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Vor etwas mehr als einem hal­ben Jahr habe ich im Bei­trag »Die kom­men­den Tage« die sozia­len Fol­gen der anhal­ten­den Kri­se sowie die auf­kei­men­den Pro­tes­te der Occu­py- als auch ande­rer Bewe­gun­gen skiz­ziert und ver­sucht, deren wei­te­re Ent­wick­lung zu pro­gnos­ti­zie­ren. Genannt wur­den als Kri­sen­phä­no­me­ne der weit­ge­hen­den Abbau des Sozi­al­staats, erstar­ken­der Natio­na­lis­mus, zuneh­men­de Ver­ar­mung, Pre­ka­ri­sie­rung und Ent­so­li­da­ri­sie­rung, Per­so­na­li­sie­rung der Kri­tik, schlei­chen­de Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung sowie die Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Pro­test­be­kämp­fung. Lei­der haben sich sämt­li­che dar­ge­stell­ten Aspek­te in der Zwi­schen­zeit tat­säch­lich wei­ter ver­schärft, eini­ge sogar schnel­ler und gewal­ti­ger, als ich ursprüng­lich gedacht hatte.

Im Fol­gen­den daher eine frag­men­ta­ri­sche Bestands­auf­nah­me, die sich auf den aktu­el­len Zustand Euro­pas kon­zen­triert, ver­bun­den mit zahl­rei­chen exem­pla­ri­schen Links zu Arti­keln und Infor­ma­tio­nen. Sie sol­len als Über­blick und Anhalts­punk­te für wei­ter­ge­hen­de Recher­chen die­nen, damit sich jeder Leser anhand der Berich­te selbst ein Bild machen kann und nicht auf mei­ne Inter­pre­ta­ti­on ange­wie­sen ist.


Abbau des Sozialstaats

Die Spar­maß­nah­men in Grie­chen­land, Ita­li­en, Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, Irland, Spa­ni­en, Por­tu­gal und ande­ren euro­päi­schen Län­dern bedeu­ten nicht zuletzt einen Abbau des Sozi­al­staats. Sie umfas­sen quer durch Euro­pa u.a. Maß­nah­men wie Ren­ten­kür­zun­gen sowie die Anhe­bung des Ren­ten­al­ters, die Locke­rung des Kün­di­gungs­schut­zes, Lohn­kür­zun­gen im öffent­li­chen Dienst, Ein­füh­rung neu­er Gebüh­ren oder Gebüh­ren­er­hö­hun­gen, die Kür­zung von Arbeits­lo­sen­un­ter­stüt­zung, Sozi­al­geld und ähn­li­chen Sozi­al­leis­tun­gen. Die größ­ten Ein­schnit­te fin­den dabei in der Regel in den Berei­chen Gesund­heit und Bil­dung statt, wodurch nicht nur die gegen­wär­ti­ge Ver­sor­gung und Aus­bil­dung der Bevöl­ke­rung beschnit­ten wird, son­dern auch deren indi­vi­du­el­le sowie die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Zukunfts­per­spek­ti­ve. Ent­spre­chend wer­den immer grö­ße­re Tei­le der Bevöl­ke­rung in Armut und Ver­zweif­lung gedrängt, die mit­un­ter zum Sui­zid führt (so ist bei­spiels­wei­se die Sui­zid­ra­te in Grie­chen­land in den letz­ten zwei Jah­ren um mehr als 40 Pro­zent angestiegen).


Rezession

Vor allem die euro­päi­sche Süd­pe­ri­phe­rie, aber auch ande­re euro­päi­sche Staa­ten lei­den unter Rezes­si­on unter­schied­li­chen Aus­ma­ßes, wenn­gleich eini­ge Staa­ten bis­lang davon ver­schont geblie­ben sind. Die strik­ten Maß­nah­men der Austeri­täts­po­li­tik wie­der­um zemen­tie­ren die Abwärts­spi­ra­le der ent­spre­chen­den Län­der in immer tie­fe­re Rezes­si­on, da Lohn­kür­zun­gen, Gebüh­ren- und Steu­er­erhö­hun­gen wie z.B. bei der Mehr­wert­steu­er oder die Ein­füh­rung neu­er Son­der­steu­ern zulas­ten der Unter- und Mit­tel­schicht sich nega­tiv auf den pri­va­ten Kon­sum und damit letzt­lich die Pro­duk­ti­on und das Steu­er­auf­kom­men aus­wir­ken. Auch hier­zu­lan­de wird die Kri­se spür­ba­rer, sodass mit­tel­fris­tig Mel­dun­gen wie die­se kein Ein­zel­fall blei­ben wer­den, zumal wirt­schaft­li­che Abküh­lung auf glo­ba­ler Ebe­ne – mit beson­de­rem Blick auf Chi­na – zu beob­ach­ten ist. Hin­zu kom­men auf­grund immer auf­wen­di­ge­rer För­der­me­tho­den ste­tig stei­gen­de Ener­gie­kos­ten.


Natio­na­lis­mus & zuneh­men­de Entsolidarisierung

Zusätz­lich zur unver­hoh­le­nen und zum Teil auch von poli­ti­scher Sei­te befeu­er­ten Het­ze gegen die ver­meint­li­chen Kri­sen­ver­ur­sa­cher im euro­päi­schen Süden, für deren angeb­li­che Faul­heit und Inkom­pe­tenz man nicht län­ger Zahl­meis­ter sein wol­le, wer­den – allen vor­an durch Deutsch­land – natio­na­le Wirt­schafts­in­ter­es­sen auf Kos­ten von Dritt­staa­ten vor­an­ge­trie­ben. Das Pro­jekt Euro­pa, das die Bevöl­ke­run­gen der euro­päi­schen Staa­ten ein­an­der näher­brin­gen soll­te, ver­kommt zum Gegen­teil. Im Zuge der Kri­se ist nicht nur eine all­ge­mei­ne Spal­tung Euro­pas zu beob­ach­ten, es ist zudem auch ein deut­li­cher Gra­ben zwi­schen den strau­cheln­den euro­päi­schen Staa­ten und Deutsch­land ent­stan­den, letz­te­res sei­ner­seits hege­mo­nia­les Zen­trum der Kri­sen­po­li­tik und gro­ßer Pro­fi­teur des Euros sowie des wirt­schaft­li­chen Ungleich­ge­wichts in Europa.

Selbst noch in der momen­ta­nen Situa­ti­on pro­fi­tiert Deutsch­land zumin­dest kurz­fris­tig aus den Kri­sen­phä­no­me­nen, u.a. durch nied­ri­ge bis nega­ti­ve Zin­sen für Anlei­hen oder etwa den schwa­chen Euro, der deut­sche Expor­te in Län­der außer­halb der Euro­zo­ne ver­bil­ligt. Die­se kurz­fris­ti­gen Vor­tei­le für die deut­sche Wirt­schaft, erkauft auf dem Rücken Euro­pas, soll­ten bei deut­schen Vor­schlä­gen zur Kri­sen­be­kämp­fung stets im Hin­ter­kopf behal­ten wer­den, offen­ba­ren sie doch einen gewich­ti­gen Inter­es­sen­kon­flikt. Erfolgs­mel­dun­gen wie etwa stei­gen­der deut­scher Export sind daher mit Vor­sicht zu genie­ßen, denn mit­tel- bis lang­fris­tig wird der Kelch auch an Deutsch­land nicht vor­über­ge­hen (vgl. Abschnitt Rezes­si­on), gera­de ange­sichts der Export­las­tig­keit der deut­schen Wirtschaft.

Gene­rell wird wei­ter­hin mit­tels natio­na­lis­ti­scher Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en ver­sucht, die von den Kri­sen­ent­wick­lun­gen am stärks­ten Betrof­fe­nen der jewei­li­gen Staa­ten gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len. Natio­na­lis­mus und Ent­so­li­da­ri­sie­rung zei­gen sich exem­pla­risch auch am deut­schen Umgang mit Grie­chen­land, des­sen Bevöl­ke­rung kurz vor den Wah­len mehr oder weni­ger offen ange­droht wur­de, es müs­se unab­hän­gig des Wahl­aus­gangs die an die finan­zi­el­len Hilfs­pa­ke­te geknüpf­ten Bedin­gun­gen erfül­len oder ansons­ten die Kon­se­quen­zen tra­gen. Mit Wolf­gang Schäubles Ambi­tio­nen zur Füh­rung der Euro­grup­pe könn­ten sich deut­sche Vor­machts­an­sprü­che zusätz­lich zemen­tie­ren, die zuletzt mit der Wahl in Frank­reich ins Wan­ken gera­ten waren.

Inner­halb der ein­zel­nen Staa­ten sind ande­re For­men der Ent­so­li­da­ri­sie­rung zu beob­ach­ten, näm­lich ver­stärk­te von oben nach unten gerich­te­te Abgren­zungs­be­mü­hun­gen bis hin zur Abwer­tung schwä­che­rer sozia­ler Grup­pen. Für Deutsch­land fasst der Sozio­lo­ge Wil­helm Heit­mey­er, Her­aus­ge­ber der Stu­die »Deut­sche Zustän­de«, exem­pla­risch zusam­men:

Die lau­fen­den Pro­zes­se der Umver­tei­lung und ihre gesell­schaft­li­che Zer­stö­rungs­kraft neh­men ste­tig zu und füh­ren zu einer immer grö­ßer wer­den­den Spal­tung der Gesell­schaft. Die obe­ren Ein­kom­mens­grup­pen neh­men die­se Spal­tung nur begrenzt wahr, sie sind im Gegen­teil der Mei­nung, dass sie zu wenig vom Wachs­tum pro­fi­tie­ren. Sie sind rasch bereit, die Hil­fe und Soli­da­ri­tät für schwa­che Grup­pen auf­zu­kün­di­gen. Sie wer­ten zuneh­mend stär­ker ab. Die Stu­die macht deut­lich, es exis­tiert eine geball­te Wucht rabia­ter Eli­ten und die Trans­mis­si­on sozia­ler Käl­te durch eine rohe Bür­ger­lich­keit, die sich selbst in der Opfer­rol­le sieht und des­halb immer neue Abwer­tun­gen gegen schwa­che Grup­pen in Sze­ne setzt. Und die Stu­die zeigt, wie stark Men­schen auf­grund von eth­ni­schen, kul­tu­rel­len oder reli­giö­sen Merk­ma­len, der sexu­el­len Ori­en­tie­rung, des Geschlechts, einer kör­per­li­chen Ein­schrän­kung oder aus sozia­len Grün­den mit sol­chen Men­ta­li­tä­ten kon­fron­tiert und ihnen macht­los aus­ge­lie­fert sind. Die Opfer­grup­pen sind mitt­ler­wei­le wehr­los und nicht mobi­li­sie­rungs­fä­hig. Ins­ge­samt ist eine öko­no­mi­sche Durch­drin­gung sozia­ler Ver­hält­nis­se empi­risch beleg­bar. Sie geht Hand in Hand mit einem Anstieg von grup­pen­be­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit. Seit 2008 haben sich die kri­sen­haf­ten Ent­wick­lun­gen zeit­lich mas­siv verdichtet.

Die Wahl­er­geb­nis­se der rech­ten Par­tei­en in Grie­chen­land (zusam­men knapp 17 % für die Par­tei­en Chry­si Avgi und Unab­hän­gi­ge Grie­chen) und Frank­reich (knapp 18 % für die Natio­na­lis­ten unter Mari­ne Le Pen) zei­gen deut­lich, wel­che Rich­tung der­ar­ti­ge Abgren­zungs- und Ent­so­li­da­ri­sie­rungs­ten­den­zen ein­schla­gen kön­nen. Doch nicht nur klei­ne, rechts­ra­di­ka­le Par­tei­en, son­dern auch kon­ser­va­ti­ve Volks­par­tei­en betrie­ben kräf­tig Stim­mungs­ma­che gegen sozi­al Schwa­che und Migran­ten, wie die Wahl­kämp­fe in Frank­reich und Grie­chen­land vor Augen geführt haben. Zudem wird die restrik­ti­ve EU-Migra­ti­ons­po­li­tik in Zei­ten der Kri­se noch schär­fer vor­an­ge­trie­ben, wie etwa mas­si­ve Maß­nah­men zur »Bekämp­fung ille­ga­ler Migra­ti­on« in Grie­chen­land belegen.


Zuneh­men­de Ver­ar­mung und Prekarisierung

Arbeits­lo­sen­zah­len wie zum Bei­spiel die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit in Grie­chen­land (~54 %), Spa­ni­en (~50 %) und Ita­li­en (~30 %) oder Sta­tis­ti­ken der Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung (ers­te­re hier als inter­ak­ti­ve Gra­fik für die USA), der Obdach­lo­sig­keit, der Schul­den­be­las­tung sowie der Armut oder des Armuts­ri­si­kos offen­ba­ren alle­samt anwach­sen­de sozia­le Miss­stän­de (vgl. den Abschnitt zum Abbau des Sozi­al­staats). In vie­len Län­dern ist daher auf­grund der tris­ten Aus­sich­ten bereits von der »ver­lo­re­nen Gene­ra­ti­on« die Rede. Ähn­li­ches gilt für die USA, wo die Illu­si­on einer mode­ra­ten Arbeits­lo­sen­quo­te nur durch sta­tis­ti­sche Spie­le­rei­en auf­recht­erhal­ten wer­den kann.


Entdemokratisierung

Nicht nur wur­den in Grie­chen­land und Ita­li­en Über­gangs­re­gie­run­gen gebil­det, die von unge­wähl­ten Tech­no­kra­ten im Sin­ne der rigi­den Spar­po­li­tik ange­führt wer­den, auch die teils pani­schen Reak­tio­nen in Pres­se, Poli­tik und an den Märk­ten auf den Links­ruck der Wah­len in Frank­reich und Grie­chen­land spre­chen eine deut­li­che, anti­de­mo­kra­ti­sche Spra­che. Poli­ti­sche Pro­zes­se wer­den zuneh­mend an anti­zi­pier­ten Markt­re­ak­tio­nen aus­ge­rich­tet, deren Ver­un­si­che­rung so gut es geht ver­mie­den wird; es fin­det eine Ver­schie­bung der Sou­ve­rä­ni­tät statt, deren Ergeb­nis die »markt­kon­for­me« (Ange­la Mer­kel) Demo­kra­tie ist. Mit dem geplan­ten Fis­kal­pakt wird zudem das Haus­halts­recht der Unter­zeich­ner­staa­ten star­ke Ein­schrän­kun­gen erfah­ren, was einer Schwä­chung par­la­men­ta­ri­scher Kon­trol­le ent­spricht, sowie Ent­schei­dungs­ge­walt u.a. zur EU-Kom­mis­si­on ver­la­gert wer­den, die nicht demo­kra­tisch gewählt ist. Eine Befra­gung der Bevöl­ke­rung mit­tels Refe­ren­dum wird, wie schon bei frü­he­ren Ver­trä­gen auf Ebe­ne der EU, als Bedro­hung betrach­tet oder – wie in Grie­chen­land gesche­hen – gar ver­hin­dert. Immer deut­li­cher tritt der unauf­lös­ba­re Wider­spruch zwi­schen Demo­kra­tie und Kapi­ta­lis­mus zuta­ge. Mit­be­stim­mung und fried­li­cher Pro­test (vgl. den fol­gen­den Abschnitt), so scheint es, wer­den mit Ver­schär­fung der Kri­se mehr und mehr zum Stör­fak­tor für auto­ri­tä­res Kri­sen­ma­nage­ment und Märkte.


Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Protestbekämpfung

Die Pro­test­be­we­gung, ob sie sich nun gegen die aktu­el­le Kri­sen­po­li­tik, Ban­ken­spe­ku­la­tio­nen oder das gegen­wär­ti­ge Sys­tem als Gan­zes rich­tet, hat zwar an Auf­merk­sam­keit von Sei­te der Mas­sen­me­di­en ver­lo­ren, ist jedoch wei­ter­hin sehr aktiv und kann sowohl gro­ße Demons­tra­tio­nen als auch klei­ne­re, all­täg­li­che­re For­men des Pro­tests vor­wei­sen, wie Beset­zun­gen öffent­li­cher Plät­ze, krea­ti­ve Spon­tan­kund­ge­bun­gen, diver­se For­men von Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und -ver­sor­gung, zivi­len Unge­hor­sam, wider­stän­di­sche All­tags­pra­xen, Guer­ril­la Gar­dening und direk­te Aktio­nen. In von der Kri­se stark betrof­fe­nen Län­dern wie Grie­chen­land oder Ita­li­en sind in die­sem Kon­text ver­mehrt Aus­schrei­tun­gen zu beobachten.

Auf der ande­ren Sei­te wer­den Pro­test­for­men und deren Teil­neh­mer zuneh­mend kri­mi­na­li­siert, Camps und Demons­tra­tio­nen – teils gewalt­sam – auf­ge­löst und non-kon­for­mes Ver­hal­ten bestraft. Ita­li­en erwägt sogar den Ein­satz des Mili­tärs. Gene­rell scheint die Tole­ranz­schwel­le für Pro­test zu sin­ken, was zuneh­mend die Aus­übung ele­men­ta­rer Frei­heits­rech­te beschnei­den wird, um die Illu­si­on des unge­stör­ten Wei­ter-so auf­recht­zu­er­hal­ten und Eigen­tums­ver­hält­nis­se als auch Geschäfts­be­trieb zu verteidigen.

So weit der aktu­el­le Stand, ohne Anspruch auf Voll­stän­dig­keit – tat­säch­lich exis­tie­ren euro­pa­weit und natür­lich glo­bal auf­grund der anhal­ten­den Kri­se etli­che wei­te­re sozia­le, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Pro­blem­la­gen sowie ent­spre­chen­de Proteste.

Es gibt kei­ne kon­kre­ten Hin­wei­se dar­auf, dass sich die­se Zustän­de in abseh­ba­rer Zukunft ver­bes­sern wer­den. Das Gegen­teil ist der Fall: Wird am bestehen­den Kurs fest­ge­hal­ten, wer­den Arbeits­lo­sig­keit und Sozi­al­ab­bau wei­ter zuneh­men, wor­auf der Lebens­stan­dard der meis­ten Men­schen in den betrof­fe­nen Län­dern absin­ken wird, wäh­rend ver­stärkt auto­ri­tä­re Kri­sen- und Pro­test­be­wäl­ti­gungs­stra­te­gien zu beob­ach­ten sein wer­den. Selbst an jenen, die bis­lang das gegen­wär­ti­ge poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Sys­tem ver­tei­digt oder zumin­dest hin­ge­nom­men haben, weil sie von des­sen gewal­ti­gen Schat­ten­sei­ten nicht direkt betrof­fen waren, dürf­ten die gegen­wär­ti­gen Ent­wick­lun­gen nicht mehr lan­ge unbe­merkt vor­über­ge­hen. Die Ein­schlä­ge kom­men näher. Dies ist das Euro­pa, in dem wir leben.

Lang­fris­tig wer­den die­se Ent­wick­lun­gen wohl vor kei­nem der so genann­ten Durch­schnitts­bür­ger Halt machen, da jeder zusätz­li­che Tag der bestehen­den Ver­hält­nis­se die Zustän­de nur ver­schlim­mert, auch wenn sie man­che spä­ter erfas­sen wer­den als ande­re. Die­ser tris­ten Aus­sicht steht die posi­ti­ve Visi­on gegen­über, die eige­ne Apa­thie und Ohn­macht ange­sichts schein­bar über­mäch­ti­ger Struk­tu­ren zu über­win­den, um aus der Kri­se kon­struk­ti­ve Kraft zu schöp­fen und sich durch Pro­test, alter­na­ti­ve Lebens­wei­sen, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on oder ähn­li­che Maß­nah­men aktiv an der Gestal­tung einer gerech­ten, frei­en, demo­kra­ti­schen und soli­da­ri­schen Gesell­schaft zu betei­li­gen, in der wir ger­ne leben möch­ten. Nie­mand soll­te dar­auf ver­trau­en, von der Poli­tik Lösun­gen zu erhal­ten. Die Poli­tik hat kei­ne Lösun­gen und sie stellt die fal­schen Fra­gen. Es liegt an jedem ein­zel­nen von uns, wie es wei­ter­ge­hen wird.

Sons­ti­ge wei­ter­füh­ren­de Links:

  • Keep Tal­king Greece
    Nach­rich­ten aus Grie­chen­land (Eng­lisch)
  • Grie­chen­land-Blog
    Aus und über Grie­chen­land – News, Mel­dun­gen, Kommentare
  • Ellas
    Infor­ma­tio­nen dar­über, wie das Leben in Grie­chen­land in den Zei­ten der „Kri­se“ wirk­lich aus­sieht – und ein biss­chen mehr.
  • Spa­ni­en­le­ben
    Spa­ni­en: aktu­el­le Neu­ig­kei­ten aus Medi­en, Poli­tik, Wirtschaft
  • Uhu­par­do
    Aktu­el­le Berich­te aus Spa­ni­en und über die Kri­sen­po­li­tik im Allgemeinen

Es ist nur Wider­stand, wenn dir Wider­stand ent­ge­gen­schlägt. Das klingt tri­vi­al und doch scheint es vie­le zu über­for­dern. Sie nen­nen sich Wider­ständ­ler und – das ist das Tra­gi­sche dar­an – sie füh­len sich auch so. Am Wochen­en­de und nach Fei­er­abend neh­men sie an Kund­ge­bun­gen teil, ver­zich­ten dafür immer­hin auf Par­ty, Fern­se­her oder Shop­pen­ge­hen, sie schrei­ben kri­ti­sche Arti­kel, man­che noch Leser­brie­fe, sie besu­chen Kon­gres­se und Dis­kus­si­ons­run­den, kurz­um: Sie sagen ihre Mei­nung. Das hal­ten sie für Wider­stand, für radi­kal, man­che gar für einen Umsturz des Sys­tems, und das Sys­tem lacht sich ins Fäust­chen, weil es weiß, wie alles läuft: Eine Mei­nungs­äu­ße­rung ist kein Wider­stand, kei­ne ernst­zu­neh­men­de Pro­vo­ka­ti­on, viel­mehr selbst­ver­ständ­lich oder wenigs­tens banal, und alles ist so herr­lich rela­tiv, dass jede Mei­nung recht hat, jeder Ein­wand wird umarmt und rasch osmo­tisch ein­ge­saugt, kommt nie mehr raus, noch jeder Blöd­sinn wird als Blöd­sinn aner­kannt. Jeder kri­ti­sche Gedan­ke wird ver­ein­nahmt. Die Welt ist schlecht, sagst du, und die­se Welt sagt: Lass uns gemein­sam dar­an arbei­ten, und schon bist du ein Kollaborateur.

Du kannst sagen, der Staat sei zum Kot­zen, ein Mons­ter und ein Men­schen­feind, und wenn du schlech­te Freun­de hast, dann wer­den sie dich dafür aus­la­chen, und wenn du etwas weni­ger schlech­te Freun­de hast, wer­den sie bloß mit ihren Köp­fen nicken, und dem Staat ist es egal. Auf letz­te­res kommt es an. Die Staats­macht hat kein Inter­es­se an dei­ner per­sön­li­chen Pri­vat­mei­nung, solan­ge du noch höf­lich ihren Regeln folgst, denn dar­auf baut sie auf; sie schert sich nicht um dei­ne Sym­pa­thie, so sicher ist ihr ihre Herr­schaft. Das ist der so genann­te Fort­schritt gegen­über einem Unrechts­staat, dem freie Mei­nung noch als Tücke gilt, weil er den Umstand nicht begrif­fen hat, wie man­che Frei­heit hier und da, groß­mü­tig gewährt, dem eige­nen Bestehen hilft. Je län­ger die Lei­ne, des­to frei­er fühlt sich der Hund und hält sein Herr­chen für den Hei­land. Du kannst dir nun natür­lich ein­bil­den, du wür­dest Tag und Nacht ver­folgt, kannst dich zum Hel­den ver­klä­ren und einen Kämp­fer nen­nen, kannst para­no­id wer­den und dein Tele­fon nicht mehr benut­zen, kannst hin­ter jedem nur noch Staats­macht sehen, weil du glaubst, dei­ne Mei­nung wäre irgend­je­man­dem ein Dorn im Auge, doch die Wahr­heit ist: Sie ist egal, so wie es dei­nen Chef nicht im gerings­ten schert, wie sehr du dei­ne Arbeit auch ver­flu­chen magst, solan­ge du bloß jeden Mor­gen pünkt­lich bist.

Mei­nungs­äu­ße­rung allei­ne ist kein Wider­stand. Du kannst auf Demos gehen und dei­ne Mei­nung kund­tun, du kannst ganz schreck­lich radi­kal ins Inter­net schrei­ben oder Flug­zet­tel ver­tei­len und damit Leu­te über­zeu­gen, die schon längst über­zeugt sind, oder ganz ande­ren Leu­ten dei­ne Tex­te in die Hand drü­cken, die noch nicht über­zeugt sind und die sich den­ken: Ach! Die dann nach Hau­se gehen und ihr Leben wei­ter­le­ben wie bis­her, weil es sie einen Scheiß inter­es­siert, wel­che Fak­ten du ihnen ins Gesicht wirfst, denn sie haben schon ihre Mei­nung und die ist stär­ker als jeder Fakt. Es ist ein bil­dungs­bür­ger­li­ches Mär­chen, man kön­ne ande­re mit Fak­ten über­zeu­gen. Spart euch eure Fly­er, sie sind nur Umwelt­ver­schmut­zung. Es geht nicht um Fak­ten und Argu­men­te und Ratio­na­li­tät. Das ging es nie. Gin­ge es um Fak­ten, hät­ten wir eine ande­re Welt, eine schö­ne­re, für alle; Ras­sis­mus wäre kein Pro­blem, es gäbe kei­ne Into­le­ranz, Krie­ge wür­den sel­ten, Armut wäre abge­schafft, dafür über­all Frie­den, Freu­de, Eierkuchen.

Es geht nicht um Fak­ten, es geht ums Gefühl. Das ist der wah­re Klas­sen­ge­gen­satz bei uns: Auf der einen Sei­te die Klas­se derer, die sich gut füh­len, selbst wenn es ihnen schlecht geht, die posi­ti­ven Den­ker, die Ver­drän­ger, die Igno­ran­ten, die Arsch­lö­cher und Nai­ven, und auf der ande­ren Sei­te jene, die an der Welt ver­zwei­feln, die sich schlecht füh­len, selbst wenn es ihnen gut zu gehen hat. Wer sich gut fühlt, der mei­det jene, die sich schlecht füh­len, weil sie ihn anste­cken könn­ten mit ihrer schlech­ten Lau­ne, mit ihrem Welt­schmerz und ihrer nega­ti­ven Aura, die­se Mies­ma­cher, die alles ändern wol­len, die den neu­en Mit­tel­klas­se­wa­gen nicht als hei­ße Schleu­der, son­dern bloß als Umwelt­schan­de sehen, als lächer­li­ches Sta­tus­sym­bol. Das will doch kei­ner hören! Du kannst dich wohl­füh­len, selbst wenn es allen schei­ße geht, und dar­an krankt die Welt. Dann lebst du lie­ber in dei­ner wun­der­ba­ren Schaum­stoff­um­ge­bung, dei­ner Gum­mi­zel­le mit Voll­pen­si­on, anstatt dich dem Leben aus­zu­set­zen, wie es dort drau­ßen wütet, denn wüten tut es, mehr als du dir denkst. Wen inter­es­sie­ren Fak­ten, wenn du ein gutes Leben füh­ren kannst.

Nein, Mei­nungs­äu­ße­rung allei­ne ist kein Wider­stand. Die effek­tivs­te Art des Wider­stands, die alle Herr­schafts­for­men über­dau­ern wird, ist die Ver­wei­ge­rung, wenn du dich dem ver­wehrst, das Besitz von dir ergrei­fen und dein Den­ken und dein Tun bestim­men will. Schick dei­ne Kin­der nicht zur Schu­le, und man wird sie dir schleu­nigst ent­rei­ßen oder dich wenigs­tens für dei­nen Trotz bestra­fen, bis du Ein­sicht zeigst, so nen­nen sie die Kapi­tu­la­ti­on. Geh nicht arbei­ten, und man wird dich einer Zwangs­ar­beit zuwei­sen, die man flüch­tig rosa anmalt und als gut gemein­te Ein­glie­de­rungs­maß­nah­me tarnt, selbst wenn einer gar nicht ein­ge­glie­dert wer­den will, weil das Böse immer schö­ne Namen trägt und mit guten Absich­ten daher­kommt, oder aber man wird dich trie­zen, bis du zer­brichst und resi­gnierst und dir »frei­wil­lig« eine Arbeit suchst, nur um der Ernied­ri­gung zu ent­ge­hen – das gilt hier heu­te schon als Frei­heit. Geh in den Super­markt und nimm dir, was du brauchst, ohne zu bezah­len, und man wird dich dafür ankla­gen. Dei­ne Mei­nung ist kein Wider­stand, solan­ge du brav bist, unter­wür­fig, füg­sam, treu, solan­ge du arbei­ten gehst, wenn man es von dir ver­langt, solan­ge du zahlst, was die Kas­se anzeigt, solan­ge du folgst, wenn man dir befiehlt. Mei­nungs­äu­ße­rung ist ein Ven­til, das man dir zuge­steht, damit du nicht zum Wider­ständ­ler wirst, denn du darfst ja alles sagen, frei und unbe­schwert, und jeder darf es toll fin­den oder dumm oder lächer­lich oder gemein und es hat alles kei­ne Konsequenz.

Du kannst nicht gegen etwas sein und dich dann doch dar­an betei­li­gen, nicht wenn du ehr­lich mit dir sein willst. Ver­wei­gerst du aber, bist du ein Fall für Mora­lis­ten und Pädagogen­propaganda, Sozialarbeits­kollaborateure oder Therapeuten­gaslighting, Poli­ti­ker und sons­ti­ge Wider­stands­be­kämp­fer. Nur in den sel­tens­ten Fäl­len steht dir ein Poli­zist mit Schild und Schlag­stock gegen­über, die Macht hat viel sub­ti­le­re Metho­den. Du bist gestört, sagt der The­ra­peut, du bist ein Para­sit, sagt der Poli­ti­ker, du han­delst unmo­ra­lisch, sagt der Pre­di­ger, du musst doch an die Zukunft den­ken, sagt dei­ne Erzie­hung, und alle wol­len sie dich wie­der ein­glie­dern in ihre Vor­stel­lung von einem guten Leben und kei­ner begreift, war­um du dich wehrst. Ein­glie­de­rung, das ist der Punkt, und das Wort drückt es schon aus: Sei ein Glied in unse­rer For­ma­ti­on, mar­schie­re mit, sei stän­dig fro­hen Mutes. Da ste­hen sie dann, stu­dier­te und klu­ge Leu­te, und fra­gen sich Beu­len in den Kopf, wie sich einer gegen die­ses tol­le Leben auf­leh­nen kann, die­ses Leben in der Schaum­stoff­welt, in der alles herr­lich bunt ist, weich und wun­der­bar, man stößt nir­gends an, solan­ge man nur brav ist und gehorcht, sie krie­gen das nicht in ihren Schä­del rein. Sie haben stu­diert, um blöd zu wer­den, und dafür hat es sich gelohnt, sie sind kon­form, bestan­den haben sie mit Bestnote.

Rei­ne Mei­nungs­äu­ße­rung ist kein Wider­stand, nie­mand wird für sei­ne Mei­nung an die Wand gestellt, kei­ner gefol­tert, nicht hier, nicht heu­te, nicht wenn jede Mei­nung gleich­gül­tig vor­über­zieht, du bist nicht Hans und Sophie Scholl. Eine Mei­nungs­äu­ße­rung ist bloß bequem, Schaum­stoff um das toben­de Gewis­sen. Äuße­re dei­ne Mei­nung und bewei­se der Welt, vor allem aber bewei­se dir selbst: Ich habe mei­nen Unmut kund­ge­tan, ich war nicht still. Es schläft sich ruhi­ger in der Nacht, nur ändern wird es frei­lich nichts.

Kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Sys­tem und sei­ner Pro­pa­gan­da macht ein­sam. Denn in aller Regel zieht ja das sozia­le Umfeld (Kol­le­gen, Fami­lie, Freun­de, Part­ner etc.) nicht mit, wenn einer anfängt, herr­schen­de Ideo­lo­gien in Fra­ge zu stel­len. Die Fol­gen rei­chen von Spott und Distan­zie­rung bis hin zu sozia­ler Iso­lie­rung. Es muss einer schon ein gehö­ri­ges Maß an Auto­no­mie und Kraft (im Sin­ne von Ich­stär­ke) mit­brin­gen, um sich von sol­chen Mecha­nis­men nicht klein­krie­gen zu las­sen, d.h. sich die­sem Grup­pen­druck nicht anzu­pas­sen und die aus einer kri­ti­schen Geis­tes­hal­tung not­wen­dig resul­tie­ren­de Ver­ein­sa­mung zu ertragen.
(Mrs. Mop in den Kom­men­ta­ren die­ses Bei­trags)