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Es dau­er­te zwei gan­ze Tage, bis mir so lang­sam klar wur­de, was er wirk­lich zu mir gesagt hat­te. Er wol­le nicht den Teu­fel an die Wand malen, doch es sähe nicht gut aus, hat­te der Arzt mit einem kur­zen Kopf­schüt­teln gemeint, jedoch gleich noch hin­zu­ge­fügt, wahr­schein­lich um der Aus­sa­ge etwas von ihrer Bedroh­lich­keit zu neh­men, ein end­gül­ti­ges Ergeb­nis kön­ne er mir erst in eini­gen Tagen mit­tei­len. Wie schlimm denn „nicht gut“ sei, hat­te ich gefragt, und er ant­wor­te­te bloß knapp, im schlimms­ten Fall stün­den die Chan­cen nicht sehr gut, dass ich das Ende des Jah­res noch erle­ben wür­de, soll­te die genaue Unter­su­chung sei­ne Ver­mu­tung denn bestä­ti­gen. Viel­leicht war er etwas vor­schnell, doch ich schätz­te sei­ne Auf­rich­tig­keit, denn die meis­ten Ärz­te hät­ten sich davor gedrückt, solch eine Ver­mu­tung offen aus­zu­spre­chen, solan­ge sie nicht über eine defi­ni­ti­ve Dia­gno­se ver­füg­ten, um, wie sie sagen wür­den, ihre Pati­en­ten nicht unnö­tig zu ver­ängs­ti­gen. Zwei Tage spä­ter saß ich in einem Bus, es war Nach­mit­tag, und erst da begriff ich plötz­lich, wie mei­ne Per­spek­ti­ven sich ver­än­dert hat­ten. Ich wür­de viel­leicht ster­ben, und zwar sehr bald.
Ich sprach mit nie­man­dem dar­über, außer mit mei­nen Eltern. Wie­so auch? Noch stand das Ergeb­nis gar nicht fest und ich woll­te nie­man­den unnö­tig beun­ru­hi­gen, also ver­hielt ich mich wie jene Ärz­te, die ihre Pati­en­ten erst ein­mal im Dun­keln las­sen. Ich hät­te es nicht ertra­gen, von Freun­den oder den­je­ni­gen Men­schen, die sich dafür hiel­ten, mit­lei­di­ge Bli­cke und wohl­mei­nen­den Zuspruch zu erhal­ten, der bes­ten­falls gut gemeint und im schlimms­ten Fall ein­fach nur lächer­lich ist. Nein, ich behielt es für mich, denn es han­del­te sich ja um eine höchst pri­va­te Ange­le­gen­heit, die zual­ler­erst bloß mich etwas anging. Und wie sie mich etwas anging!
Was in mir geschah, nach­dem ich erst ein­mal begrif­fen hat­te, wie mei­ne Chan­cen stan­den und dass ich viel­leicht bald ster­ben wür­de, kann ich gar nicht so genau beschrei­ben. Es war jedoch nicht wirk­lich schlecht, was in mir vor­ging, so wie man es viel­leicht von jeman­dem erwar­ten wür­de, der dem Tod ins Auge blickt, denn genau das tat ich ja, mehr oder weni­ger. Ich ver­fiel nicht in tie­fe Depres­si­on, ich wur­de weder apa­thisch und hoff­nungs­los, noch begann ich plötz­lich, mich für Extrem­sport zu inter­es­sie­ren, um auf die letz­ten Tage noch mög­lichst vie­le Kicks zu bekom­men. Ich blieb, wenn man das so sagen kann, ober­fläch­lich betrach­tet ziem­lich normal.
Unter der Ober­flä­che jedoch voll­zog sich ein Wan­del, der zwar nicht beson­ders spek­ta­ku­lär erschien, aber mei­nem Leben eine gewis­se neue Rich­tung geben soll­te. Bis­lang hat­te ich ein Leben geführt, das sich in der Regel dar­an ori­en­tier­te, den Weg des gerings­ten Wider­stands zu gehen und mög­lichst wenig auf­zu­fal­len, weil Auf­fal­len in der Regel bedeu­te­te, ziem­lich schnell in Situa­tio­nen zu gera­ten, die sich zu Pro­ble­men ent­wi­ckeln könn­ten. Ich war der Mann, der immer da, aber nie dabei sein woll­te, der immer anwe­send, aber nie betei­ligt war. Das soll­te sich ändern.
Es gab da eine Frau. Ich wür­de nicht so weit gehen zu sagen, dass ich in sie ver­liebt gewe­sen sei. Ein wenig viel­leicht. Mehr woll­te ich mir nicht erlau­ben, weil es zu Pro­ble­men hät­te füh­ren kön­nen. Wir gin­gen eini­ge Male aus, ja, aber nur unter Vor­wän­den, nur mit Beglei­tung, und nie fiel das Wort Date, geschwei­ge denn ein Kuss. An schlech­ten Tage fühl­te ich mich fei­ge und hass­te mich dafür, nicht den Mut auf­zu­brin­gen, sie ein­fach zu küs­sen, doch an guten Tagen klopf­te ich mir auf die Schul­ter, die Sache nicht noch wei­ter zu ver­tie­fen, wür­de sie doch sowie­so in einer Kata­stro­phe oder auf eine ande­re pein­li­che Art enden, aber jeden­falls enden. Es gab Men­schen in mei­nem Leben, zu denen ich freund­lich war, obwohl ich sie nicht aus­ste­hen konn­te. Mein Chef zum Bei­spiel, um ein Kli­schee zu erfül­len, denn wer mag schon sei­nen Chef, aber auch Leu­te in mei­nem Freun­des­kreis, Freun­de von Freun­den, irgend­wel­che Bekann­te sowie natür­lich die­je­ni­gen, von denen man sich erhofft, für die gespiel­te Freund­lich­keit irgend­wann ein­mal etwas zurück­zu­be­kom­men. Ich war ordent­lich und brav, könn­te man sagen, denn ich erfüll­te Auf­ga­ben, die mir zuge­tra­gen wur­den, in der Regel ohne zu mur­ren, befolg­te die Regeln, auch wenn sie mir noch so unsin­nig erschie­nen, wag­te nichts und ord­ne­te mich unter, wo es nur ging, weil alles ande­re nur wie­der zu Pro­ble­men geführt hät­te. Es war kein unan­ge­neh­mes Leben, doch es war ein Leben, das mich auch nicht wirk­lich befrie­dig­te. Ich ließ mich treiben.
Nach den Wor­ten des Arz­tes jedoch war alles anders. Mei­ne Per­spek­ti­ve, mei­ne Rol­le in der Welt und auch mei­ne Selbst­be­trach­tung hat­ten sich ver­än­dert. Ich wür­de viel­leicht bald ster­ben. Haben wir nicht alle die­sen Gedan­ken in uns, schlicht und ein­fach das zu tun, was uns wirk­lich glück­lich macht, wenn wir nur noch einen Tag zu leben hät­ten. Wenn es für mich auch nicht ein ein­zel­ner sein soll­te, so schie­nen mei­ne Tage doch gezählt. Wie lan­ge hät­te ich noch gehabt? Sechs Mona­te? Ein Jahr? Was ist in einem sol­chen Fall schon der Unter­schied zwi­schen einem Tag und einem Jahr? Oder anders gefragt: Was ist der Unter­schied zwi­schen einem Tag und einem Leben? Wie­so tra­gen wir die­se Vor­stel­lung mit uns her­um, wir wür­den plötz­lich alles ganz anders leben und erle­ben, wenn wir wüss­ten, es wäre unser letz­ter Tag? Wenn ich mor­gen ganz unspek­ta­ku­lär in der Dusche aus­rut­schen soll­te, wäre mein letz­ter Tag dann nicht der heu­ti­ge, also belie­big? Immer und nie zugleich? War­um ändern so vie­le Men­schen ihr Leben, wenn sie ein mehr oder weni­ger vages Datum für ihren Tod erfah­ren? Ver­brin­gen wir unse­re Leben viel­leicht so unglück­lich, so unbe­frie­di­gend, so leer, weil wir glau­ben, wir leb­ten für immer, wir könn­ten alles noch irgend­wann nach­ho­len, was wir ver­säu­men – und erst das bal­di­ge Ende, die­ser Gedan­ke an End­lich­keit bringt uns dazu, unser Leben wahr­haft zu genie­ßen, wenn es dafür schon fast zu spät ist? Ich weiß es nicht.
Was ich jedoch wuss­te, war, mein Leben soll­te anders wer­den. Ich woll­te die weni­ge Zeit, die mir viel­leicht noch blieb, sinn­voll nut­zen, sinn­vol­ler als bis­her. In mei­nem Kopf mal­te ich mir aus, wie mein Leben in Zukunft aus­se­hen soll­te. Zual­ler­erst wür­de ich sie anru­fen und um ein Date bit­ten, ein kla­res, ein­deu­ti­ges Date, um dem vor­sich­ti­gen Antas­ten end­lich ein Ende zu berei­ten. Es wäre ris­kant, natür­lich, so wie jede Lie­bes­er­klä­rung, aber ich hat­te nichts mehr zu ver­lie­ren. Vor mei­nem Chef wür­de ich nicht län­ger krie­chen, wenn er mich für sei­ne eige­ne Inkom­pe­tenz bestraft. Anstatt zu heu­cheln, wür­de ich immer mei­ne ehr­li­che Mei­nung zum Aus­druck brin­gen, auch wenn sie eini­gen Men­schen viel­leicht nicht gefal­len mag. Ich wür­de die­je­ni­gen mei­den, die mir nicht gut­tun, und wür­de mir Zeit für Men­schen und Din­ge neh­men, die mir beson­ders am Her­zen lie­gen. Ich wür­de ein bes­se­rer Freund sein, ein bes­se­rer Sohn, ein bes­se­rer Lieb­ha­ber, ein bes­se­rer Mensch. Das war es, was ich mir vor­stell­te, was in mir brann­te. Ich wür­de, wenigs­tens auf mei­ne letz­ten Tage, end­lich das Leben füh­ren, das ich schon die gan­ze Zeit hät­te füh­ren sollen.
Drei Tage spä­ter erhielt ich die Ergeb­nis­se. Der Arzt sag­te zu mir, ich hät­te rie­si­ges Glück, und was er damit mein­te, war wohl, ich bekä­me mein ewi­ges, unda­tier­tes Leben zurück. Ich ging nach Hau­se, setz­te mich auf mei­ne Couch und ver­ar­bei­te­te, was eben gesche­hen war. Ich dach­te an die Frau, mit der ich schon seit lan­ger Zeit so ger­ne aus­ge­hen wür­de, und ver­teu­fel­te mich dafür, sie noch immer nicht ange­ru­fen zu haben. Dann end­lich nahm ich das Tele­fon in die Hand, wähl­te die Num­mer mei­ner Eltern, erzähl­te ihnen die gute Nach­richt, und führ­te mein Leben wei­ter­hin wie zuvor.

Freie Zeit gilt hier als Plage,
birgt sie Raum doch für Gedanken,
die sind stö­rend, gar verachtet,
brin­gen Welt­bil­der ins Wanken.

(2009)

Eines der wich­tigs­ten Prin­zi­pi­en, das man erler­nen soll­te, wenn man sich – ob als Sozio­lo­ge oder ganz all­ge­mein – mit gesell­schaft­li­chen Phä­no­me­nen aus­ein­an­der­setzt und dabei Argu­men­ten, Sta­tis­ti­ken, Erklä­run­gen, Beschrei­bun­gen, Insti­tu­tio­nen, Tra­di­tio­nen oder Hand­lungs­wei­sen begeg­net, die auf den ers­ten Blick plau­si­bel und ein­leuch­tend erschei­nen, fasst fol­gen­de Aus­sa­ge recht prä­gnant zusammen:

I’m try­ing to break you of the habit of auto­ma­ti­cal­ly say­ing, „Yes, this makes sen­se. I’ll accept it.“ I’m try­ing to train you to pau­se and say, „Yes, this seems to make sen­se. But does it?“
(Dani­el Quinn – If They Give You Lined Paper, Wri­te Sideways)

Wir sind es gewohnt, ein der­art skep­ti­sches Ver­hal­ten an den Tag zu legen, wenn uns etwas ein wenig merk­wür­dig, zwei­fel­haft oder gar falsch vor­kommt. Weit­aus span­nen­der, weil grö­ße­ren Erkennt­nis­ge­winn ver­spre­chend, ist es aller­dings, die­ses Ver­hal­ten auch und gera­de bei den­je­ni­gen Phä­no­me­nen und Mecha­nis­men anzu­wen­den, die uns auf den ers­ten Blick, aus Gewohn­heit oder auf­grund des gesun­den Men­schen­ver­stands als durch­aus ver­nünf­tig erschei­nen – weil sie es näm­lich oft gar nicht sind, son­dern bloß so erschei­nen, da sie nie in Fra­ge gestellt werden.

Die ers­te Hand­lung des For­schers ist, die Fra­gen des gesun­den Men­schen­ver­stands (…) zu destru­ie­ren, sie völ­lig anders neu zu stellen.
(Pierre Bour­dieu – Was anfan­gen mit der Sozio­lo­gie?, in: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht)