»Am Ende meines Besuchs im Krankenhaus hat er angefangen, Erinnerungen zu erzählen. Er hat mir ins Gedächtnis gerufen, was ich mit sechzehn gesagt haben muß. In dem Moment habe ich den einzigen Sinn von Freundschaft, wie sie heute praktiziert wird, begriffen. Der Mensch ist auf sie angewiesen, damit sein Gedächtnis funktioniert. Sich an seine Vergangenheit zu erinnern, sie immer bei sich zu haben ist vielleicht die notwendige Voraussetzung dafür, die Integrität seines Ichs zu wahren, wie man so sagt. Damit das Ich nicht schrumpft, damit es sein Volumen behält, müssen die Erinnerungen begossen werden wie Topfblumen, und dieses Gießen erfordert den regelmäßigen Kontakt mit Zeugen der Vergangenheit. Sie sind unser Spiegel; unser Gedächtnis; man verlangt nichts von ihnen, außer daß sie von Zeit zu Zeit diesen Spiegel polieren, damit man sich darin anschauen kann. Aber mich interessiert nicht im geringsten, was ich auf dem Gymnasium gemacht habe! Was ich mir seit meiner frühen Jugend, vielleicht seit meiner Kindheit immer gewünscht habe, war etwas ganz anderes: die Freundschaft als oberster Wert. Ich sage oft: vor die Wahl zwischen der Wahrheit und dem Freund gestellt, wähle ich immer den Freund. Ich sagte es, um zu provozieren, aber ich meinte es ernst. Heute weiß ich, daß diese Maxime archaisch ist. Sie mochte für Achill gelten, den Freund des Patroklos, für Alexandre Dumas‘ Musketiere, sogar für Sancho, der trotz all ihrer Zwistigkeiten ein echter Freund seines Herrn war. Aber sie gilt nicht für uns. Ich gehe in meinem Pessimismus so weit, daß ich heute bereit bin, die Wahrheit der Freundschaft vorzuziehen. (…) Die Freundschaft war für mich der Beweis, daß es etwas Stärkeres gibt als die Ideologie, als die Religion, als die Nation. In Dumas‘ Roman befinden sich die Freunde oft in gegnerischen Lagern, so daß sie gezwungen sind, gegeneinander zu kämpfen. Aber das ändert nichts an ihrer Freundschaft. Sie helfen einander trotzdem heimlich, listig und setzen sich über die Wahrheit ihres jeweiligen Lagers hinweg. Sie haben die Freundschaft über die Wahrheit, die Sache, die Befehle von oben gestellt, über den König, über die Königin, über alles.«
Milan Kundera – Die Identität
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Als ich klein war und mir das für Kinder nacherzählte Alte Testament anschaute, das mit Radierungen von Gustave Doré illustriert war, sah ich den lieben Gott auf einer Wolke sitzen. Er war ein alter Mann, hatte Augen, eine Nase und einen langen Bart, und ich sagte mir, wenn er einen Mund hat, muß er auch essen. Und wenn er ißt, muß er auch Därme haben. Dieser Gedanke jedoch hat mich erschreckt, denn ich fühlte, obwohl ich aus einer eher ungläubigen Familie stammte, daß die Vorstellung von göttlichen Därmen Blasphemie ist.
Ohne jegliche theologische Vorbildung habe ich schon als Kind ganz spontan die Unvereinbarkeit von Scheiße und Gott begriffen und folglich auch die Fragwürdigkeit der Grundthese christlicher Anthropologie, nach der der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Entweder oder: entweder wurde der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen und dann hat Gott Därme, oder aber Gott hat keine Därme und der Mensch gleicht ihm nicht.
Die alten Gnostiker haben das genauso klar gesehen wie ich mit meinen fünf Jahren: um dieses verzwickte Problem endgültig zu lösen, hat Valentin, ein großer Meister der Gnosis im zweiten Jahrhundert, behauptet: »Jesus hat gegessen und getrunken, nicht aber defäkiert.«
Die Scheiße ist ein schwierigeres theologisches Problem als das Böse. Gott hat dem Menschen die Freiheit gegeben, und so kann man annehmen, daß er nicht für die Verbrechen der Menschheit verantwortlich ist. Doch die Verantwortung für die Scheiße trägt einzig und allein derjenige, der den Menschen geschaffen hat.
(Milan Kundera – Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins)
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