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Wir leben ein paar Augen­bli­cke und tun so rasend wich­tig. Der eine braucht den Aus­druck »Schwer­punkt­the­ma«, der and­re spricht von »musi­ka­li­scher Umrah­mung«, der drit­te sagt: »Anfor­de­rungs­pro­fil«, und sol­che Wör­ter tönen so, als wür­den die, die sie ver­wen­den, ewig leben, und ich kann nicht begrei­fen, war­um der Mund kein Scham­teil ist. Wir leben ein paar Augen­bli­cke und ach­ten doch auf Bügel­fal­ten, und ist ein wei­ches Ei zu hart, macht man Thea­ter. Hier fehlt ein Kom­ma! sagen wir. Und wenn der Hür­li­mann nicht end­lich sei­ne Büsche stutzt! Ich steh auf Küm­mel. Nicht mein Typ. Natur­schwamm oder Kunst­stoff­schwamm? Sie wer­den mich noch ken­nen­ler­nen. Ich zie­he Schrit­te in Erwä­gung, da man beim Schwei­zer Radio die vier­te Stro­phe vie­ler Jodel­lie­der meis­tens abklemmt. Du, ist der Mei­er schwul, er trägt ein selbst­ge­strick­tes Rosa-West­chen. Wir leben ein paar Augen­bli­cke und sind so falsch, so schwatz­haft, so him­mel­schrei­end ober­fläch­lich und tun die gan­ze Zeit die Pflicht, die Pflicht und wer­den dabei schlecht und dumm und grö­len in der Frei­zeit blöd her­um und vögeln rup­pig. Wir haben Mut zu nichts und Angst vor allem, wir ste­hen zei­tig auf und tun die Pflicht und schä­men uns, wenn wir mal lie­gen blei­ben, und wären froh um eine Grip­pe. Die Eska­pa­den­freu­dig­keit nimmt ab, man denkt schon vor der Sün­de an den Kat­zen­jam­mer, uns fehlt nicht nur die Lust, uns fehlt sogar die Lust zur Lust, schon sie gilt als obs­zön, nicht aber der Ver­zicht und nicht die Pflicht und nicht die pau­sen­lo­se fei­ge Füg- und Folg­sam­keit und ihre Fol­ge, die Verblödung.
(Mar­kus Wer­ner – Froschnacht)

Der Erfolg der »Rea­lis­ten« beruht nicht nur auf ihrer Kunst, sich als Füh­rer unent­behr­lich zu machen, son­dern auch auf der Natur des Gehor­sams jener, die sol­che Füh­rer benö­ti­gen, um ihr Selbst abge­ben zu kön­nen. Deren Bedürf­nis nach Anpas­sung rich­tet ihr gesam­tes Sein danach aus, daß sie Regeln erfül­len. Sie hän­gen an den Buch­sta­ben des Geset­zes und der Ver­ord­nun­gen und zer­stö­ren so die Rea­li­tät unse­rer Gefühls­welt. Auf die­se Wei­se brau­chen sie ihre eige­nen zer­stö­re­ri­schen Impul­se nicht zu erken­nen. Sie fin­den oft ihren Ort in der Büro­kra­tie, wo sie im Namen von Gesetz und Ord­nung Gefüh­le nie­der­wal­zen und sich selbst dabei völ­lig im Recht füh­len können.
Die­se Kon­for­mis­ten sind die Fuß­sol­da­ten der psyo­pa­thi­schen Füh­rer­na­tu­ren und hel­fen ihnen, die Welt in den Abgrund zu trei­ben. Die­se Kol­la­bo­ra­ti­on erst macht die Lage so bedroh­lich. 1940 schrieb ein Beam­ter des deut­schen Jus­tiz­mi­nis­te­ri­ums an sei­nen Minis­ter im Hin­blick auf die Eutha­na­sie, daß die­ser doch sei­nen gan­zen Ein­fluß gel­tend machen sol­le, um end­lich dem gesetz­lo­sen Töten von Geis­tes­kran­ken und Behin­der­ten eine gesetz­li­che Basis zu geben. Die Ehre der gesam­ten Jus­tiz ste­he auf dem Spiel.
Das Gewis­sen bedeu­tet hier nichts, ein­zig die Gewis­sen­haf­tig­keit, wie Roland Kir­bach die­se Hal­tung bit­ter kom­men­tier­te. Die Bereit­schaft, die Regeln höher zu ach­ten als das Leben, macht die unhei­li­ge Alli­anz von Kon­for­mist und Psy­cho­path möglich.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Wenn die Pflicht­er­fül­lung durch den sozia­len Druck zur dau­ern­den Antriebs­fe­der wird, ver­stärkt sich fort­wäh­rend die Bereit­schaft, sich dem Wil­len eines ande­ren zu unter­wer­fen. Außer­dem wird immer wei­ter beschnit­ten, was noch vom Gefühl der Eigen­ver­ant­wort­lich­keit – und der Fähig­keit zum Mit­ge­fühl – übrig­ge­blie­ben ist. Pflicht­er­fül­lung wird ein will­kom­me­ner Weg, auf dem man der per­sön­li­chen Ver­ant­wor­tung, die durch Mit­ge­fühl erwa­chen könn­te, ent­kom­men kann. Hat man sich für die Pflicht­er­fül­lung ent­schie­den, so ent­geht man auch dem Schmerz, der von dem eige­nen Mit­ge­fühl her­vor­ge­ru­fen wer­den könn­te. Ein so von der Pflicht beses­se­ner Mensch ist sogar dazu bereit, in treu­er Pflicht­er­fül­lung zu ster­ben – und die­se abs­trak­te Idee hält er für Verantwortlichkeit.

Gehor­sam wird dann zum eigent­li­chen Sinn des Lebens. Es sei an die Kriegs­ver­bre­cher erin­nert, die die­se Ent­schul­di­gung oft vor­brin­gen. Sie soll­ten uns end­lich die Augen öff­nen für die wah­re Bedeu­tung jeder Art von Gehor­sam. Unter dem Deck­man­tel des Befehls gescha­hen alle Arten von Grau­sam­kei­ten und Mord­ta­ten, ohne daß einer die Ver­ant­wor­tung dafür hat über­neh­men müs­sen. In einem gewis­sen Sinn ist die­se Ent­schul­di­gung sogar rich­tig: Die eige­ne See­le hat­te nichts damit zu tun, sie wur­de außer Reich­wei­te des­sen gehal­ten, dem man gehor­sam war. Die­ser trug schließ­lich die Ver­ant­wor­tung. Unter die­ser Vor­aus­set­zung fällt es sol­chen Men­schen auch nicht schwer, die Her­ren zu wechseln.
Nicht selbst die Ver­ant­wor­tung zu tra­gen ist Bestand­teil der Grund­lü­ge. Sie ver­deckt, was die ursprüng­li­che Ent­schei­dung – die Lebens­ent­schei­dung – war: näm­lich sich mit der Unter­wer­fung abzu­fin­den und sein inne­res Leben auf­zu­ge­ben, um an der Macht zu par­ti­zi­pie­ren. An genau die­sem Punkt fällt die Ent­schei­dung dar­über, ob ein Mensch Selbst­ver­ant­wor­tung und die Ver­ant­wor­tung ande­ren gegen­über entwickelt.

Am 27. März 1979 wur­de wäh­rend einer poli­ti­schen Demons­tra­ti­on in der Schweiz ein Schrift­stel­ler von zwei Poli­zis­ten fest­ge­nom­men und zusam­men­ge­schla­gen. Einer der Poli­zis­ten sag­te bei der spä­te­ren Gerichts­ver­hand­lung: »Was wol­len Sie denn von mir? Ich habe mein Leben lang gehorcht, als Kind, als Schü­ler, in der Aus­bil­dung, als Sol­dat und nun als Poli­zist. Ich habe nur mei­ne Befeh­le ausgeführt.«
Hier inter­es­siert nicht so sehr die Tat­sa­che, daß der Poli­zist dann vor Gericht für sich in Anspruch nahm, »auf Befehl« gehan­delt zu haben, son­dern daß er die Ent­wick­lungs­ge­schich­te des Gehor­sams vor­führ­te: Man wächst damit auf, daß man gehor­sam sein muß, nicht aber damit, daß man selbst – und für sich selbst – den­ken und füh­len kann. Und es bleibt ver­bor­gen, daß die­se Ein­übung genau das her­vor­ruft, wovor die Gesell­schaft Angst hat: näm­lich Destruk­ti­vi­tät – vor der sie sich ver­geb­lich durch die Ein­übung in Gehor­sam zu schüt­zen versucht.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)