Schlagwortarchiv für: Selbstfindung

Von tau­send Erfah­run­gen, die wir machen, brin­gen wir höchs­tens eine zur Spra­che, und auch die­se bloß zufäl­lig und ohne die Sorg­falt, die sie ver­dien­te. Unter all den stum­men Erfah­run­gen sind die­je­ni­gen ver­bor­gen, die unse­rem Leben unbe­merkt sei­ne Form, sei­ne Fär­bung und sei­ne Melo­die geben. Wenn wir uns dann, als Archäo­lo­gen der See­le, die­sen Schät­zen zuwen­den, ent­de­cken wir, wie ver­wir­rend sie sind. Der Gegen­stand der Betrach­tung wei­gert sich still­zu­ste­hen, die Wor­te glei­ten am Erleb­ten ab, und am Ende ste­hen lau­ter Wider­sprü­che auf dem Papier. Lan­ge Zeit habe ich geglaubt, das sei ein Man­gel, etwas, das es zu über­win­den gel­te. Heu­te den­ke ich, daß es sich anders ver­hält: daß die Aner­ken­nung der Ver­wir­rung der Königs­weg zum Ver­ständ­nis die­ser ver­trau­ten und doch rät­sel­haf­ten Erfah­run­gen ist. Das klingt son­der­bar, ja eigent­lich abson­der­lich, ich weiß. Aber seit ich die Sache so sehe, habe ich das Gefühl, das ers­te­mal rich­tig wach und am Leben zu sein.
(Pas­cal Mer­cier – Nacht­zug nach Lissabon)

Unser Bewusst­sein hat sich im Lau­fe eini­ger Jahr­hun­der­te sehr ver­än­dert, unser Gefühls­le­ben sehr viel weni­ger. Daher eine Dis­kre­panz zwi­schen unse­rem intel­lek­tu­el­len und unse­rem emo­tio­na­len Niveau. Die meis­ten von uns haben so ein Paket mit fleisch­far­be­nem Stoff, näm­lich Gefüh­le, die sie von ihrem intel­lek­tu­el­len Niveau aus nicht wahr­ha­ben wol­len. Es gibt zwei Aus­we­ge, die zu nichts füh­ren; wir töten unse­re pri­mi­ti­ven und also unwür­di­gen Gefüh­le ab, soweit als mög­lich, auf die Gefahr hin, daß dadurch das Gefühls­le­ben über­haupt abge­tö­tet wird, oder wir geben unse­ren unwür­di­gen Gefüh­len ein­fach einen ande­ren Namen. Wir lügen sie um. Wir eti­ket­tie­ren sie nach dem Wunsch unse­res Bewusst­seins. Je wen­di­ger unser Bewusst­sein, je bele­se­ner, um so zahl­rei­cher und um so nobler unse­re Hin­ter­tü­ren, um so geist­vol­ler die Selbst­be­lü­gung! Man kann sich ein Leben lang damit unter­hal­ten, und zwar vor­treff­lich, nur kommt man damit nicht zum Leben, son­dern unwei­ger­lich in die Selbst­ent­frem­dung. (…) Es ist merk­wür­dig, was sich uns, sobald wir in der Selbst­über­for­de­rung und damit in der Selbst­ent­frem­dung sind, nicht alles als Gewis­sen anbie­tet. Die inne­re Stim­me, die berühm­te, ist oft genug nur die koket­te Stim­me eines Pseu­do-Ich, das nicht dul­det, daß ich es end­lich auf­ge­be, daß ich mich selbst erken­ne, und es mit allen Lis­ten der Eitel­keit, nöti­gen­falls sogar mit Falsch­mel­dun­gen aus dem Him­mel ver­sucht, mich an mei­ne töd­li­che Selbst­über­for­de­rung zu fes­seln. Wir sehen wohl unse­re Nie­der­la­ge, aber begrei­fen sie nicht als Signa­le, als Kon­se­quen­zen eines ver­kehr­ten Stre­bens, eines Stre­bens weg von unse­rem Selbst.
(Max Frisch – Stiller)