Täg­li­che Morde

Es gibt aller­lei Arten, einen Men­schen zu mor­den oder wenigs­tens sei­ne See­le, und das merkt kei­ne Poli­zei der Welt. Dazu genügt ein Wort, eine Offen­heit im rech­ten Augen­blick. Dazu genügt ein Lächeln. Ich möch­te den Men­schen sehen, der nicht durch Lächeln umzu­brin­gen ist oder durch Schwei­gen. Alle die­se Mor­de, ver­steht sich, voll­zie­hen sich lang­sam. Haben Sie sich nie über­legt (…), war­um die aller­meis­ten Leu­te so viel Inter­es­se haben an einem rich­ti­gen Mord, an einem sicht­ba­ren und nach­weis­ba­ren Mord? Das ist doch ganz klar: weil wir für gewöhn­lich unse­re täg­li­chen Mor­de nicht sehen. Da ist es doch eine Erleich­te­rung, wenn es ein­mal knallt, wenn Blut rinnt oder wenn einer an rich­ti­gem Gift ver­en­det, nicht bloß am Schwei­gen sei­ner Frau. Das ist ja das Groß­ar­ti­ge an frü­he­ren Zeit­al­tern, bei­spiels­wei­se an der Renais­sance, daß die mensch­li­chen Cha­rak­te­re sich noch in Hand­lung offen­bar­ten; heut­zu­ta­ge ist alles verinnerlicht…
(Max Frisch – Stiller)

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