Wenn du in einen Abgrund blickst

„Wie­so bist du hier?“

„Ich bin gekom­men, um end­lich das zu tun, wor­auf ich schon so lan­ge warte.“

„Du kannst mich nicht töten, das weißt du. Er wird es nicht zulas­sen. Du wur­dest ver­bannt, das ist nicht mehr dein Reich.“

„Er war glück­li­cher, bevor du kamst, und er fängt an, das zu begreifen.“

„Er war nicht glücklich.“

„Dei­ne gewohn­te Über­heb­lich­keit, mein Freund. Nein, er war nicht glück­lich, aber war nie so unglück­lich wie jetzt, nach alle­dem, was du ihm ange­tan hast.“

„Was ich ihm ange­tan habe? Du bist so selbst­ge­recht wie eh und je. Ich war für ihn Prometheus!“

„Du warst für ihn Pandora.“

„Ich gab ihm Hoffnung…“

„Ent­täuscht!“

„…ich gab ihm Zuversicht …“

„Ernüch­tert!“

„…ich gab ihm Glau­ben an das Gute.“

„Und was hat es gebracht? Was hat es ihm gebracht?“

„Er führt end­lich ein Leben, ein rich­ti­ges Leben. Was für ein Leben war es denn zuvor, bevor ich kam, als er noch füg­sam auf dich hör­te? Was waren dei­ne Leis­tun­gen für ihn, was hast du Gutes je für ihn getan? Du hast ihn mit dem Wahn infi­ziert, die Welt habe ihm nichts, aber auch gar nichts zu bie­ten, hast ihn ent­mu­tigt und ihn mit­lei­dig beschwo­ren, sich hin­ter einer Mau­er zu ver­ste­cken, die du bereit­wil­lig für ihn errich­tet hast. Alles, was er sah, das war für ihn nur schlecht, böse und es nicht wert, sich dar­auf einzulassen.“

„Bis du kamst, nicht wahr, und ihm gesagt hast, er brau­che nur in das Gute zu ver­trau­en, und das Gute wür­de gesche­hen. Oh, du Narr! Er war naiv genug, um dir zu glau­ben, doch was bekam er dann dafür? Ent­täu­schung, Wut, Ver­zweif­lung. Es hat sich nie gelohnt. Das Gute, das du ihm ver­sprachst, hat er bis heu­te nicht gesehen.“

„Er wird es sehen und das War­ten wird sich für ihn loh­nen, wenn er bloß jetzt nicht resi­gniert, wenn er sich Offen­heit bewahrt und nicht in sei­nem Gram ver­schließt. Bleib von ihm fern, und auf lan­ge Sicht wird alles gut.“

„Das War­ten, das War­ten, das War­ten. Wie lan­ge soll er denn noch war­ten? Schau ihn dir an, er hat genug vom War­ten. Wer kann es ihm ver­übeln? Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr ver­trös­test du ihn mit die­sem vor­lau­ten, hane­bü­che­nen Opti­mis­mus, er müs­se nur Geduld haben, und das Gute wer­de ihn erei­len. Nie hat er irgend­was davon gese­hen, bis heu­te wur­de es nicht wahr. Zum Teu­fel mit der Geduld! Zum Teu­fel mit der Offenheit!“

„Du wirst ihn nicht wie­der bekom­men. Er ist ein bes­se­rer geworden.“

„Ach ja? Wie war er denn, bevor du ihn ver­füh­ren kamst?“

„Zynisch. Er war ein Pes­si­mist, er hat­te kei­ner­lei Erwar­tun­gen an die Welt, denn da warst du und hast sie ihm genommen.“

„Aber du gabst ihm Erwar­tun­gen, Hoff­nun­gen und Vertrauen…?“

„Ganz recht, ich gab ihm Erwar­tun­gen, Hoff­nun­gen und Ver­trau­en, wäh­rend du ihm alles nahmst.“

„Du gabst ihm Luft­schlös­ser, Träu­me und Illu­sio­nen! Du hast ihm die ver­bo­te­ne Frucht prä­sen­tiert und er, er hat sie sich genom­men. Hat sich eine sei­ner Erwar­tung erfüllt, die du in ihm gesät hast? Irgend­ei­ne? Sein Unglück, das ihn nun so quält, was glaubst du wohl, woher es rührt? Jede ernst­haf­te Erwar­tung wur­de ent­täuscht, jede auf­rich­ti­ge Hoff­nung, jedes offe­ne Ver­trau­en. Wo du auf­trittst, endet es immer wie­der gleich. Quel­len der Pein sind alles, was du ihm gege­ben hast. Das ist sein Unglück! Ohne dich hät­te er all das Leid nie erfah­ren, und er leb­te gut so, bevor du anfingst, alles zu zerstören.“

„Ja, denn das war dei­ne Lösung für ihn: Lee­re. Natür­lich, er konn­te nicht ent­täuscht wer­den, wenn er kei­ner­lei Erwar­tun­gen heg­te, aber kann ein Mensch so je glück­lich wer­den? Er wird sein Glück nur fin­den kön­nen, wenn er das Risi­ko wagt, von Zeit zu Zeit ent­täuscht zu wer­den. Du aber hast ihm alles genom­men, für das es sich zu leben lohnt. Er hat­te kei­ner­lei Hoff­nung für die Zukunft. Es gab nie­man­den, dem er sein Ver­trau­en schenk­te. Kein Mensch war ihm wich­tig, die Welt für ihn ein schlech­ter Ort. Und du besitzt die Unver­schämt­heit, es zu wagen, das ein gutes Leben zu nen­nen, was er da führte?“

„Ein bes­se­res als du es ihm geschaf­fen hast. Zynis­mus hat ihn nie so hart ent­täuscht wie du. Frü­her war er stär­ker, frü­her hat­te er sein Boll­werk gegen die Welt. Doch dann kamst du, mein Freund, der edle Befrei­er, und du erst hast ihm ein­ge­re­det, er kön­ne so nicht leben, das mache ihn nicht glück­lich, er sol­le alle Tore sei­ner Fes­tung öff­nen, um das Gute in sein Leben zie­hen zu las­sen. Aber was kam wirk­lich durch die Tore? Sieh ihn dir an! Er ist unglück­li­cher als je zuvor.“

„Er kann nicht ein­fach wie­der zurück­ge­hen, nicht nach­dem er so weit gekom­men ist. Wenn er die Hoff­nung fah­ren lässt, ist er so gut wie tot, das siehst auch du. Ich zei­ge ihm das Leben, du zeigst ihm bloß Verzweiflung.“

„Ich zei­ge ihm, wie er Ver­zweif­lung aus dem Weg geht, die du erst in sein Leben gebracht hast. Er hat genug von dir. Sei­ne Geduld ist am Ende, des­we­gen bin ich hier. Er wird dich nicht län­ger beschüt­zen. Du hat­test dei­ne Chan­ce und du hast versagt.“

Wer mit Unge­heu­ern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Unge­heu­er wird, schreibt Nietz­sche, und wenn du lan­ge in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

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