Der mensch­li­che Makel

Men­schen sind über­all gleich. Ich kam in die­se Stadt und ich tat es ohne die gerings­ten Erwar­tun­gen. Es war etwas Neu­es für mich, eine unge­wohn­te Umge­bung, und die­se Stadt war so gut wie jede ande­re. Selbst wenn ich es mir zunächst nicht ein­ge­stand, war es für mich ein Ort der Hoff­nung, ein Ort der Träu­me, ein Ort der Illusionen.
Der ers­te Ein­druck über­rasch­te mich. Man nahm mich freund­lich auf, ein­fach so, ohne Bedin­gun­gen und ohne jede Umschwei­fe. Es war für die­se Men­schen nichts Unge­wöhn­li­ches, einen Neu­en, einen Frem­den in ihren Rei­hen zu begrü­ßen. Das unter­schied die­sen Ort von bei­na­he allem, was ich kann­te, denn wie schwer, wenigs­tens aber auf­wän­dig war es doch in der Regel, mit offe­nen Armen als Frem­der in eine bestehen­de Gemein­schaft auf­ge­nom­men zu wer­den. Nicht so hier. Ein­woh­ner kamen und gin­gen, und manch­mal blie­ben sie nur weni­ge Wochen. Es war eine Freund­lich­keit, eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, die mich begeis­ter­te. Den schma­len Grat zwi­schen kind­li­chem Ver­trau­en und unbarm­her­zi­ger Distanz pfleg­te ich stets mit einer Art von Grund­ver­trau­en zu beschrei­ten, das aus­glei­chend begrenzt wur­de durch eine über die Jah­re hin­weg gewach­se­ne Men­schen­kennt­nis, derer es bedarf, um nicht der blin­den Nai­vi­tät anheimzufallen.
Im All­ge­mei­nen ver­trau­te ich selbst völ­lig unbe­kann­ten Men­schen, solan­ge sie mir kei­nen Grund lie­fer­ten, dar­an zu zwei­feln. Was wäre die Alter­na­ti­ve gewe­sen. Gesun­des Miss­trau­en ist ein Wider­spruch in sich, so etwas gibt es nicht, und lie­ber woll­te ich bis­wei­len in mei­nem Ver­trau­en ent­täuscht wer­den, als mit para­no­ider Grund­hal­tung durch die Welt zu gehen, denn Miss­trau­en för­dert unab­läs­sig Misstrauen.
Ich fühl­te mich hier zuhau­se. Nie­man­den inter­es­sier­te, war­um ich gekom­men war. All die mensch­li­chen, nur all­zu mensch­li­chen Kate­go­rien, die bis­wei­len dafür sorg­ten, Kei­le zwi­schen die Indi­vi­du­en zu trei­ben, schie­nen hier ohne Bedeu­tung zu sein. Alter, Geschlecht, Her­kunft, Aus­se­hen oder Sta­tus, Erfolg, Bil­dungs­grad und noch die ver­rück­tes­ten Inter­es­sen waren für das Mit­ein­an­der die­ser Men­schen allem Anschein nach völ­lig neben­säch­lich, zumin­dest lie­ßen sie sich nicht im gerings­ten anmer­ken, dar­auf irgend­ei­nen Wert zu legen. Es war zu gut, um wahr zu sein. Es war nicht wahr – aber das konn­te ich zu die­sem Zeit­punkt noch nicht wis­sen. Ich hät­te es wis­sen müs­sen, aber ich tat es nicht, denn wer stellt schon Fra­gen, wenn ihm Ein­lass in das Para­dies gebo­ten wird.
Nun, da ich ihn ver­las­se, muss ich rück­bli­ckend auf die­sen Ort lei­der sagen, dass die Ent­täu­schung über­wiegt. Es gab sehr viel Freu­de, schö­ne Momen­te, gute Erfah­run­gen, aber letzt­lich auch ein Über­maß an Frus­tra­ti­on. Vie­le Mona­te habe ich hier damit ver­bracht, Hoff­nun­gen und Träu­men nach­zu­ja­gen, die am Ende fast alle ent­täuscht wur­den. Ich kom­me mir so dumm vor. Alles ließ ich ste­hen und lie­gen, sogar mei­ne Arbeit ver­nach­läs­sig­te ich in all der Zeit, weil es für mich nichts Wich­ti­ge­res gab auf der Welt als die­se Men­schen, auf die ich mei­ne Hoff­nun­gen setz­te. Und für was? Was dach­te ich zu sehen? Men­schen, die nicht so sind wie an jedem ande­ren Ort der Welt? Illu­sio­nen! Wie­so also soll­te ich bleiben.
Viel­leicht mag es auf den ers­ten Blick para­dox erschei­nen, mein Grund­ver­trau­en von einer gewis­sen Art Distanz beglei­ten zu las­sen, die aber gar kein Wider­spruch, son­dern eher Gegen­ge­wicht ist. Mit einem Groß­teil der Men­schen, die ich im Lau­fe mei­ner Tage ken­nen­ler­ne, kann ich, so schwer es mir das Leben auch manch­mal macht, in der Regel nur wenig anfan­gen, dar­um ver­mei­de ich all­zu nahen Kon­takt mit ihnen, wo ich das kann. Das gilt für die Ein­woh­ner die­ser Stadt wie für die Men­schen im Gesam­ten. Sie kön­nen nichts dafür, sie sind nicht bes­ser oder schlech­ter als ich, sie haben ein­fach nur eine ande­re Vor­stel­lung von der Welt, eine Vor­stel­lung, die ich nicht tei­le. Sie legen Ver­hal­tens­wei­sen an den Tag, die so nor­mal, so mensch­lich sind, und doch mei­de ich sie dafür. Sie ver­brei­ten Lügen und brin­gen Gerüch­te in Umlauf, sie het­zen sich gegen­ein­an­der auf, sie läs­tern über ihren Nächs­ten, sobald er nur für einen Moment außer Hör­wei­te gegan­gen ist. Sie ver­schwö­ren sich. Sie fra­gen nicht nach, wenn sie böses Geschwätz über einen ande­ren hören, ob es denn über­haupt stimmt, sie glau­ben es direkt. Sie kor­rum­pie­ren. Sie sind stän­dig am Kämp­fen, am Strei­ten, kon­kur­rie­ren um Macht, Pres­ti­ge, Aner­ken­nung und Bei­fall. Sie sind selbst­ver­liebt, arro­gant und Heuch­ler. Stän­dig heu­cheln sie. Sie sind freund­lich zu jedem, ja, doch was heißt das schon, was hilft das, wenn es nur gespiel­te Freund­lich­keit ist. Sie legen das Sti­lett nie aus der Hand. Am Vor­mit­tag kön­nen sie dir sagen, wie ger­ne sie dich haben und was sie an dir schät­zen, dich am Nach­mit­tag vor dei­nen Freun­den schlecht­re­den, um dann am Abend mit dir ein fröh­li­ches Gespräch zu füh­ren, wie ver­lo­gen alle ande­ren doch sei­en. Nichts davon tun sie aus Bos­haf­tig­keit, und das ist das wirk­lich Trau­ri­ge dar­an. Lernt man die Men­schen in die­ser Stadt ein wenig ken­nen, muss man fest­stel­len, dass die meis­ten von ihnen genau­so sind, genau­so nor­mal. Das macht sie nicht zu schlech­ten Men­schen, aber es macht sie zu Men­schen, denen ich aus dem Weg gehe. Vie­len gehe ich aus dem Weg.
Doch es gab Aus­nah­men, es gibt sie über­all, man muss sie bloß fin­den. Die­je­ni­gen, die anders sind. Men­schen, die sich die Tat­sa­che vor Augen füh­ren, auch selbst nicht immun gegen­über der­ar­ti­gen Ver­hal­tens­wei­sen zu sein, die aber ver­su­chen, sie auf ein Mini­mum zu redu­zie­ren; die ihr Ver­hal­ten kri­tisch reflek­tie­ren, die ein Mit­ein­an­der statt eines Gegen­ein­an­ders her­zu­stel­len bestrebt sind. Men­schen, die sich nicht andau­ernd in den Mit­tel­punkt zu stel­len ver­su­chen, die nicht her­um­schrei­en, um Lor­bee­ren noch für die kleins­ten Taten ern­ten zu wol­len. Men­schen, die so auf­rich­tig wie freund­lich sind und das nicht bloß spie­len, weil sie sich etwas davon erhoffen.
Vie­le derer, die auf den ers­ten Blick als sol­che Aus­nah­men erschei­nen, stel­len sich bei genaue­rer Betrach­tung als Schau­spie­ler her­aus, als Men­schen, die sich akku­rat insze­nie­ren, als wären sie zuvor­kom­men­de, freund­li­che, auf­rich­ti­ge Per­so­nen. Bohrt man etwas tie­fer, offen­bart sich aller­dings, es han­delt sich um Lüg­ner. Geschick­te Lüg­ner zwar, gute Schau­spie­ler zwei­fel­los, und den­noch Lüg­ner. Sie spie­len das alles und die­ses Spiel ist ihr Leben. Es sind Ego­zen­tri­ker, Gel­tungs­süch­ti­ge und Selbst­ver­lieb­te. Sie sind genau wie der Groß­teil derer, auf die sie aus ihrer Rol­le hin­aus ver­ächt­lich hin­ab­bli­cken, aber sie haben gelernt, das zu über­spie­len, und das machen sie teil­wei­se ver­dammt gut.
Die ech­ten Aus­nah­men aber, jene, die nicht bloß Schau­spiel betrei­ben, waren alle­samt net­te Men­schen und dar­über war ich froh. Sie waren auf­rich­tig und nett, und vie­le von ihnen ver­füg­ten über eine recht unkom­pli­zier­te, unver­bind­li­che Vor­stel­lung von Freund­schaft. Genau dies war jedoch gleich­zei­tig das Pro­blem, war mir Grund, wes­halb ich mich nicht mit ihnen anfreun­den woll­te. Ihre Vor­stel­lung von Freund­schaft ent­sprach nicht der mei­nen, einer Vor­stel­lung, die man­chem, den ich sah, viel­leicht fremd sein moch­te, weil er unzäh­li­ge Freund­schaf­ten pfleg­te – und wenn man bloß mit jeman­dem in einer Bar ein Bier trank, war er sofort ein Freund. Das moch­te für ande­re funk­tio­nie­ren, für mich aller­dings nicht.
Seit jeher nann­te ich nur weni­ge Men­schen wirk­lich Freun­de, doch für jene, die ich dazu erko­ren hat­te, war ich es von gan­zem Her­zen, mit all mei­ner Ener­gie. Die­se net­ten, unver­bind­li­chen Leu­te – soll­te ich auch sie alle­samt zu mei­nen Freun­den zäh­len? Wür­de das funk­tio­nie­ren? Und dann? Auch mei­ne Tage haben nur vier­und­zwan­zig Stun­den, auch ich ver­fü­ge nur über begrenz­te Ener­gie. Ich woll­te kei­ne net­ten, unver­bind­li­chen Leu­te ken­nen­ler­nen, die ich zu mei­nen Freun­den hät­te machen kön­nen, weil das nur bedeu­tet hät­te, das kost­ba­re Enga­ge­ment für jeden mei­ner Freun­de zu redu­zie­ren, redu­zie­ren zu müs­sen, brei­ter zu ver­tei­len, sodass am Ende jeder weni­ger davon bekä­me. Das woll­te ich nicht. Mach­te mich das in ihren Augen zu einem Son­der­ling? Ver­mut­lich. Behan­del­te ich die­se net­ten, unver­bind­li­chen Men­schen unge­recht? Viel­leicht. Aber lie­ber das, als dass ich sie zu Freun­den gemacht hät­te, die kei­ne waren, zu Freund­schaf­ten, die weder sie noch mich befrie­di­gen würden.
Aber es gab Aus­nah­men unter den Aus­nah­men, ganz beson­de­re Men­schen. Men­schen, für die sich jedes noch so gro­ße Enga­ge­ment lohn­te; die so unglaub­lich kost­bar waren, dass ich sie nie wie­der aus den Augen ver­lie­ren woll­te; die mich berühr­ten, nicht nur in Gedan­ken, son­dern tief im Inne­ren. Men­schen, die ken­nen­zu­ler­nen mir war, als wür­den sich Wel­ten ver­bin­den. Es war der ent­täu­schends­te Teil. Bei den meis­ten von ihnen han­del­te es sich um Frau­en, denn unglück­li­cher­wei­se fie­len die ver­meint­li­chen Aus­nah­men unter den Män­nern vor­wie­gend in die Kate­go­rie Schau­spie­ler, denen es am Ende doch nur um ihr Ego ging, um Macht und Gel­tungs­drang, auf die eine oder auf die ande­re Art. Lei­der. Mit ihnen wäre es einfacher.
Was war nun das Pro­blem mit die­sen Aus­nah­men unter den Aus­nah­men? Da gab es also jeman­den, der beson­ders erschien, zumin­dest für mich. Jeman­den, der kein Schau­spie­ler war. Jeman­den, der ein ähn­li­ches Ver­ständ­nis vom Leben und der Welt auf­wies. Jeman­den, der unbe­ding­tes Ver­trau­en ver­dien­te und jeman­den, mit dem das gegen­sei­ti­ge Ver­ste­hen so ein­fach erschien, mit Wor­ten oder auch ohne, weil wir uns schon seit ewi­ger Zeit zu ken­nen glaub­ten. All die Schutz­vor­rich­tun­gen, die man sich im Lau­fe eines Lebens so müh­sam erbaut, um ande­re Men­schen auf ange­brach­ter Distanz zu hal­ten, um sich nicht zu ver­aus­ga­ben, um all­zu schwe­re Ver­let­zun­gen zu ver­mei­den, bau­te ich ab. Plötz­lich stand da ein Geschenk vor den Toren mei­ner Fes­tung, ein höl­zer­nes Pferd, und ich hol­te es bereit­wil­lig herein.
Irgend­wann aber über­tra­ten wir eine Gren­ze, eine unsicht­ba­re Linie, und es wuch­sen Gefüh­le in einem von uns. Anstatt in Unend­lich­keit zu enden, ken­ter­te das Mit­ein­an­der durch die­ses ungleich ver­teil­te Gewicht. Es war Him­mel und Höl­le zugleich, es mach­te alles kom­pli­ziert und vie­les kaputt, das so wun­der­bar begon­nen hat­te. Stell dir vor, du wärst Archäo­lo­ge und wür­dest an dem einen Fund arbei­ten, den du schon dein gan­zes Leben lang gesucht hast, auf den du ent­ge­gen aller Wahr­schein­lich­keit unter all den ver­ber­gen­den Schich­ten erst ein­mal sto­ßen muss­test, doch plötz­lich ist da ein nicht zu unter­drü­cken­des Krib­beln in dei­ner Nase, du musst nie­sen, ein ganz nor­ma­les mensch­li­ches Regen, du rutschst mit dem Werk­zeug ab und alles ist rui­niert. So kam ich mir vor. Nichts ver­mag je zu erset­zen, was dadurch ver­lo­ren ging, das wirk­lich Begehr­te, das über­aus Sel­te­ne, das unbe­dingt Kost­ba­re. Jene Men­schen, die für immer im Gedächt­nis blei­ben, die für immer ein Teil des eige­nen Lebens sein wer­den, ob sie nun anwe­send sind oder nicht.
Momen­tan fühlt es sich so an, als steck­te ich im Treib­sand. Je mehr ich mich bewe­ge, des­to trost­lo­ser wird die Situa­ti­on. Viel­leicht ist es also am bes­ten, sich erst ein­mal gar nicht zu bewe­gen. Das gesam­te letz­te Jahr ver­brach­te ich in die­ser Stadt mit dem unheil­vol­len Ver­such, Träu­men, Hoff­nun­gen und letzt­lich Illu­sio­nen hin­ter­her­zu­ja­gen, die sich am Ende alle­samt in Luft auf­lös­ten. Mei­ne gesam­te Ener­gie, emo­tio­nal wie auch psy­chisch, steck­te ich in die­se Men­schen, nur um alles, was ich auf­ge­baut hat­te, schließ­lich zer­stört vor­zu­fin­den, ent­we­der durch sie, weil sie nicht waren, was sie zu sein schie­nen, oder durch den Makel der Emo­ti­on. Es ende­te immer wie­der gleich, auch wenn es nie ende­te. Heu­te bin ich leer, ent­täuscht, von ande­ren und von mir selbst, erschöpft und emo­tio­nal am Boden. Die­se Stadt hat mich aus­ge­laugt, ich kann nicht mehr. Jeden­falls nicht hier. Wie ein hava­rier­tes Raum­schiff schwe­be ich manö­vrier­un­fä­hig irgend­wo in der Lee­re des Uni­ver­sums. Nur die Lebens­er­hal­tungs­sys­te­me sind noch in Betrieb, doch viel­leicht bekom­me ich dem­nächst auch wie­der Ener­gie für den Antrieb. Man sagt, es wür­de alles bes­ser, wenn Gras über eine Sache gewach­sen sei. Hier jedoch wächst kein Gras, der Boden ist aus­ge­laugt. Noch weni­ger als zuvor weiß ich, wann es sich lohnt, auf Men­schen ein­zu­ge­hen, denn ich mag sie ent­we­der gar nicht oder zu sehr, doch ich weiß, dass es nicht mein Ver­trau­en war, das mich enttäuschte.
Men­schen sind über­all gleich. Ent­zau­bert, ohne Hoff­nung und mit ver­blass­ten Träu­men ver­las­se ich die­se Stadt so lei­se, wie ich sie betrat. Sie war für mich ein Ort der Hoff­nung, ein Ort der Träu­me, ein Ort der Illu­sio­nen. Nach all die­sen Erfah­run­gen kom­me ich mir vor wie ein Außer­ir­di­scher, der mit der hoff­nungs­vol­len Mis­si­on an die­sen Ort geschickt wur­de, so viel wie mög­lich über die domi­nan­te Spe­zi­es auf die­sem Pla­ne­ten her­aus­zu­fin­den, um alles mit ihnen zu tei­len, und der nun mit der Bot­schaft zurück­keh­ren muss, dass es sich nicht lohnt, mit die­sen Wesen Kon­takt auf­zu­neh­men. Nicht mit deak­ti­vier­tem Schutzschild.

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