausmachen, ist eben dieses Einmischen. Sie sagen dir von sich aus Dinge, die du vielleicht nicht hören willst, und das ist gut so. Sie sagen dir solche Dinge, ohne darauf angesprochen zu werden, denn auf Aufforderung könnte das jeder. Und sie versuchen dir zu helfen, auch und gerade wenn du sie nicht darum bittest oder wenn du wieder einmal so tust, als bräuchtest du keine Hilfe, denn auf Aufforderung könnte auch das jeder Beliebige. Ein Beliebiger nimmt allerdings nicht Anteil. Freunde schon. Das macht sie unbezahlbar. Auch wenn es hin und wieder nervt.

Das Ende des Jahres. Mit einigen Freunden und Bekannten ging ich auf eine der vielen Silvesterpartys in dieser Nacht und die Stimmung war super. Irgendwann im Laufe des Abends saß ich mit einigen Leuten herum und unterhielt mich mit ihnen. Ein Freund aus früheren Zeiten, den wir zufällig dort getroffen hatten, sah uns dasitzen, kam zu mir herüber und meinte:

“Willst du dich nicht ranmachen? Irgendeine kriegt man auf jeden Fall…”

Das Interessante an seiner Aussage ist unter anderem, dass er Recht hat. Irgendeine(n) findet man bei solchen Gelegenheiten auf jeden Fall, wenn man das möchte. Je später der Abend, desto höher die Wahrscheinlichkeit – das liegt nicht einmal hauptsächlich am Alkohol. Und ohne Frage ist das auch völlig legitim, wenn beide Seiten nur genau das erwarten: Irgendeine(n).

Für mich war dieser Kommentar jedoch einer jener Momente, in denen mir klar wird, dass das, was er ausdrückte, nicht meine Welt ist. Und dass ich nicht irgendeine möchte.

Wollen wir so sein? Postmodern und immer auf der sicheren Metaebene, von der aus man schon vorher weiß, dass man ohnehin nichts ändern kann? Ist das so wirklich die Lösung? Sich einfach dadurch aus der Verantwortung zu stehlen, in dem man die schon längst vollzogene Resignation und das klein Beigeben mit angeberischem Besserwissen übertüncht? Sind das die Spießer, denen wir uns intellektuell überlegen fühlen oder ist nicht vielmehr das spießig sein von heute, wenn wir dumm und zynisch über alles lachen, was zu ändern man in Wirklichkeit zu bequem ist?
(Jens Scholz)

Neigen wir erst einmal zur Trennung von Denken und Fühlen, so besteht die Schwierigkeit darin, daß wir nicht mehr in der Lage sind, diesen Vorgang zu sehen. Aufgrund unserer Entwicklung werden wir bestrebt sein, uns nicht so zu sehen, wie wir sind, sondern so, wie wir meinen, daß wir gesehen werden sollten. Es werden Image und wirkliches Sein sich nicht entsprechen. Und wenn sie sich nicht entsprechen, wird dieser Widerspruch der inneren Realität ständige Quelle von Angst sein. Dieser Widerspruch bedroht uns mit dem Zusammenbruch, und die Angst davor zwingt uns erst recht, auf unsere Gefühle zu »verzichten«.

Für jene, die in das Erscheinungsbild »normalen« Verhaltens hineinschlüpfen, weil sie die Spannung der Widersprüche zwischen der uns auferlegten Realität und ihrer inneren Welt nicht ertragen, für solche Menschen gibt es bald keine wirklichen Gefühle mehr. Statt dessen gehen sie mit Ideen von Gefühlen um, haben keine Erfahrung mehr mit ihnen. Sie präsentieren aufgesetzte Gefühle als ihre eigenen und sagen sich von den wahren Gefühlen los. Je »gesünder« das Image ihrer Identität, das sie angenommen haben, desto erfolgreicher werden sie diese Manipulation vollziehen können. Und es ist Manipulation, da ihr Ziel nicht der Ausdruck ihrer selbst ist, sondern sie den anderen davon überzeugen wollen, daß sie angemessen handeln, denken und fühlen. Dies sind die Menschen, die ich als die wirklich Wahnsinnigen unter uns zeigen möchte.
(Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität)

Die Menschen verlernen das Schenken. Der Verletzung des Tauschprinzips haftet etwas Widersinniges und Unglaubwürdiges an; da und dort mustern selbst Kinder mißtrauisch den Geber, als wäre das Geschenk nur ein Trick, um ihnen Bürsten oder Seife zu verkaufen. […] Der Verfall des Schenkens spiegelt sich in der peinlichen Erfindung der Geschenkartikel, die bereits darauf angelegt sind, daß man nicht weiß, was man schenken soll, weil man es eigentlich gar nicht will. Diese Waren sind beziehungslos wie ihre Käufer. Sie waren Ladenhüter schon am ersten Tag. Ähnlich der Vorbehalt des Umtauschs, der dem Beschenkten bedeutet: hier hast du deinen Kram, fang damit an, was du willst, wenn dir´s nicht paßt, ist es mir einerlei, nimm dir etwas anderes dafür.
(Theodor W. Adorno – Minima Moralia)

Wenn man dir liniertes Papier gibt, schreibe quer über die Zeilen.
(Juan Ramón Jiménez)

Ich kann diesen dummen Spruch nicht mehr hören: Sei doch mal konstruktiv!

Wieso nämlich sollte ich konstruktiv sein, mich also irgendwie an der Verbesserung des Gegebenen beteiligen? Irgendetwas Konstruktives zu artikulieren, von Innen an den gegebenen Fundamenten tatsächlich mitzuarbeiten, wie fehlerhaft und instabil sie auch sein mögen, erscheint mir wenn nicht kollaborativ, dann doch zumindest scheinheilig. Deswegen mag ich mich im Rahmen des Gegebenen oft nicht konstruktiv äußern, nehme an tagespolitischen Diskussionen meist nicht ernsthaft teil und habe zu vielen Streitfragen, die scheinbar nur zwei Positionsrichtungen zulassen, eine gänzlich andere Ansicht.

Wie kann man die Chancengleichheit in der Institution Schule anheben? Wie kann man die Transparenz bei Entscheidungen auf Staatsebene fördern? Was ergibt ein Vergleich der verschiedenen Parteiensysteme? Wie kann man die Arbeitsbedingungen von Lohnabhängigen verbessern? Wie hoch sollten die Steuern sein? Keine Ahnung, ist mir scheißegal – denn das sind alles interne Fragestellungen eines Gebildes, dessen Teil ich nicht sein und an dessen Verbesserung ich nicht mitwirken möchte.

Vor einiger Zeit las ich bei der Frankfurter Rundschau ein Zitat, das der Sache irgendwie nahe kommt:

Der linke Romancier und Liedermacher Franz Josef Degenhardt, einst gefeiert wie ein Popstar und bis heute der mit Abstand klügste Chronist und Songschreiber der Republik, lehnt es mit einer denkwürdigen Erklärung ab, von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung noch Gebrauch zu machen: »Ich bin dermaßen dissident zu den herrschenden Verhältnissen und der herrschenden Meinung, in allem uneinverstanden mit dem, was ist, dass der Versuch, außer in meinen Liedern und Erzählungen, einverständlich dies und das Wünschbare zu verdeutlichen, mir – nun nicht gerade als kollaborativ erscheint -, aber doch unmöglich ist. Es wäre, zur Zeit jedenfalls, so unverständlich, wie wenn ein Mister Spock aus einer ganz anderen Galaxie und einer viel späteren Zeit einem jetzigen Erdbewohner seine ganz andere Welt erklären würde, in der es kein Geld und keine Ware gibt, eine Gesellschaft existiert, die auf einer Gebrauchswert- und Bedürfnis-Ökonomie beruht als Voraussetzung für Demokratie und das Ende von Ausbeutung. Und dass sowas mittels Wahlzettel nicht erreichbar ist.«

Konstruktiv sein? Ganz im Gegenteil: Destruktive und unterminierende Kritik an dem, was ist, Aufdeckung von Mythen und sich lustig machen über die existierenden Lächerlichkeiten, das sind Perspektiven, die weitaus sympathischer sind als konstruktive Mitarbeit. Ein solches Vorgehen, selbstverständlich stets gewaltfrei, schafft – das ist das Ziel – Ballast ab, ohne den man dann – danach – wirklich konstruktiv vorgehen kann, denn man kann auf Sand kein stabiles Haus bauen, so sehr man sich auch bemüht, so schön man es auch einrichtet.

Als Denkanregung, auch wenn sich vieles, aber leider nicht das Wesentliche verändert hat:

Wir haben Fehler gemacht, wir legen ein volles Geständnis ab: Wir sind nachgiebig gewesen, wir sind anpassungsfähig gewesen, wir sind nicht radikal gewesen. Wir haben uns um die Immatrikulation beworben, wir haben die Immatrikulationsbestimmungen gelesen, wir haben uns den Immatrikulationsbestimmungen unterworfen. Wir haben Formulare ausgefüllt, die auszufüllen eine Zumutung war. Wir haben über unsere Religionszugehörigkeit Auskunft gegeben, obwohl wir keiner Religion zugehörten. Wir haben für unsere Bewerbung Gründe angeführt, die nicht unsere Gründe waren. Wir haben unsere Zulassung erhalten, wir haben unseren besten Anzug angezogen, wir sind zur Immatrikulationsfeier gegangen. Wir haben uns hingesetzt, haben gewartet, wir wären am liebsten gleich wieder gegangen. Wir haben uns zur Feier des Augenblicks von unseren Plätzen erhoben, obwohl uns die Feierlichkeit des Augenblicks nicht bewußt geworden ist. Wir sind, als unsere Professoren in langen Talaren und schwarzen Käppis erblickten, nicht in ein nicht enden wollendes Gelächter ausgebrochen. Wir haben uns wieder hingesetzt, als wir uns wieder hinsetzen durften. Wir haben die Ansprache des Rektors gehört, wir haben die Ansprache des Dekans gehört, wir haben die Ansprache des Studentenvertreters gehört. Wir haben die Worte der Redner in uns aufgenommen, wir haben ab und zu die Augen geschlossen, wir haben uns jedesmal entschließen müssen, bevor wir gehustet haben, wir sind nicht weiter aufgefallen, wir sind liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen gewesen. Wir haben uns des Vorzugs, ein akademischer Bürger zu sein, versichern lassen, bevor wir das als reinen Vorzug empfanden. Wir haben unsere Universität freie Universität genannt, obwohl wir da gar nicht sicher waren. Wir haben eine Gemeinschaft von Lernenden und Lehrenden gebildet, obwohl diese Gemeinschaft erst noch zu bilden war. Wir haben den Immatrikulationstee getrunken, wir haben unser Studium begonnen, wir haben die Pflichtvorlesungen belegt, wir sind nicht in den SDS eingetreten. Wir haben uns ein Semester lang mit der Frage beschäftigt, warum die Goten das t hauchten und wir haben über einen Franzosen des neunzehnten Jahrhunderts gearbeitet, der seinerseits über einen Römer des zweiten Jahrhunderts gearbeitet hatte. Wir haben mit dieser Arbeit keinen Erfolg gehabt, denn wir haben die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Franzosen des neunzehnten Jahrhunderts, die über einen Römer des zweiten Jahrhunderts gearbeitet haben, nicht gebührend berücksichtigt. Wir sind deprimiert gewesen, wir haben uns zu Recht kritisiert gefühlt, wir haben es das nächste Mal besser gemacht. Wir haben Seminararbeiten gemacht, die zu machen reine Zeitverschwendung war, wir haben Seminarsitzungen protokolliert, die nicht zu protokollieren, sondern nur zu kritisieren waren. Wir haben Tatsachen auswendig gelernt, aus denen nicht das mindeste zu lernen war. Wir haben Prüfungen vorbereitet, die nur der Prüfung unseres Gehorsams dienten. Wir sind nervös geworden, wir sind unlustig geworden, wir sind immer schwieriger geworden, wir litten an mangelnder Konzentration, wir konnten nicht einschlafen, wir konnten nicht beischlafen, wir haben uns einmal ausgesprochen. Wir haben uns sagen lassen, wir müßten erst mal mit uns selber fertig werden. Wir sind mit uns selber fertig geworden.

Wir sind sachlich gewesen, wir sind gehorsam gewesen, wir sind wirklich unerträglich gewesen. Diejenigen, die mit Magnifizenz anzureden waren, haben wir mit Magnifizenz angeredet. Diejenigen, die mit Herr Professor anzureden waren, haben wir mit Herr Professor angeredet. Diejenigen, die mit Herr Doktor anzureden waren, haben wir mit Herr Doktor angeredet. Diejenigen, die mit Herr Professor Doktor Doktor anzureden waren, haben wir mit Herr Professor Doktor Doktor angeredet. Wir wollen es nie wieder tun. Wir haben uns durch schlechte Noten kleinkriegen lassen, wir haben uns durch gute Noten wieder aufmöbeln lassen, wir haben es mit uns machen lassen. Wenn wir bei unserem Professor in der Vorlesung waren, dann haben wir ihm nicht auf die Finger gesehen, wenn wir uns von ihm prüfen ließen, haben wir nicht ins Gesicht gesehen, wenn wir auf dem Klo neben ihm standen, dann haben wir nicht auf seinen Schwanz gesehen. Wir wollen es das nächste Mal tun. Wir haben unser Studium fortgesetzt, wir haben die erforderliche Semesterzahl belegt, wir haben die in uns gesetzten Erwartungen nicht enttäuscht. Wir haben die Gesetze des Strafrechts auswendig gelernt, obwohl wir doch nicht an den Sinn der Bestrafung glauben. Wir haben die Gesetze der zweiten Lautverschiebung gelernt, während andere die Notstandsgesetze verabschiedeten. Wir haben uns zur Gotischprüfung gratulieren lassen, während unser Bundespräsident der südafrikanischen Regierung zu ihrer Rassenpolitik gratulierte. Wir haben an die Freiheit der Wissenschaft geglaubt, wie andere an die Freiheit Südvietnams glauben.

Wir haben es dahin kommen lassen, daß sie uns anläßlich eines Sit-Ins, das sich ausdrücklich gegen die unerträgliche Ruhe und Ordnung an dieser Universität richtete, mit einem Hinweis auf Ruhe und Ordnung zu Ruhe und Ordnung zu bringen versuchten. Wir haben es dahin kommen lassen, daß einer unserer seltenen Spezialisten auf dem Gebiet des Marxismus unsere Aktionen mit denen des Faschismus verwechselt hat, was doch wirklich eine wissenschaftliche Fehlleistung ist. Wir haben uns da offenbar nicht klar ausgedrückt, wir wollen uns jetzt klar ausdrücken. Es geht tatsächlich um die Abschaffung von Ruhe und Ordnung, es geht um undemokratisches Verhalten, es geht darum, endlich nicht mehr sachlich zu sein. Wir haben in aller Sachlichkeit über den Krieg in Vietnam informiert, obwohl wir erlebt haben, daß wir die unvorstellbarsten Einzelheiten über die amerikanische Politik in Vietnam zitieren können, ohne daß die Phantasie unserer Nachbarn in Gang gekommen wäre, aber daß wir nur einen Rasen betreten zu brauchen, dessen Betreten verboten ist, um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen.

Wir haben vollkommen demokratisch gegen die Notstandsgesetze demonstriert, obwohl wir gesehen haben, daß wir sämtliche Ränge des Zivildienstes aufzählen können, ohne irgendeine Erinnerung wachzurufen, aber daß wir nur die polizeilich vorgeschriebene Marschrichtung zu ändern brauchen, um den Oberbürgermeister und die Bevölkerung aus den Betten zu holen. Wir haben ruhig und ordentlich eine Hochschulreform gefordert, obwohl wir herausgefunden haben, daß wir gegen die Universitätsverfassung reden können, soviel und solange wir wollen, ohne daß sich ein Aktendeckel hebt, aber daß wir nur gegen die baupolizeilichen Bestimmungen zu verstoßen brauchen, um den ganzen Universitätsaufbau ins Wanken zu bringen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, daß wir erst den Rasen zerstören müssen, bevor wir die Lügen über Vietnam zerstören können, daß wir erst die Marschrichtung ändern müssen, bevor wir etwas an den Notstandsgesetzen ändern können, daß wir erst die Hausordnung brechen müssen, bevor wir die Universitätsordnung brechen können. Da haben wir den Einfall gehabt, daß das Betretungsverbot des Rasens, das Änderungsverbot der Marschrichtung, das Veranstaltungsverbot der Baupolizei genau die Verbote sind, mit denen die Herrschenden dafür sorgen, daß die Empörung über die Verbrechen in Vietnam, über die Notstandspsychose, über die vergreiste Universitätsverfassung schön ruhig und wirkungslos bleibt.

Da haben wir gemerkt, daß sich in solchen Vorgängen die kriminelle Gleichgültigkeit einer ganzen Nation austobt. Da haben wir es endlich gefressen, daß gegen den Magnifizenzwahn und akademische Sondergerichte, gegen Prüfungen, in denen man nur das Fürchten, gegen Seminare, in denen man nur das Nachschlagen lernt, gegen Ausbildungspläne, die uns systematisch verbilden, gegen Sachlichkeit, die nichts anderes als Müdigkeit bedeutet, gegen die Verketzerung der Emotion, aus der die Herrschenden das Recht ableiten, über die Folterungen in Vietnam mit der gleichen Ruhe reden zu können wie über das Wetter reden zu dürfen, gegen demokratisches Verhalten, das dazu dient, die Demokratie nicht aufkommen zu lassen, gegen Ruhe und Ordnung, in der die Unterdrücker sich ausruhen, gegen verlogene Rationalität und wohlweisliche Gefühlsarmut, – daß wir gegen den ganzen alten Plunder am sachlichsten argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren, und uns hier in den Hausflur auf den Fußboden setzen. Das wollen wir jetzt tun.
(Peter Schneider, 5. Mai 1967 – zitiert nach: Jürgen Miermeister, Joch Staadt (Hrsg.): Provokationen. Die Studenten- und Jugendrevolte in ihren Flugblättern 1965-1971, S. 47ff)

Arbeit ist Scheiße! Bei dieser Aussage handelt es sich um eine selbstverständliche Tatsache, und wäre speziell die deutsche Gesellschaft nicht so verblödet, müßte man sich schämen, eine solche Banalität zu Papier zu bringen.

Wie fortgeschritten diese Verblödung ist, zeigt sich daran, daß die Aussage »Arbeit ist Scheiße!« bei den meisten Zeitgenossen eben kein allgemeines Gähnen hervorruft, sondern komischerweise als Tabu-Bruch aufgefaßt wird. Dieser Tabu-Bruch spaltet die Meinungen. »Arbeit ist Scheiße« ruft bei vielen Zeitgenossen die wütende Frage hervor: »Und wovon willst Du leben?« – als wenn das eine mit dem anderen auch nur das geringste zu tun hätte!

Wenn Ideologen von der »Selbstverwirklichung des Menschen durch Arbeit« faseln, dann lügen sie. Zwar gibt es nicht wenige, für die Arbeit das größte Vergnügen ist, genauso wie es ja immer wieder Idioten gibt, die sich nichts Erregenderes vorstellen können als für Volk und Vaterland den Heldentod zu sterben. Solche Leistungen setzen allerdings jede Menge Erziehung und Moral voraus.

Lohnarbeit unterscheidet sich durch eine wesentliche Eigenschaft von Sklavenarbeit: Die Arbeitskräfte verkaufen sich selber.

Von all diesen Menschenfreunden betreut, kann sich die Arbeitskraft etwas darauf einbilden, die Arbeit auszuhalten. Die jüngeren Exemplare protzen mit ihrer immer wieder steigerungsfähigen Arbeitsgeschwindigkeit, die alten mit ihrer Zuverlässigkeit. Viele trachten danach, sich zum Arbeitsaufseher hochzuschleimen, labern davon, daß es »woanders noch schlimmer sei«, glotzen in ihrer Bildzeitung herum, kotzen sich über den Trainer »ihres« Fußballvereins aus und sind stolz darauf, Arbeiter zu sein.
(Prinzipien und Doktrin des Wissenschaftlichen Pogo-Dogmatismus)