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Für einen Arbeits­platz, den sie has­sen, für eine Aus­bil­dung, die sie gar nicht wol­len, oder sogar nur für ein Prak­ti­kum, das wohl die nie­ders­te Form der Aus­beu­tung dar­stellt, tun sie alles.

Sie leug­nen ihre eige­ne Mei­nung. Sie leug­nen ihre Träu­me. Sie leug­nen ihre Idea­le. Sie leug­nen ihre Ver­gan­gen­heit. Sie leug­nen, was sie sind. Sie zen­sie­ren ihre Inter­net-Auf­trit­te. Sie wol­len nicht zu dem ste­hen, was sie sagen und den­ken. Sie kon­trol­lie­ren, was man bei Goog­le über sie her­aus­fin­den kann, und wenn ihnen etwas nicht gefällt, dann wol­len sie das ändern. Sie neh­men Bil­der aus dem Netz, die sie viel­leicht in einem schlech­ten Licht dar­stel­len könn­ten. Sie wol­len glänzen.

Sie haben stän­dig die Sche­re im Kopf. Sie wol­len nicht auf­fal­len. Zumin­dest nicht nega­tiv. Doch weil es ein­fa­cher ist, über­haupt nicht auf­zu­fal­len, gehen sie die­sen Weg. Sie buckeln nach oben und sie tre­ten nach unten. Sie kuschen und gehorchen.

Sie brau­chen Men­schen, die ihnen sagen, was sie tun sol­len. Sie wol­len nicht allei­ne lau­fen, nicht ohne Füh­rung, nicht ohne Gelän­der. Trotz­dem sind sie ein­sam, auch wenn sie nicht allein sein mögen. Sie wis­sen nicht, wer sie sind, aber das inter­es­siert sie auch gar nicht. Denn sie sind, was ande­re von ihnen ver­lan­gen. Macht das glücklich?

Wie Wiglaf Dros­te so tref­fend schrieb:

Sie wol­len nicht frei sein, also sol­len alle ande­ren auch nicht dür­fen. (…) Wenn man ihnen ihre Leit­plan­ken schon nicht weg­neh­men kann, darf man immer­hin drü­ber­weg hüp­fen. Inner­halb der Leit­plan­ken­kul­tur gibt es nichts zu fin­den, das sich zu suchen lohnte.
(Wiglaf Dros­te bei taz.de)

Sie hat­te jetzt Arbeit, sie hat­te eine Woh­nung, sie hat­te, in gewis­ser Wei­se, ein Leben. Sie hat­te sich ein Leben für sich ent­wor­fen. Zwar war es nicht so, wie sie es sich ein­mal vor­ge­stellt hat­te. Als sie auf ihren Abschluss hin­ar­bei­te­te an der tol­len Uni­ver­si­tät, die jede als zukünf­ti­ge Welt­herr­sche­rin ver­las­sen woll­te, hät­te sie sich nie träu­men las­sen, dass sie ein­mal so enden wür­de (…). Aber ver­mut­lich ent­wi­ckelt sich das Leben nie so, wie man es geplant hat; ver­mut­lich sieht man des­halb auf den Stra­ßen von Groß­städ­ten so vie­le Leu­te mit die­sem ver­wirr­ten und ver­är­ger­ten Gesichts­aus­druck, als woll­ten sie sagen: Wer hät­te gedacht, dass mir das pas­sie­ren wür­de? All die Bal­lett-Tän­ze­rin­nen, die in der Ver­wal­tung lan­de­ten, die Feu­er­wehr­män­ner, die Per­so­nal­chefs wur­den, die Ent­de­cker, die in Call-Cen­tern saßen, die Mode­schöp­fe­rin­nen und Opern­sän­ge­rin­nen, Gitar­ris­ten, Büh­nen-Lieb­lin­ge und Sze­ne-Diven, die am Ende von der gro­ßen Tret­müh­le zer­malmt wur­den. All das spricht aus die­sen Bli­cken: Wie bin ich bloß hier gelandet?
(Tania Kin­ders­ley – Und mor­gen geht das Leben weiter)

Gut ist es, an andern sich zu hal­ten. Denn kei­ner trägt das Leben allein.
(Fried­rich Hölderlin)

Kom­mu­ni­ka­ti­on mit den Mit­men­schen ist kei­ne Ein­bahn­stra­ße. Das gilt vor allem, aber nicht exklu­siv, für die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Freun­den. Kom­mu­ni­ka­ti­on mit den Mit­men­schen ist auch kein Selbst­be­die­nungs­ba­sar. Sie sagen dir ihre Mei­nung – unge­fragt. Sie sagen dir, wor­in du so rich­tig schlecht bist – unge­fragt. Sie sagen dir, dass eini­ge dei­ner Ent­schei­dun­gen ziem­lich blöd waren – ungefragt.

Das alles fin­det man viel­leicht in jenen Momen­ten, in denen man es zu hören bekommt, ziem­lich ner­vig und viel­leicht sogar schei­ße, aber es hilft – und es ist ver­dammt viel wert. Weil eben nie­mand per­fekt ist. Weil nie­mand alles auf Anhieb super macht. Weil nie­mand je aus­lernt. Weil nie­mand allei­ne ist. Weil es gut ist, das eige­ne Han­deln des Öfte­ren aus ande­ren Per­spek­ti­ven und dabei nicht immer nur von den glei­chen Per­so­nen beur­teilt zu sehen, Rat­schlä­ge zu erhal­ten und Kri­tik zu ern­ten, da das eige­ne Selbst­bild stets von der Ver­zer­rung geprägt ist, wie man sich sehen möch­te. Und weil man lernt, dass man nicht über jede nicht selbst gemach­te Erfah­rung erha­ben ist.

Sol­che Rat­schlä­ge, Mei­nun­gen oder Kri­ti­ken ande­rer Men­schen in Erwä­gung zu zie­hen oder gar anzu­neh­men, mag viel­leicht anfangs ein wenig das eige­ne Ego ver­let­zen. Oder man ist außer sich, weil ande­re Men­schen die Dreis­tig­keit besit­zen, sich in das eige­ne Leben ein­zu­mi­schen. Aber letz­ten Endes stärkt es die eige­ne Per­sön­lich­keit, und das ist viel wert­vol­ler als ein ange­kratz­tes Ego. Es lohnt sich, dafür even­tu­el­le Mau­ern ein­zu­rei­ßen, die man gegen­über ande­ren Men­schen und sei­ner Umwelt gebaut hat.

Sie anzu­neh­men hat nie etwas mit Schwä­che oder Unfä­hig­keit zu tun. Im Gegen­teil. Schwach – aber vor allem dumm – ist, wer denkt, alles allei­ne am bes­ten zu wis­sen und zu kön­nen. Wer das glaubt, braucht sich nicht zu wun­dern, wenn er schließ­lich tat­säch­lich das Leben ganz allei­ne tra­gen muss. Wer sich abschot­tet, ver­liert viel Wärme.

Eine jener Cha­rak­te­ris­ti­ken, die Freun­de aus­ma­chen, ist eben die­ses Ein­mi­schen. Sie sagen dir von sich aus Din­ge, die du viel­leicht nicht hören willst, und das ist gut so. Sie sagen dir sol­che Din­ge, ohne dar­auf ange­spro­chen zu wer­den, denn auf Auf­for­de­rung könn­te das jeder. Und sie ver­su­chen dir zu hel­fen, auch und gera­de wenn du sie nicht dar­um bit­test oder wenn du wie­der ein­mal so tust, als bräuch­test du kei­ne Hil­fe, denn auf Auf­for­de­rung könn­te auch das jeder Belie­bi­ge. Ein Belie­bi­ger nimmt aller­dings nicht Anteil. Freun­de schon. Das macht sie unbe­zahl­bar. Auch wenn es hin und wie­der nervt.

Das Ende des Jah­res. Mit eini­gen Freun­den und Bekann­ten ging ich auf eine der vie­len Sil­ves­ter­par­tys in die­ser Nacht und die Stim­mung war super. Irgend­wann im Lau­fe des Abends saß ich mit eini­gen Leu­ten her­um und unter­hielt mich mit ihnen. Ein Freund aus frü­he­ren Zei­ten, den wir zufäl­lig dort getrof­fen hat­ten, sah uns dasit­zen, kam zu mir her­über und meinte:

„Willst du dich nicht ran­ma­chen? Irgend­ei­ne kriegt man auf jeden Fall…“

Das Inter­es­san­te an sei­ner Aus­sa­ge ist unter ande­rem, dass er Recht hat. Irgendeine(n) fin­det man bei sol­chen Gele­gen­hei­ten auf jeden Fall, wenn man das möch­te. Je spä­ter der Abend, des­to höher die Wahr­schein­lich­keit – das liegt nicht ein­mal haupt­säch­lich am Alko­hol. Und ohne Fra­ge ist das auch völ­lig legi­tim, wenn bei­de Sei­ten nur genau das erwar­ten: Irgendeine(n).

Für mich war die­ser Kom­men­tar jedoch einer jener Momen­te, in denen mir klar wird, dass das, was er aus­drück­te, nicht mei­ne Welt ist. Und dass ich nicht irgend­ei­ne möchte.

Von tau­send Erfah­run­gen, die wir machen, brin­gen wir höchs­tens eine zur Spra­che, und auch die­se bloß zufäl­lig und ohne die Sorg­falt, die sie ver­dien­te. Unter all den stum­men Erfah­run­gen sind die­je­ni­gen ver­bor­gen, die unse­rem Leben unbe­merkt sei­ne Form, sei­ne Fär­bung und sei­ne Melo­die geben. Wenn wir uns dann, als Archäo­lo­gen der See­le, die­sen Schät­zen zuwen­den, ent­de­cken wir, wie ver­wir­rend sie sind. Der Gegen­stand der Betrach­tung wei­gert sich still­zu­ste­hen, die Wor­te glei­ten am Erleb­ten ab, und am Ende ste­hen lau­ter Wider­sprü­che auf dem Papier. Lan­ge Zeit habe ich geglaubt, das sei ein Man­gel, etwas, das es zu über­win­den gel­te. Heu­te den­ke ich, daß es sich anders ver­hält: daß die Aner­ken­nung der Ver­wir­rung der Königs­weg zum Ver­ständ­nis die­ser ver­trau­ten und doch rät­sel­haf­ten Erfah­run­gen ist. Das klingt son­der­bar, ja eigent­lich abson­der­lich, ich weiß. Aber seit ich die Sache so sehe, habe ich das Gefühl, das ers­te­mal rich­tig wach und am Leben zu sein.
(Pas­cal Mer­cier – Nacht­zug nach Lissabon)

Es ist ein Irr­tum zu glau­ben, die ent­schei­den­den Momen­te eines Lebens, in denen sich sei­ne gewohn­te Rich­tung für immer ändert, müß­ten von lau­ter und grel­ler Dra­ma­tik sein, unter­spült von hef­ti­gen inne­ren Auf­wal­lun­gen. Das ist ein kit­schi­ges Mär­chen, das sau­fen­de Jour­na­lis­ten, blitz­licht­süch­ti­ge Fil­me­ma­cher und Schrift­stel­ler, in deren Köp­fen es aus­sieht wie in einem Bou­le­vard­blatt, in die Welt gesetzt haben. In Wahr­heit ist die Dra­ma­tik einer lebens­be­stim­men­den Erfah­rung oft von unglaub­lich lei­ser Art. Sie ist dem Knall, der Stich­flam­me und dem Vul­kan­aus­bruch so wenig ver­wandt, daß die Erfah­rung im Augen­blick, wo sie gemacht wird, oft gar nicht bemerkt wird. Wenn sie ihre revo­lu­tio­nä­re Wir­kung ent­fal­tet und dafür sorgt, daß ein Leben in ein ganz neu­es Licht getaucht wird und eine voll­kom­men neue Melo­die bekommt, so tut sie das laut­los, und in die­ser wun­der­vol­len Laut­lo­sig­keit liegt ihr beson­de­rer Adel.
(Pas­cal Mer­cier – Nacht­zug nach Lissabon)

Wenn man dir linier­tes Papier gibt, schrei­be quer über die Zeilen.
(Juan Ramón Jiménez)

Ich kann die­sen dum­men Spruch nicht mehr hören: Sei doch mal konstruktiv!

Wie­so näm­lich soll­te ich kon­struk­tiv sein, mich also irgend­wie an der Ver­bes­se­rung des Gege­be­nen betei­li­gen? Irgend­et­was Kon­struk­ti­ves zu arti­ku­lie­ren, von Innen an den gege­be­nen Fun­da­men­ten tat­säch­lich mit­zu­ar­bei­ten, wie feh­ler­haft und insta­bil sie auch sein mögen, erscheint mir wenn nicht kol­la­bo­ra­tiv, dann doch zumin­dest schein­hei­lig. Des­we­gen mag ich mich im Rah­men des Gege­be­nen oft nicht kon­struk­tiv äußern, neh­me an tages­po­li­ti­schen Dis­kus­sio­nen meist nicht ernst­haft teil und habe zu vie­len Streit­fra­gen, die schein­bar nur zwei Posi­ti­ons­rich­tun­gen zulas­sen, eine gänz­lich ande­re Ansicht.

Wie kann man die Chan­cen­gleich­heit in der Insti­tu­ti­on Schu­le anhe­ben? Wie kann man die Trans­pa­renz bei Ent­schei­dun­gen auf Staats­ebe­ne för­dern? Was ergibt ein Ver­gleich der ver­schie­de­nen Par­tei­en­sys­te­me? Wie kann man die Arbeits­be­din­gun­gen von Lohn­ab­hän­gi­gen ver­bes­sern? Wie hoch soll­ten die Steu­ern sein? Kei­ne Ahnung, ist mir scheiß­egal – denn das sind alles inter­ne Fra­ge­stel­lun­gen eines Gebil­des, des­sen Teil ich nicht sein und an des­sen Ver­bes­se­rung ich nicht mit­wir­ken möchte.

Vor eini­ger Zeit las ich bei der Frank­fur­ter Rund­schau ein Zitat, das der Sache irgend­wie nahe kommt:

Der lin­ke Roman­cier und Lie­der­ma­cher Franz Josef Degen­hardt, einst gefei­ert wie ein Pop­star und bis heu­te der mit Abstand klügs­te Chro­nist und Song­schrei­ber der Repu­blik, lehnt es mit einer denk­wür­di­gen Erklä­rung ab, von sei­nem Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung noch Gebrauch zu machen: »Ich bin der­ma­ßen dis­si­dent zu den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen und der herr­schen­den Mei­nung, in allem unein­ver­stan­den mit dem, was ist, dass der Ver­such, außer in mei­nen Lie­dern und Erzäh­lun­gen, ein­ver­ständ­lich dies und das Wünsch­ba­re zu ver­deut­li­chen, mir – nun nicht gera­de als kol­la­bo­ra­tiv erscheint -, aber doch unmög­lich ist. Es wäre, zur Zeit jeden­falls, so unver­ständ­lich, wie wenn ein Mis­ter Spock aus einer ganz ande­ren Gala­xie und einer viel spä­te­ren Zeit einem jet­zi­gen Erd­be­woh­ner sei­ne ganz ande­re Welt erklä­ren wür­de, in der es kein Geld und kei­ne Ware gibt, eine Gesell­schaft exis­tiert, die auf einer Gebrauchs­wert- und Bedürf­nis-Öko­no­mie beruht als Vor­aus­set­zung für Demo­kra­tie und das Ende von Aus­beu­tung. Und dass sowas mit­tels Wahl­zet­tel nicht erreich­bar ist.«

Kon­struk­tiv sein? Ganz im Gegen­teil: Destruk­ti­ve und unter­mi­nie­ren­de Kri­tik an dem, was ist, Auf­de­ckung von Mythen und sich lus­tig machen über die exis­tie­ren­den Lächer­lich­kei­ten, das sind Per­spek­ti­ven, die weit­aus sym­pa­thi­scher sind als kon­struk­ti­ve Mit­ar­beit. Ein sol­ches Vor­ge­hen, selbst­ver­ständ­lich stets gewalt­frei, schafft – das ist das Ziel – Bal­last ab, ohne den man dann – danach – wirk­lich kon­struk­tiv vor­ge­hen kann, denn man kann auf Sand kein sta­bi­les Haus bau­en, so sehr man sich auch bemüht, so schön man es auch einrichtet.

Als Denkan­re­gung, auch wenn sich vie­les, aber lei­der nicht das Wesent­li­che ver­än­dert hat:

Wir haben Feh­ler gemacht, wir legen ein vol­les Geständ­nis ab: Wir sind nach­gie­big gewe­sen, wir sind anpas­sungs­fä­hig gewe­sen, wir sind nicht radi­kal gewe­sen. Wir haben uns um die Imma­tri­ku­la­ti­on bewor­ben, wir haben die Imma­tri­ku­la­ti­ons­be­stim­mun­gen gele­sen, wir haben uns den Imma­tri­ku­la­ti­ons­be­stim­mun­gen unter­wor­fen. Wir haben For­mu­la­re aus­ge­füllt, die aus­zu­fül­len eine Zumu­tung war. Wir haben über unse­re Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit Aus­kunft gege­ben, obwohl wir kei­ner Reli­gi­on zuge­hör­ten. Wir haben für unse­re Bewer­bung Grün­de ange­führt, die nicht unse­re Grün­de waren. Wir haben unse­re Zulas­sung erhal­ten, wir haben unse­ren bes­ten Anzug ange­zo­gen, wir sind zur Imma­tri­ku­la­ti­ons­fei­er gegan­gen. Wir haben uns hin­ge­setzt, haben gewar­tet, wir wären am liebs­ten gleich wie­der gegan­gen. Wir haben uns zur Fei­er des Augen­blicks von unse­ren Plät­zen erho­ben, obwohl uns die Fei­er­lich­keit des Augen­blicks nicht bewußt gewor­den ist. Wir sind, als unse­re Pro­fes­so­ren in lan­gen Tala­ren und schwar­zen Käp­pis erblick­ten, nicht in ein nicht enden wol­len­des Geläch­ter aus­ge­bro­chen. Wir haben uns wie­der hin­ge­setzt, als wir uns wie­der hin­set­zen durf­ten. Wir haben die Anspra­che des Rek­tors gehört, wir haben die Anspra­che des Dekans gehört, wir haben die Anspra­che des Stu­den­ten­ver­tre­ters gehört. Wir haben die Wor­te der Red­ner in uns auf­ge­nom­men, wir haben ab und zu die Augen geschlos­sen, wir haben uns jedes­mal ent­schlie­ßen müs­sen, bevor wir gehus­tet haben, wir sind nicht wei­ter auf­ge­fal­len, wir sind lie­be Kom­mi­li­to­nin­nen und Kom­mi­li­to­nen gewe­sen. Wir haben uns des Vor­zugs, ein aka­de­mi­scher Bür­ger zu sein, ver­si­chern las­sen, bevor wir das als rei­nen Vor­zug emp­fan­den. Wir haben unse­re Uni­ver­si­tät freie Uni­ver­si­tät genannt, obwohl wir da gar nicht sicher waren. Wir haben eine Gemein­schaft von Ler­nen­den und Leh­ren­den gebil­det, obwohl die­se Gemein­schaft erst noch zu bil­den war. Wir haben den Imma­tri­ku­la­ti­ons­tee getrun­ken, wir haben unser Stu­di­um begon­nen, wir haben die Pflicht­vor­le­sun­gen belegt, wir sind nicht in den SDS ein­ge­tre­ten. Wir haben uns ein Semes­ter lang mit der Fra­ge beschäf­tigt, war­um die Goten das t hauch­ten und wir haben über einen Fran­zo­sen des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts gear­bei­tet, der sei­ner­seits über einen Römer des zwei­ten Jahr­hun­derts gear­bei­tet hat­te. Wir haben mit die­ser Arbeit kei­nen Erfolg gehabt, denn wir haben die neu­es­ten Ent­wick­lun­gen auf dem Gebiet der Fran­zo­sen des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts, die über einen Römer des zwei­ten Jahr­hun­derts gear­bei­tet haben, nicht gebüh­rend berück­sich­tigt. Wir sind depri­miert gewe­sen, wir haben uns zu Recht kri­ti­siert gefühlt, wir haben es das nächs­te Mal bes­ser gemacht. Wir haben Semi­nar­ar­bei­ten gemacht, die zu machen rei­ne Zeit­ver­schwen­dung war, wir haben Semi­nar­sit­zun­gen pro­to­kol­liert, die nicht zu pro­to­kol­lie­ren, son­dern nur zu kri­ti­sie­ren waren. Wir haben Tat­sa­chen aus­wen­dig gelernt, aus denen nicht das min­des­te zu ler­nen war. Wir haben Prü­fun­gen vor­be­rei­tet, die nur der Prü­fung unse­res Gehor­sams dien­ten. Wir sind ner­vös gewor­den, wir sind unlus­tig gewor­den, wir sind immer schwie­ri­ger gewor­den, wir lit­ten an man­geln­der Kon­zen­tra­ti­on, wir konn­ten nicht ein­schla­fen, wir konn­ten nicht bei­schla­fen, wir haben uns ein­mal aus­ge­spro­chen. Wir haben uns sagen las­sen, wir müß­ten erst mal mit uns sel­ber fer­tig wer­den. Wir sind mit uns sel­ber fer­tig geworden.

Wir sind sach­lich gewe­sen, wir sind gehor­sam gewe­sen, wir sind wirk­lich uner­träg­lich gewe­sen. Die­je­ni­gen, die mit Magni­fi­zenz anzu­re­den waren, haben wir mit Magni­fi­zenz ange­re­det. Die­je­ni­gen, die mit Herr Pro­fes­sor anzu­re­den waren, haben wir mit Herr Pro­fes­sor ange­re­det. Die­je­ni­gen, die mit Herr Dok­tor anzu­re­den waren, haben wir mit Herr Dok­tor ange­re­det. Die­je­ni­gen, die mit Herr Pro­fes­sor Dok­tor Dok­tor anzu­re­den waren, haben wir mit Herr Pro­fes­sor Dok­tor Dok­tor ange­re­det. Wir wol­len es nie wie­der tun. Wir haben uns durch schlech­te Noten klein­krie­gen las­sen, wir haben uns durch gute Noten wie­der auf­mö­beln las­sen, wir haben es mit uns machen las­sen. Wenn wir bei unse­rem Pro­fes­sor in der Vor­le­sung waren, dann haben wir ihm nicht auf die Fin­ger gese­hen, wenn wir uns von ihm prü­fen lie­ßen, haben wir nicht ins Gesicht gese­hen, wenn wir auf dem Klo neben ihm stan­den, dann haben wir nicht auf sei­nen Schwanz gese­hen. Wir wol­len es das nächs­te Mal tun. Wir haben unser Stu­di­um fort­ge­setzt, wir haben die erfor­der­li­che Semes­ter­zahl belegt, wir haben die in uns gesetz­ten Erwar­tun­gen nicht ent­täuscht. Wir haben die Geset­ze des Straf­rechts aus­wen­dig gelernt, obwohl wir doch nicht an den Sinn der Bestra­fung glau­ben. Wir haben die Geset­ze der zwei­ten Laut­ver­schie­bung gelernt, wäh­rend ande­re die Not­stands­ge­set­ze ver­ab­schie­de­ten. Wir haben uns zur Gotisch­prü­fung gra­tu­lie­ren las­sen, wäh­rend unser Bun­des­prä­si­dent der süd­afri­ka­ni­schen Regie­rung zu ihrer Ras­sen­po­li­tik gra­tu­lier­te. Wir haben an die Frei­heit der Wis­sen­schaft geglaubt, wie ande­re an die Frei­heit Süd­viet­nams glauben.

Wir haben es dahin kom­men las­sen, daß sie uns anläß­lich eines Sit-Ins, das sich aus­drück­lich gegen die uner­träg­li­che Ruhe und Ord­nung an die­ser Uni­ver­si­tät rich­te­te, mit einem Hin­weis auf Ruhe und Ord­nung zu Ruhe und Ord­nung zu brin­gen ver­such­ten. Wir haben es dahin kom­men las­sen, daß einer unse­rer sel­te­nen Spe­zia­lis­ten auf dem Gebiet des Mar­xis­mus unse­re Aktio­nen mit denen des Faschis­mus ver­wech­selt hat, was doch wirk­lich eine wis­sen­schaft­li­che Fehl­leis­tung ist. Wir haben uns da offen­bar nicht klar aus­ge­drückt, wir wol­len uns jetzt klar aus­drü­cken. Es geht tat­säch­lich um die Abschaf­fung von Ruhe und Ord­nung, es geht um unde­mo­kra­ti­sches Ver­hal­ten, es geht dar­um, end­lich nicht mehr sach­lich zu sein. Wir haben in aller Sach­lich­keit über den Krieg in Viet­nam infor­miert, obwohl wir erlebt haben, daß wir die unvor­stell­bars­ten Ein­zel­hei­ten über die ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik in Viet­nam zitie­ren kön­nen, ohne daß die Phan­ta­sie unse­rer Nach­barn in Gang gekom­men wäre, aber daß wir nur einen Rasen betre­ten zu brau­chen, des­sen Betre­ten ver­bo­ten ist, um ehr­li­ches, all­ge­mei­nes und nach­hal­ti­ges Grau­en zu erregen.

Wir haben voll­kom­men demo­kra­tisch gegen die Not­stands­ge­set­ze demons­triert, obwohl wir gese­hen haben, daß wir sämt­li­che Rän­ge des Zivil­diens­tes auf­zäh­len kön­nen, ohne irgend­ei­ne Erin­ne­rung wach­zu­ru­fen, aber daß wir nur die poli­zei­lich vor­ge­schrie­be­ne Marsch­rich­tung zu ändern brau­chen, um den Ober­bür­ger­meis­ter und die Bevöl­ke­rung aus den Bet­ten zu holen. Wir haben ruhig und ordent­lich eine Hoch­schul­re­form gefor­dert, obwohl wir her­aus­ge­fun­den haben, daß wir gegen die Uni­ver­si­täts­ver­fas­sung reden kön­nen, soviel und solan­ge wir wol­len, ohne daß sich ein Akten­de­ckel hebt, aber daß wir nur gegen die bau­po­li­zei­li­chen Bestim­mun­gen zu ver­sto­ßen brau­chen, um den gan­zen Uni­ver­si­täts­auf­bau ins Wan­ken zu brin­gen. Da sind wir auf den Gedan­ken gekom­men, daß wir erst den Rasen zer­stö­ren müs­sen, bevor wir die Lügen über Viet­nam zer­stö­ren kön­nen, daß wir erst die Marsch­rich­tung ändern müs­sen, bevor wir etwas an den Not­stands­ge­set­zen ändern kön­nen, daß wir erst die Haus­ord­nung bre­chen müs­sen, bevor wir die Uni­ver­si­täts­ord­nung bre­chen kön­nen. Da haben wir den Ein­fall gehabt, daß das Betre­tungs­ver­bot des Rasens, das Ände­rungs­ver­bot der Marsch­rich­tung, das Ver­an­stal­tungs­ver­bot der Bau­po­li­zei genau die Ver­bo­te sind, mit denen die Herr­schen­den dafür sor­gen, daß die Empö­rung über die Ver­bre­chen in Viet­nam, über die Not­stands­psy­cho­se, über die ver­greis­te Uni­ver­si­täts­ver­fas­sung schön ruhig und wir­kungs­los bleibt.

Da haben wir gemerkt, daß sich in sol­chen Vor­gän­gen die kri­mi­nel­le Gleich­gül­tig­keit einer gan­zen Nati­on aus­tobt. Da haben wir es end­lich gefres­sen, daß gegen den Magni­fi­zenz­wahn und aka­de­mi­sche Son­der­ge­rich­te, gegen Prü­fun­gen, in denen man nur das Fürch­ten, gegen Semi­na­re, in denen man nur das Nach­schla­gen lernt, gegen Aus­bil­dungs­plä­ne, die uns sys­te­ma­tisch ver­bil­den, gegen Sach­lich­keit, die nichts ande­res als Müdig­keit bedeu­tet, gegen die Ver­ket­ze­rung der Emo­ti­on, aus der die Herr­schen­den das Recht ablei­ten, über die Fol­te­run­gen in Viet­nam mit der glei­chen Ruhe reden zu kön­nen wie über das Wet­ter reden zu dür­fen, gegen demo­kra­ti­sches Ver­hal­ten, das dazu dient, die Demo­kra­tie nicht auf­kom­men zu las­sen, gegen Ruhe und Ord­nung, in der die Unter­drü­cker sich aus­ru­hen, gegen ver­lo­ge­ne Ratio­na­li­tät und wohl­weis­li­che Gefühl­s­ar­mut, – daß wir gegen den gan­zen alten Plun­der am sach­lichs­ten argu­men­tie­ren, wenn wir auf­hö­ren zu argu­men­tie­ren, und uns hier in den Haus­flur auf den Fuß­bo­den set­zen. Das wol­len wir jetzt tun.
(Peter Schnei­der, 5. Mai 1967 – zitiert nach: Jür­gen Mier­meis­ter, Joch Staadt (Hrsg.): Pro­vo­ka­tio­nen. Die Stu­den­ten- und Jugend­re­vol­te in ihren Flug­blät­tern 1965–1971, S. 47ff)