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Ich glau­be, nie­mand möch­te die sozia­le Welt so sehen, wie sie ist; es gibt vie­le Arten, sie zu ver­leug­nen; es gibt die Kunst, natür­lich. Aber es gibt auch eine Form von Sozio­lo­gie, die die­ses bemer­kens­wer­te Ergeb­nis zustan­de­bringt, näm­lich von der sozia­len Welt zu reden, als rede­te sie nicht von ihr (…). Die Ver­nei­nung im Freud­schen Sin­ne ist eine Form von Eska­pis­mus. Wenn man vor der Welt, wie sie ist, flie­hen will, kann man Musi­ker wer­den, Phi­lo­soph, Mathe­ma­ti­ker. Aber wie flieht man vor ihr, wenn man Sozio­lo­ge ist? Es gibt Leu­te, die das schaf­fen. Man braucht nur mathe­ma­ti­sche For­meln zu schrei­ben, Spiel­theo­rie­übun­gen oder Com­pu­ter­si­mu­la­tio­nen durch­zu­ex­er­zie­ren. Wenn man wirk­lich die Welt wenigs­tens ein biß­chen so sehen und so über sie reden will, wie sie ist, dann muß man akzep­tie­ren, daß man sich immer im Kom­pli­zier­ten, Unkla­ren, Unrei­nen, Unschar­fen usw. und also im Wider­spruch zu den gewöhn­li­chen Vor­stel­lun­gen von Wis­sen­schaft­lich­keit befindet.
(Pierre Bour­dieu – „Inzwi­schen ken­ne ich alle Krank­hei­ten der sozio­lo­gi­schen Ver­nunft“, in: Pierre Bour­dieu, Jean-Clau­de Cham­bo­re­don und Jean-Clau­de Pas­se­ron – Sozio­lo­gie als Beruf)

Damit die am meis­ten Begüns­tig­ten begüns­tigt und die am meis­ten Benach­tei­lig­ten benach­tei­ligt wer­den, ist es not­wen­dig wie hin­rei­chend, dass die Schu­le beim ver­mit­tel­ten Unter­richts­stoff, bei den Ver­mitt­lungs­me­tho­den und ‑tech­ni­ken und bei den Beur­tei­lungs­kri­te­ri­en die kul­tu­rel­le Ungleich­heit der Kin­der (…) igno­riert. Anders gesagt, indem das Schul­sys­tem alle Schü­ler, wie ungleich sie auch in Wirk­lich­keit sein mögen, in ihren Rech­ten wie Pflich­ten gleich behan­delt, sank­tio­niert es fak­tisch die ursprüng­li­che Ungleich­heit gegen­über der Kul­tur. Die for­ma­le Gleich­heit, die die päd­ago­gi­sche Pra­xis bestimmt, dient in Wirk­lich­keit als Ver­schleie­rung und Recht­fer­ti­gung der Gleich­gül­tig­keit gegen­über der wirk­li­chen Ungleich­heit in Bezug auf den Unter­richt und der im Unter­richt ver­mit­tel­ten oder, genau­er gesagt, ver­lang­ten Kul­tur. (…) Indem die Schu­le den Indi­vi­du­en nur deren Posi­ti­on in der sozia­len Hier­ar­chie genau ent­spre­chen­de Erwar­tun­gen an die Schu­le zuge­steht und unter ihnen eine Aus­wahl trifft, die unter dem Anschein der for­ma­len Gleich­heit die exis­tie­ren­den Unter­schie­de sank­tio­niert und kon­se­kriert, trägt sie ineins zur Per­p­etu­ie­rung wie zur Legi­ti­mie­rung der Ungleich­heit bei. Indem sie gesell­schaft­lich beding­ten, von ihr aber auf Bega­bungs­un­ter­schie­de zurück­ge­führ­ten Fähig­kei­ten eine sich »unpar­tei­isch« geben­de und als sol­che weit­hin aner­kann­te Sank­ti­on erteilt, ver­wan­delt sie fak­ti­sche Gleich­hei­ten in recht­mä­ßi­ge Ungleich­hei­ten, wirt­schaft­li­che und gesell­schaft­li­che Unter­schie­de in eine qua­li­ta­ti­ve Dif­fe­renz und legi­ti­miert die Über­tra­gung des kul­tu­rel­len Erbes. (…) Indem [das Bil­dungs­sys­tem] den kul­tu­rel­len Ungleich­hei­ten eine for­mell mit den demo­kra­ti­schen Idea­len über­ein­stim­men­de Sank­ti­on erteilt, lie­fert es die bes­te Recht­fer­ti­gung für die­se Ungleichheiten.
(Pierre Bour­dieu – Die kon­ser­va­ti­ve Schu­le, in: Wie die Kul­tur zum Bau­ern kommt)

Wenn ich eine der vie­len Polit- oder Gesell­schafts-Talk­shows sehe, womit nicht deren wenig ernst­zu­neh­men­de nach­mit­täg­li­che Deri­va­te auf den pri­va­ten Sen­dern gemeint sind, rege ich mich meist recht schnell auf. Es ist rela­tiv egal, ob die Dis­kus­si­on sich dabei um poli­ti­sche, um gesell­schaft­li­che oder um per­sön­li­che The­men dreht und ob ich mich mit einer Sei­te der Dis­kus­si­on iden­ti­fi­zie­ren kann oder nicht. Was mich auf­regt, ist der jewei­li­ge Drang, alle ande­ren mit mis­sio­na­ri­schem Eifer von der eige­nen Posi­ti­on und der eige­nen Art zu leben über­zeu­gen zu wol­len. Vege­ta­ri­er wol­len Fleisch­esser zu Vege­ta­ri­ern kon­ver­tie­ren, Fau­len­zer wol­len Kar­rie­re­men­schen zum locke­ren Leben erzie­hen, Opern­gän­ger dif­fa­mie­ren DSDS-Gucker ob ihrer Kul­tur­lo­sig­keit und jeweils ent­spre­chend umge­kehrt. War­um eigentlich?

Ich strei­te ger­ne mit ande­ren Leu­ten über The­men, bei denen wir uns nicht einig sind. Es macht Spaß und erwei­tert den eige­nen Hori­zont. Von außen ist das, was ich tue, für einen objek­ti­ven Beob­ach­ter wahr­schein­lich nur schwer von Über­zeu­gungs­ar­beit zu unter­schei­den (und viel­leicht tue ich des­we­gen den beschrie­be­nen Per­so­nen teil­wei­se unrecht), doch mei­ne eige­ne Moti­va­ti­on dazu ist kei­nes­wegs das mis­sio­na­ri­sche Bestre­ben, den ande­ren von mei­ner indi­vi­du­el­len Posi­ti­on zu über­zeu­gen und das Gan­ze ideo­lo­gisch womög­lich noch mit der ver­meint­li­chen Erzie­hung zu einer bes­se­ren Welt auf­zu­la­den, wie es so oft prak­ti­ziert wird, son­dern eine weit­aus egoistischere:

Ich möch­te für mich selbst – und zwar nur für mich selbst – die bes­te Art zu leben fin­den, die ich ger­ne guten Gewis­sens lebe und die mir sowohl Spaß als auch ein befrie­di­gen­des Leben ermög­licht, so schwam­mig und banal das nun auch klin­gen mag. Außer­dem hilft es mir, mei­ne Mit­men­schen und ihre eige­ne Art zu leben bes­ser zu verstehen.

Es gibt kei­nen einen rich­ti­gen Weg zu leben, der für alle Men­schen all­ge­mein­gül­tig ist. Alle ande­ren von mei­ner Art zu leben, mei­nen Stand­punk­ten und mei­nen Mei­nun­gen über­zeu­gen zu wol­len, spricht für mich recht deut­lich von einer into­le­ran­ten Grund­hal­tung und über­schät­zen­der Ver­herr­li­chung der eige­nen Positionen.

Des­we­gen lie­be ich es, mit Men­schen zu dis­ku­tie­ren, die eine völ­lig ande­re Mei­nung ver­tre­ten als ich selbst. Ich dis­ku­tie­re ger­ne mit Par­tei­mit­glie­dern jeg­li­cher Art, mit Vega­nern, mit fun­da­men­ta­lis­ti­schen Gen­tech­nik­geg­nern oder ‑befür­wor­tern, mit Gläu­bi­gen und mit Anhän­gern eines völ­lig frei­en Mark­tes, mit Befür­wor­tern von Stu­di­en­ge­büh­ren und mit unbeug­sa­men Glo­ba­li­sie­rungs­geg­nern genau­so wie mit den Advo­ka­ten glo­ba­ler Aus­beu­tung, weil ich mit jeder die­ser Dis­kus­sio­nen her­aus­fin­den möch­te, wel­che Argu­men­te der ande­re vor­brin­gen kann, über wel­che Erfah­run­gen er ver­fügt, wie er zu sei­ner Mei­nung gekom­men ist und wie kon­se­quent er sie ver­tre­ten kann. Letzt­lich also, um her­aus­zu­fin­den, wie über­zeu­gend er ist. Nicht pri­mär, weil ich ihn über­zeu­gen möch­te, son­dern weil er viel­leicht Argu­men­te her­vor­bringt, die ich nach­voll­zie­hen kann, die mir sinn­voll und stich­hal­tig erschei­nen oder mich wenigs­tens ins Grü­beln brin­gen, die mir letzt­end­lich also hel­fen, mei­ne eige­nen Posi­tio­nen, Mei­nun­gen und Über­zeu­gun­gen fun­diert zu unter­mau­ern oder zu hin­ter­fra­gen und damit schließ­lich dazu bei­tra­gen, mei­nen eige­nen, für mich – und nur für mich – bes­ten Weg zu finden.

Wenn ich allei­ne etwas dar­aus mit­neh­me, ist das bereits gut, doch wenn idea­ler­wei­se alle betei­lig­ten Dis­ku­tan­ten im Zuge als auch in Fol­ge der Dis­kus­si­on ihre Posi­tio­nen kri­tisch reflek­tie­ren, ist das ein vol­ler Erfolg, denn nicht mehr und nicht weni­ger ist dabei mein vor­nehm­li­ches Ziel. Wenn einer oder meh­re­re der Betei­lig­ten, das beinhal­tet selbst­ver­ständ­lich auch mich selbst, infol­ge­des­sen ihre Mei­nung ändern, ist das ein will­kom­me­ner Effekt, denn wir alle ler­nen stän­dig dazu, aber nicht wesent­li­cher Antrieb und soll­te das auch nicht sein.

Der Unter­schied klingt ent­we­der tri­vi­al oder höchst kom­plex, denn es geht dar­um, poten­ti­ell über­zeu­gend zu sein, also die eige­ne Mei­nung kon­sis­tent, fun­diert, kon­se­quent und über­zeugt zu ver­tre­ten, ohne über­zeu­gen, ohne mis­sio­nie­ren zu wol­len, dabei aber immer offen für eige­ne Über­zeu­gung durch neue Argu­men­te zu sein.

Über­zeu­gungs­ar­beit ist immer Macht­durch­set­zung. Wer behaup­tet, DSDS-Gucker ver­füg­ten über kein Ver­ständ­nis für Kul­tur und Fau­len­zer wür­den ihr Leben ver­schwen­den, übt damit Macht aus, indem er die Deu­tungs­ho­heit anstrebt und durch­zu­set­zen ver­sucht, was unter legi­ti­mer Kul­tur und Lebens­füh­rung zu ver­ste­hen sei. Alle, die nicht die­sen Vor­stel­lun­gen ent­spre­chen, wer­den dadurch im- oder gar expli­zit für fehl­ge­lei­tet und ihre Lebens­wei­se für falsch erklärt, wohin­ge­gen die eige­ne stets die rich­ti­ge – die angeb­lich eine rich­ti­ge – ist. Wie so vie­les dreht sich hier­bei alles um Macht und weni­ger um Fra­gen per­sön­li­cher Vor­lie­ben, als die es kaschiert wird, denn gin­ge es ledig­lich um per­sön­li­che Vor­lie­ben, bestün­de nicht das Bestre­ben, ande­re von eben die­sen über­zeu­gen zu wollen.

Das ein­zi­ge – und hier wird es para­dox -, wovon ich ande­re über­zeu­gen möch­te, ist auf der einen Sei­te, dass es ein unver­nünf­ti­ges, weil ten­den­zi­ell tota­li­tä­res Unter­fan­gen ist, ande­re ver­bis­sen von der eige­nen Art zu leben über­zeu­gen zu wol­len, sowie auf der ande­ren Sei­te, offen für Über­zeu­gung durch Argu­men­te zu blei­ben, denn sonst ver­rennt man sich in Fundamentalismus.

Man kann im Prenz­lau­er Berg ein­fach im lin­ken Habi­tus wei­ter­le­ben. Das ist ja das Schö­ne. Man kann sich tole­rant füh­len, weil Tole­ranz nicht auf die Pro­be gestellt wird. (…) Der Schrift­stel­ler Maxim Bil­ler nennt den Prenz­lau­er Berg mitt­ler­wei­le iro­nisch eine »natio­nal befrei­te Zone«.

Der Prenz­lau­er Berg wirkt vie­ler­orts, als habe es nie so etwas wie eine Unter­schich­ten­de­bat­te gege­ben, ein Demo­gra­fie­pro­blem, Migra­ti­on. Hier herrscht der Bio­na­de-Bie­der­mei­er. Die 100000 Zuge­zo­ge­nen haben eine neue Stadt geschaf­fen, doch wem kommt die­se zivi­li­sa­to­ri­sche Leis­tung zugu­te, außer ihnen selbst? Ihr Prenz­lau­er Berg ist ein Ghet­to, das ohne Zaun aus­kommt – weil es auch ohne zuneh­mend her­me­tisch wirkt. Die Zuwan­de­rung wird über den Preis pro Qua­drat­me­ter gesteu­ert und über den enor­men Anpas­sungs­auf­wand, dem man sich hier leicht aus­setzt. Wer nicht das Rich­ti­ge isst, trinkt, trägt, hat schnell das Gefühl, der Fal­sche für die­sen Ort zu sein. Man glaubt so offen zu sein und hat sich eingeschlossen.

Zwar ist Milieu­bil­dung ein nor­ma­les sozia­les Phä­no­men, welt­weit sor­tie­ren sich die Men­schen nach Lebens­stil, Bil­dung, Ver­mö­gen – das Beson­de­re am Prenz­lau­er Berg aber ist, dass er nicht wahr­ha­ben will, dass er ganz anders ist, als er zu sein glaubt.
(Hen­ning Suß­e­bach bei ZEIT Online)

Wie Chris­ti­an Ulmen es so tref­fend auf den Punkt gebracht hat:

Die Defi­ni­ti­on von Spie­ßig­keit ist für mich, sobald jemand nicht in der Lage ist, über sei­nen Tel­ler­rand hin­aus­zu­schau­en. Wenn jemand into­le­rant ist und ande­res nicht zulässt, ist er ein Spie­ßer. Das ist der Haus­meis­ter, der nicht will, dass man drau­ßen Fuß­ball gegen die Gara­gen­to­re spielt, weil es so laut ist. Oder die Oma, die sich wahn­sin­nig dar­über auf­regt, weil ein Pun­ker einen Iro­ke­sen­haar­schnitt hat, weil sich das nicht anschickt. Das Leben der ande­ren nicht zu akzep­tie­ren – das ist spie­ßig, mei­ne ich.
(Chris­ti­an Ulmen bei Spie­gel Online)

Sie haben sich immer über die bie­de­ren Schlips­trä­ger und Hosen­an­zug­trä­ge­rin­nen lus­tig gemacht, die bei Ban­ken, Ver­si­che­run­gen und Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen arbei­ten oder bei ande­ren, genau­so mie­fi­gen wie lang­wei­li­gen Fir­men unter­ge­kom­men sind und dort ihr trost­lo­ses Dasein ver­rich­ten. Das war ihre Sicht­wei­se. So woll­ten sie nie enden, die­se Per­spek­ti­ve haben sie stets ver­ab­scheut. Nun arbei­ten sie selbst bei sol­cher­art Ban­ken, Ver­si­che­run­gen, Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen, Markt­for­schungs­in­sti­tu­ten oder in ähn­li­chen Fel­dern, die den glei­chen kal­ten Charme ver­sprü­hen, oder stre­ben es an, das zu tun. Warum?

Ver­än­dert haben sie sich nicht. Das ist das Trau­rigs­te dar­an. Hät­ten sie sich geän­dert, hät­ten sie ihre frü­he­ren Über­zeu­gun­gen über Bord gewor­fen, ja pla­ka­tiv aus­ge­drückt sie sozu­sa­gen ver­ra­ten, so wäre das – aus mei­ner per­sön­li­chen mora­li­schen Per­spek­ti­ve – zwar äußerst scha­de, jedoch kon­se­quent und hät­te es ver­dient, respek­tiert zu wer­den. Genau das ist jedoch nicht der Fall. Unver­än­dert gilt ihr Spott und Hohn den Lang­wei­lern und Spie­ßern, wie sie sagen, die in all den seriö­sen Berufs­fel­dern von Ban­ken bis zu Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen ihr Geld ver­die­nen, und auch wei­ter­hin gehen sie mit der Ver­ach­tung der Wer­te hau­sie­ren, die die­je­ni­gen Insti­tu­tio­nen ver­tre­ten, für die sie nun selbst tätig sind. Dass sie selbst dazu­ge­hö­ren, wis­sen sie, und doch ist ihr Ver­hal­ten kein Aus­druck von kri­ti­scher Selbst­iro­nie. Sie sind nicht gewor­den, wer sie nie wer­den woll­ten, son­dern sie spie­len eine Rol­le, sie insze­nie­ren sich, ver­kau­fen sich, zie­hen Mas­ken auf.

Auf der einen Sei­te haben sie ihre Über­zeu­gun­gen behal­ten, doch auf der ande­ren Sei­te agie­ren sie genau ent­ge­gen­ge­setzt. Ihre Über­zeu­gun­gen sind Sonn­tags­über­zeu­gun­gen gewor­den, die unter der Woche in den Schrank gestellt wer­den, und sie selbst haben durch den Druck der öko­no­misch-rea­len Situa­ti­on eine kom­pli­zier­te Aus­prä­gung mul­ti­pler Per­sön­lich­kei­ten und mora­li­scher Fle­xi­bi­li­tät ent­wi­ckelt, die es ihnen erlaubt, meh­re­re sich wider­spre­chen­de Pake­te aus Hand­lungs­mus­tern, Idea­len und Über­zeu­gun­gen in der eige­nen Per­son zu vereinen.

Sie über­neh­men eine Rol­le. Sie haben ein Dreh­buch zuge­schickt bekom­men, das ihnen nicht gefällt, des­sen ihnen zuge­spro­che­ne Rol­le sie inner­lich eigent­lich ableh­nen – und doch spie­len sie sie. An frei­en Tagen läs­tern sie mit ihren Freun­den und Bekann­ten über das, was sie an Arbeits­ta­gen selbst ver­kör­pern. Wenn jemand auf einer Par­ty sei­ne Ansicht zum Aus­druck bringt, er fän­de Arbeit zum Kot­zen, dann fin­den sie das super, so rich­tig unter­stüt­zens­wert, sie klop­fen dem Muti­gen soli­da­risch auf die Schul­ter und geben ihm Recht. Doch wenn am dar­auf­fol­gen­den Mon­tag ein Kol­le­ge mit der glei­chen Ein­stel­lung am Arbeits­platz erscheint und dafür Ärger kas­siert, rau­nen sie bloß noch „der Idi­ot ist selbst schuld!“ und wen­den sich kopf­schüt­telnd ihrer Arbeit zu.

Sie sind kei­ne Heuch­ler – in unter­schied­li­chen Situa­tio­nen glau­ben sie tat­säch­lich ver­schie­de­ne, teils dia­me­tral gegen­sätz­li­che Din­ge und ver­tre­ten ein­an­der wider­spre­chen­de Ansich­ten, ohne die­se Wider­sprüch­lich­keit bewusst zu erfas­sen. Kurz: Ihre neue Rol­le ver­bie­tet es, eine authen­ti­sche Per­sön­lich­keit zum Aus­druck zu brin­gen, ihre Per­sön­lich­keit, son­dern spal­tet die eige­ne Iden­ti­tät in meh­re­re ver­schie­de­ne Schein-Iden­ti­tä­ten auf, die stets dort wirk­sam sind und die eige­ne Per­son mög­lichst ertrag­reich ver­kau­fen, wo sie als ange­mes­sen erschei­nen. Befeu­ert wird der­ar­ti­ges Ver­hal­ten durch wider­sprüch­li­che gesell­schaft­li­che Anfor­de­run­gen, wie etwa Pla­nungs­kom­pe­tenz und Risi­ko­be­reit­schaft, Fle­xi­bi­li­tät und Ver­läss­lich­keit, Kon­sum­freu­dig­keit und Abs­ti­nenz, Frei­heit und Kon­for­mi­tät, Team­fä­hig­keit und Ego­is­mus, Fami­li­en­sinn und stän­di­ge Mobilität.

Die­ses Ver­hal­ten drückt dabei nicht bloß die harm­lo­se Anpas­sung an äuße­re Umstän­de aus, wie sie in jeder Situa­ti­on vor­han­den ist, son­dern ver­kör­pert das all­ge­gen­wär­ti­ge Sich-Ver­kau­fen und die damit ver­bun­de­ne und stets mit­schwin­gen­de Selbstreg(ul)ierung, die dafür sorgt, sich aus Angst vor nega­ti­ven Kon­se­quen­zen, bei­spiels­wei­se von Sei­te des Arbeits­ge­bers, in jeder Situa­ti­on den Anfor­de­run­gen ent­spre­chend zu ver­mark­ten. Wer sich nicht rich­tig ver­kauft, also sich selbst zur Ware erklärt und die eige­ne Ver­wert­bar­keit auto­nom maxi­miert und ent­spre­chend anpreist, sei es nun am Arbeits­platz, in der Dis­co oder in der Uni­ver­si­tät, gilt als hoff­nungs­lo­ser Verlierer.

Jeder steht dabei für sich allei­ne, denn so muss es sein. In der Welt der Selbst­dar­stel­lung und des Sich-selbst-Ver­kau­fens ist jeder ande­re der poten­ti­el­le Feind, der sich schließ­lich eben­falls mög­lichst erfolg­reich ver­kau­fen möch­te. Mit­men­schen wer­den redu­ziert auf Kon­kur­ren­ten. Die­se para­no­ide Atmo­sphä­re des stän­di­gen Miss­trau­ens und der Angst pro­du­ziert ein Ver­hal­ten, das sich schließ­lich auch auf die eige­ne Per­sön­lich­keit und das Ver­hält­nis zu den Mit­men­schen aus­wirkt und dort selbst das Ver­hält­nis zu den­je­ni­gen mit zuneh­men­der Distanz belegt, die einem eigent­lich am nächs­ten ste­hen. Die ego­is­ti­schen und kal­ku­lie­rend-ratio­na­len Durch­set­zungs­stra­te­gien, die im Berufs­le­ben zumeist nahe­ge­legt oder gar auf­ge­zwun­gen wer­den, trans­por­tie­ren sich bis ins Pri­va­te, wo sie sich in der aus­tausch­ba­ren Unver­bind­lich­keit kühl berech­nen­der Ver­hält­nis­se zum Mit­men­schen niederschlagen.

Freund­schaf­ten, so wie alle Bezie­hun­gen zu ande­ren Men­schen, wer­den in die­ser Welt der tota­len Ver­wer­tung und Selbst­ver­wer­tung eben­so als Waren begrif­fen, die nütz­lich und dien­lich sein sol­len, wie alles ande­re auch. Sie sind unver­bind­lich und ober­fläch­lich. Man ver­kauft sich jedem neu­en sozia­len Kon­takt auf eine ande­re Wei­se, um ihm das zu prä­sen­tie­ren, was er sehen möch­te, und maxi­miert dadurch den Erfolg des Selbst­ver­kau­fens. Mas­ken wer­den auf­ge­zo­gen, Rol­len gespielt, Auf­trit­te geübt. Für jeden Kon­takt ent­steht ein neu­es sozia­les Ich, das eine mög­lichst über­zeu­gen­de Fik­ti­on dar­stellt, und die wirk­li­che Per­sön­lich­keit, die Authen­ti­zi­tät der eige­nen Per­son, ver­kriecht sich aus Angst im stil­len Käm­mer­lein, um die auf­ge­bau­ten Illu­sio­nen nicht zu zer­stö­ren. Einen ande­ren Men­schen an sich her­an­zu­las­sen wird als poten­ti­el­le Schwä­che dis­kre­di­tiert, die nur dann in Kauf genom­men wer­den kann, wenn es der eige­nen Lage dien­lich ist, wenn es bei­spiels­wei­se zu Pres­ti­ge­ge­winn oder finan­zi­el­lem Vor­teil führt, zu Pro­blem­lö­sun­gen bei­trägt oder ein den all­ge­gen­wär­ti­gen Druck aus­glei­chen­des Amü­se­ment verspricht.

Stra­te­gien aus der so genann­ten Arbeits­welt, die dort unter Vor­spie­lung eben sol­cher Rol­len und dem Erzeu­gen von Fik­tio­nen zu Erfolg füh­ren sol­len, wer­den nach eini­ger Zeit kri­tik­los in intims­te Berei­che des eige­nen Lebens über­nom­men und mün­den dar­in, den Betrug und die Illu­si­on als ange­mes­se­ne Grund­la­gen zwi­schen­mensch­li­cher Bezie­hun­gen und sogar Part­ner­schaf­ten anzu­se­hen, ohne zu begrei­fen, dass die Über­tra­gung die­ser Ver­hal­tens­wei­sen in eben die­se Sphä­ren, die stets zwin­gend authen­ti­scher Per­sön­lich­kei­ten und Ver­hal­tens­wei­sen bedür­fen, zwangs­läu­fig zu Schwie­rig­kei­ten füh­ren wird. So ist es kein Wun­der, wenn ent­spre­chen­de Freund­schaf­ten oder Part­ner­schaf­ten zerbrechen.

All die­sen Ver­lus­ten wird häu­fig mit dem Ver­such der Umin­ter­pre­ta­ti­on begeg­net: Die Unver­bind­lich­keit, das berech­nen­de Ver­hal­ten und das illu­so­ri­sche Rol­len­spiel sei­en Aus­druck und Not­wen­dig­keit der Frei­heit des eigens selbst­be­stimm­ten Lebens­ent­wurfs. Nur durch das Rol­len­spiel kön­ne man die eige­ne Per­sön­lich­keit vor der feind­li­chen Außen­welt schüt­zen, lau­tet ein ande­rer Ver­such der posi­ti­ven Umdeu­tung, der nicht begreift, dass das Unter­drü­cken und dar­aus de fac­to resul­tie­ren­de Abschaf­fen die­ser authen­ti­schen Per­sön­lich­keit nicht zu deren Erhal­tung bei­trägt. Die­ser Selbst­be­trug erlaubt es, all die nega­ti­ven Kon­se­quen­zen, die sich dar­aus erge­ben, als unver­meid­lich abzu­stem­peln, als hin­der­lich bei der eige­nen Ver­mark­tung. Es ent­steht ein Typus Mensch, der sei­ne fik­tio­na­len Schein-Per­sön­lich­kei­ten, die damit ein­her­ge­hen­de Selbst­ent­frem­dung und das von Kal­kül bestimm­te Kon­kur­renz- und Nutz­den­ken gegen­über sei­nen Mit­men­schen als etwas Posi­ti­ves begreift, das ihn zum Erfolg führt.

Ent­steht dabei eine Gesell­schaft, in der wir uns wohlfühlen?

Nei­gen wir erst ein­mal zur Tren­nung von Den­ken und Füh­len, so besteht die Schwie­rig­keit dar­in, daß wir nicht mehr in der Lage sind, die­sen Vor­gang zu sehen. Auf­grund unse­rer Ent­wick­lung wer­den wir bestrebt sein, uns nicht so zu sehen, wie wir sind, son­dern so, wie wir mei­nen, daß wir gese­hen wer­den soll­ten. Es wer­den Image und wirk­li­ches Sein sich nicht ent­spre­chen. Und wenn sie sich nicht ent­spre­chen, wird die­ser Wider­spruch der inne­ren Rea­li­tät stän­di­ge Quel­le von Angst sein. Die­ser Wider­spruch bedroht uns mit dem Zusam­men­bruch, und die Angst davor zwingt uns erst recht, auf unse­re Gefüh­le zu »ver­zich­ten«.

Für jene, die in das Erschei­nungs­bild »nor­ma­len« Ver­hal­tens hin­ein­schlüp­fen, weil sie die Span­nung der Wider­sprü­che zwi­schen der uns auf­er­leg­ten Rea­li­tät und ihrer inne­ren Welt nicht ertra­gen, für sol­che Men­schen gibt es bald kei­ne wirk­li­chen Gefüh­le mehr. Statt des­sen gehen sie mit Ideen von Gefüh­len um, haben kei­ne Erfah­rung mehr mit ihnen. Sie prä­sen­tie­ren auf­ge­setz­te Gefüh­le als ihre eige­nen und sagen sich von den wah­ren Gefüh­len los. Je »gesün­der« das Image ihrer Iden­ti­tät, das sie ange­nom­men haben, des­to erfolg­rei­cher wer­den sie die­se Mani­pu­la­ti­on voll­zie­hen kön­nen. Und es ist Mani­pu­la­ti­on, da ihr Ziel nicht der Aus­druck ihrer selbst ist, son­dern sie den ande­ren davon über­zeu­gen wol­len, daß sie ange­mes­sen han­deln, den­ken und füh­len. Dies sind die Men­schen, die ich als die wirk­lich Wahn­sin­ni­gen unter uns zei­gen möchte.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Was ist die gesell­schaft­li­che Funk­ti­on der Fach­spra­che? Ich habe gesagt, ech­te Kom­mu­ni­ka­ti­on sei Gemein­sam­keit und Ver­än­de­rung. Die Fach­spra­che ist nicht unschul­dig. Der Mann, der sie spricht, der vor uns von Rol­len und auf der Basis von Wech­sel­be­zie­hun­gen funk­tio­nie­ren­den Grup­pen schwatzt, und von Wert­vor­stel­lun­gen und den Zie­len des Lehr­plans und bes­se­rer Über­ein­stim­mung und über­ge­ord­ne­ten und unter­ge­ord­ne­ten Per­so­nen, der hat die Absicht, uns auf Distanz zu hal­ten; er will sei­ne Spe­zia­li­tät – sein klei­nes Stück eines im Wesent­li­chen unteil­ba­ren Gan­zen – eben als Spe­zia­li­tät für sich behal­ten. Er hat kein Inter­es­se dar­an, sich uns anzu­nä­hern, uns sei­ne Fähig­kei­ten zu ver­mit­teln, son­dern über uns zu ste­hen und uns zu mani­pu­lie­ren. Kurz­um, er will ein »Exper­te« blei­ben. Der Phi­lo­soph möch­te, im Gegen­satz dazu, dass alle Men­schen zu Phi­lo­so­phen wer­den. Sei­ne Rede­wei­se erzeugt Gleich­heit. Er hat die Absicht, sich uns anzu­nä­hern und uns die Fähig­keit zum selbst­stän­di­gen Den­ken und Han­deln zu vermitteln.
(Geor­ge Den­ni­son – The Lives of Child­ren; zitiert nach: John Holt – Kin­der ler­nen selbst­stän­dig oder gar nicht(s)

Edu­ca­ti­on… now seems to me per­haps the most aut­ho­ri­ta­ri­an and dan­ge­rous of all the social inven­ti­ons of man­kind. It is the deepest foun­da­ti­on of the modern slave sta­te, in which most peo­p­le feel them­sel­ves to be not­hing but pro­du­cers, con­su­mers, spec­ta­tors, and ‘fans,’ dri­ven more and more, in all parts of their lives, by greed, envy, and fear. My con­cern is not to impro­ve ‘edu­ca­ti­on’ but to do away with it, to end the ugly and anti­hu­man busi­ness of peo­p­le-sha­ping and to allow and help peo­p­le to shape themselves.
(John Holt zum The­ma Un-/Deschoo­ling)

Arbeit ist Schei­ße! Bei die­ser Aus­sa­ge han­delt es sich um eine selbst­ver­ständ­li­che Tat­sa­che, und wäre spe­zi­ell die deut­sche Gesell­schaft nicht so ver­blö­det, müß­te man sich schä­men, eine sol­che Bana­li­tät zu Papier zu bringen.

Wie fort­ge­schrit­ten die­se Ver­blö­dung ist, zeigt sich dar­an, daß die Aus­sa­ge »Arbeit ist Schei­ße!« bei den meis­ten Zeit­ge­nos­sen eben kein all­ge­mei­nes Gäh­nen her­vor­ruft, son­dern komi­scher­wei­se als Tabu-Bruch auf­ge­faßt wird. Die­ser Tabu-Bruch spal­tet die Mei­nun­gen. »Arbeit ist Schei­ße« ruft bei vie­len Zeit­ge­nos­sen die wüten­de Fra­ge her­vor: »Und wovon willst Du leben?« – als wenn das eine mit dem ande­ren auch nur das gerings­te zu tun hätte!

Wenn Ideo­lo­gen von der »Selbst­ver­wirk­li­chung des Men­schen durch Arbeit« faseln, dann lügen sie. Zwar gibt es nicht weni­ge, für die Arbeit das größ­te Ver­gnü­gen ist, genau­so wie es ja immer wie­der Idio­ten gibt, die sich nichts Erre­gen­de­res vor­stel­len kön­nen als für Volk und Vater­land den Hel­den­tod zu ster­ben. Sol­che Leis­tun­gen set­zen aller­dings jede Men­ge Erzie­hung und Moral voraus.

Lohn­ar­beit unter­schei­det sich durch eine wesent­li­che Eigen­schaft von Skla­ven­ar­beit: Die Arbeits­kräf­te ver­kau­fen sich selber.

Von all die­sen Men­schen­freun­den betreut, kann sich die Arbeits­kraft etwas dar­auf ein­bil­den, die Arbeit aus­zu­hal­ten. Die jün­ge­ren Exem­pla­re prot­zen mit ihrer immer wie­der stei­ge­rungs­fä­hi­gen Arbeits­ge­schwin­dig­keit, die alten mit ihrer Zuver­läs­sig­keit. Vie­le trach­ten danach, sich zum Arbeits­auf­se­her hoch­zu­schlei­men, labern davon, daß es »woan­ders noch schlim­mer sei«, glot­zen in ihrer Bild­zei­tung her­um, kot­zen sich über den Trai­ner »ihres« Fuß­ball­ver­eins aus und sind stolz dar­auf, Arbei­ter zu sein.
(Prin­zi­pi­en und Dok­trin des Wis­sen­schaft­li­chen Pogo-Dog­ma­tis­mus)