Anthemoessa

Er erwachte völlig entkräftet in einem Krankenhausbett und konnte sich weder daran erinnern wie noch warum er hierhergekommen war. Hatte er einen Unfall gehabt, war er einfach bloß umgekippt oder hatte er vielleicht einen Schlaganfall erlitten? Seine Arme und seine Beine schmerzten ihn, und als er versuchte, sie mehr als ein paar Zentimeter zu bewegen, gab er nach kurzer Zeit erschöpft auf. Seine Augen vernahmen eine menschliche Silhouette neben dem Bett, doch noch erkannte er darin kein Gesicht. Verwirrt und ohne diesen Schatten direkt anzusprechen, stammelte er bloß: „Wo… wo bin ich hier? Was ist mit mir passiert?“
„Pssst“, flüsterte eine Frauenstimme zärtlich. „Sei unbesorgt, mein Schatz, alles wird wieder gut. Hab keine Angst. Du bist hier in den besten Händen. “
Er erkannte diese Stimme sofort. Sie gehörte seiner Freundin, genaugenommen seiner ehemaligen Freundin, dieser Frau aus vergangenen Zeiten, die ihn, wie er es ausdrücken würde, vor drei elend langen Jahren aus Gründen verlassen hat, die er nie verstehen wird, nachdem sie beide für fünf gute Jahre eine Beziehung miteinander geführt hatten. Als es zum Ende kam, ging sie fort und warf nie einen Blick zurück, doch er kam niemals über sie hinweg. Er dachte immer noch an sie und er vermisste sie an jedem Morgen, wenn er aufwachte, an jedem Abend, wenn er einschlief, in jedem Bett, in dem er lag. Am Anfang glaubte er, das ginge bald vorbei, er würde das Vermissen hinter dem Alltag leicht verbergen können, und wäre erst etwas Zeit vergangen, dann würde er sie irgendwann vergessen, doch es verstrich erst ein Jahr, dann zwei Jahre und schließlich drei, ohne dass es ihm gelang, sie aus seinen Gedanken und vor allem aus seinen Gefühlen zu verbannen. Mehrmals hatte er in dieser Zeit versucht, eine Beziehung mit einer anderen Frau aufzubauen, also weiterzumachen, die Wunden der Vergangenheit wenn schon nicht zu heilen, dann doch wenigstens zu verbinden, aber keinem dieser Versuche war letzten Endes ein langer Bestand gegönnt. Er musste sich irgendwann eingestehen, dass keine dieser Beziehungen einen Wert für sich hatte, sondern sie in Wahrheit nur ein unbewusster und verzweifelter Versuch waren, seine ehemalige Freundin zu ersetzen, die für ihn so unersetzbar war. Keine dieser Ersatzbeziehungen konnte er für allzu lange Zeit aufrechterhalten, keine dieser Frauen konnte ihn verzaubern, denn jede von ihnen verglich er mit ihr und keine war für ihn so gut wie sie, keine genügte seinem Vergleich, keine war ein Duplikat seiner einzigen großen Liebe.
„Du? Wieso bist du hier? Und… du nennst mich Schatz? Warum? Wir sind… schon so lange nicht mehr zusammen.“
„Ich dachte, es würde dir gefallen. Ich weiß, wie sehr du mich vermisst.“
„Was weißt du schon“, seufzte er.
„Ich kann es dir nicht verübeln“, ergänzte sie kokett, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte in sein Ohr: „Ich war das Beste, das dir je passiert ist, und ich werde es für immer sein.“
„Warum bist du hier?“ wiederholte er seine Frage.
„Freust du dich denn nicht? Ich weiß, dass du bis heute ständig an mich denkst, selbst nach all den Jahren. Ich weiß, wie sehr du mich brauchst, jetzt noch mehr denn je, und dass du mich nicht loslassen kannst, selbst wenn du wolltest. Du vermisst mich, du hast dich in deiner Sehnsucht eingemauert und du kommst dort nicht heraus. Kann es einen größeren Liebesbeweis geben als jenen, welchen du mit dir herumträgst? Ich bin hier, weil ich das weiß, und weil ich schätzen gelernt habe, wie sehr du wirklich an mir hängst.“
Unter großer Anstrengung drehte er sich in seinem Bett von ihr weg und verbarg sein Gesicht, damit sie darin nicht sehen konnte, wie sehr sie ihn mit diesen Worten erwischt hatte.
„Entschuldige, mein Schatz, ich lass dich erst einmal allein. Du bist noch sehr schwach und sicher auch sehr müde. Wir reden später. Nimm die hier, die helfen dir“, sagte sie und zeigte auf zwei Pillen und ein Glas mit Wasser, das direkt daneben stand. Dann ging sie zur Tür, drehte sich noch einmal um, pustete ihm einen Luftkuss zu und verließ den Raum.
In den darauffolgenden Tagen verbesserte sich sein Zustand ein wenig, doch fiel es ihm noch immer schwer, Arme und Beine zu bewegen, sodass an Aufstehen noch lange nicht zu denken war. Das Zimmer, in dem er sich befand, war relativ klein, er sah zwei Schränke, ein Fenster und einen bescheidenen Tisch mit einem Stuhl. Jeden Tag besuchte ihn seine ehemalige Freundin und umsorgte ihn liebevoll. Sie brachte ihm Bücher, Zeitschriften und Mahlzeiten, sie unterhielt sich mit ihm über die alten, gemeinsamen Zeiten, erzählte ihm von den neuesten Ereignissen und versorgte ihn mit neuen Medikamenten. Er fühlte sich in ihren Händen geborgen und konnte bei weitem nicht verhehlen, sich über ihre Anwesenheit mehr als nur zu freuen. Die Zeit verging jedoch, ohne dass sich sein Zustand wesentlich verbessert hätte, doch was ihn viel mehr verwunderte, war die merkwürdige Tatsache, dass er während seines Aufenthalts bislang kein Pflegepersonal oder einen Arzt zu Gesicht bekommen hatte. Selbst als er den kleinen Knopf drückte, um jemanden an sein Bett zu rufen, kam niemand, es geschah nichts. Einzig seine Ex-Freundin erschien mit einer gewissen Regelmäßigkeit, also sprach er sie darauf an:
„Ich habe hier noch nie eine Schwester gesehen, geschweige denn einen Arzt.“
„Sei unbesorgt, mein Schatz, man kümmert sich sehr gut um dich. Ich habe dem Personal klargemacht, dass ich mich, soweit es geht, alleine um dich kümmern werde und man dein Zimmer wirklich nur im Notfall zu betreten hat. Ich will keine Leute hier um dich herum, die dich ständig stören oder mit irgendwas belästigen, wenn du dich doch schonen musst.“
„Aber nicht einmal ein Arzt war hier…“
„Doch, doch“, beruhigte sie ihn, „der Arzt war gestern Abend bei dir, als du schon tief und fest geschlafen hast. Ich war dabei. Du hast geschlafen wie ein Stein, aber deinen Schlaf hast du auch bitter nötig. Der Arzt wollte dich aufwecken, aber ich hab ihn angefaucht, er soll dich bloß in Ruhe lassen, solange es kein Notfall ist. Da ist er gegangen.“ Sie fing an zu lachen. „Du weißt, ich kann sehr überzeugend sein.“
Als sie nach ein wenig Plauderei schließlich ging, nahm er sich vor, an diesem Abend einfach so lange es ihm möglich sein würde wach zu bleiben, sollte der Arzt erneut nach seinem Zustand sehen wollen. Er rang mit der Müdigkeit, aber er ließ sich von ihr nicht übermannen, und so wartete er bis in die frühen Morgenstunden. Es erschien weder ein Arzt noch sonst irgendjemand. Schließlich schlief er ein und wurde einige Stunden später von seiner einzigen, treuen Besucherin geweckt, die ihm sein Frühstück ans Bett servierte.
An diesem Morgen jedoch war er aufgrund des wenigen Schlafs völlig ausgelaugt, und als er die Pillen zu sich nehmen wollte, die schon seit dem ersten Tag jede seiner Mahlzeiten begleiteten, verlor er sie aus den Fingern. Sie schienen unter sein Bett zu rollen, aber so genau konnte er das nicht beobachten. Seine ehemalige Freundin stand währenddessen am Fenster und bekam von alledem nichts mit, also beließ er es dabei. In den folgenden Stunden bemerkte er, dass das Gefühl in seinen Armen und Beinen mehr und mehr zurückkehrte und es ihm zunehmend leichter fiel, sie zu bewegen. Er wusste nicht, ob er das als Zufall abtun oder auf das Auslassen der Medikamente zurückführen sollte, also sprach er diese Frage am Abend an:
„Was sind das eigentlich für Pillen, die du mir jedes Mal mitbringst?“
„Die sind für deine Schmerzen, mein Schatz“, entgegnete sie mit einem Lächeln auf den Lippen, in das er sich damals sofort verliebt hatte, „die sollen dich beruhigen.“
Unter Schmerzen jedoch litt er nur, wenn er diese Mittel zu sich nahm, doch dass er zu dieser Erkenntnis gekommen war, wollte er ihr nicht mitteilen. Er entschloss sich dazu, die Pillen in Zukunft heimlich zu meiden. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte er bei sich, erst sah er weit und breit kein Personal und nun dieser… Zufall.
Am nächsten Morgen fühlte er sich wesentlich besser, sehr zu seiner Verwunderung. Arme und Beine konnte er nun frei bewegen, so als sei niemals irgendwas geschehen. War denn je irgendwas geschehen? Er richtete sich zunächst im Bett auf, schwang dann die Beine heraus und stand schließlich auf, ohne jene Gliederschmerzen zu verspüren, die ihn seit seinem Aufwachen ans Bett gefesselt hatten. Nach kurzem Zögern ging er zur Tür, doch als er die Klinke herunterdrückte, geschah gar nichts. Sie ließ sich nicht öffnen. Und da verstand er. Die Pillen sollten ihm nicht helfen, sie sollten ihn im Bett halten. Sie wollte ihn nicht gehen lassen.
Sein Blick fiel auf das Fenster, das der einzige Ausweg zu sein schien. Er zog den Vorhang zur Seite, öffnete es und musste feststellen, dass er sich hier wohl im vierten oder fünften Stock befand. Ein Sprung würde wahrscheinlich tödlich enden, und irgendetwas, an dem er sich hätte festhalten, an dem er nach unten hätte klettern können, konnte er nicht sehen. Er war gefangen. Plötzlich hörte er ein Geräusch an der Tür, und bevor er sich zurück ins Bett legen konnte, stand sie schon im Raum und warf ihm einen überraschten Blick zu.
„Dein Zustand hat sich endlich gebessert“, sagte sie und versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. „Ich bin so glücklich, ich dachte schon, du würdest für immer dort liegen bleiben.“
„Die Tür war abgesperrt“, bemerkte er knapp. „Warum?“
„Ach, mein Schatz, das ist nur zu deinem Besten.“
„Erklär mir das! Wie zum Teufel soll das denn zu meinem Besten sein?“
„Vertraust du mir nicht mehr?“
„Es fällt mir zunehmend schwer, jemandem zu vertrauen, der mich einsperrt und mit irgendwelchem Zeug vollpumpt, das mir jede Handlung unmöglich macht.“
„Reg dich bitte nicht auf.“
„Bring mir einen Arzt!“
„Es gibt hier keine Ärzte. Ich kümmere mich um dich, nur ich.“
„Du bist verrückt!“
„Leg dich wieder hin, mach es dir gemütlich und lass dich einfach von mir versorgen. Ich habe dich in den letzten drei Jahren im Stich gelassen, das tut mir leid, aber alles kann wieder so werden, wie du es dir wünschst. Wir bleiben zusammen, nur wir beide. Du brauchst sonst niemanden. Niemanden!“
Er sah sie an und blickte dann zum Fenster, das immer noch geöffnet war. Ihr überraschtes Gesicht wich einem Ausdruck der Verzweiflung, dann purer Wut. Als sie einige Schritte auf ihn zuging, stieg er in das Fenster, hielt sich am Rahmen fest und sprach zu ihr, sie solle zurückbleiben, sie solle ihn nicht anrühren, sonst würde er springen. Sie blieb stehen und setzte wieder ihr berauschendes Lächeln auf.
„Ich weiß, du vermisst mich an jedem einzelnen Tag, seitdem ich dich verlassen habe.“ Ihre Stimme war süß und gleichzeitig voller Erotik, so als wolle sie ihn verführen. „Ich weiß, du liebst mich heute noch genau wie vor drei Jahren, und ich weiß, dass du auch immer noch die Hoffnung hegst, mit mir dein ganzes Leben zu verbringen. Wir könnten zusammen noch einmal anfangen, das hast du dir doch all die Jahre gewünscht. Nur du und ich, für immer. Bleib bei mir, mein Schatz. Willst du dein Leben denn einfach wegschmeißen, wenn du loslässt und springst?“
„Du bist nicht mein Leben!“, schrie er sie an, blickte in ihre Augen, löste die Finger vom Rahmen und ließ sich aus dem Fenster fallen. „Du warst es viel zu lang.“
Völlig benommen wachte er in einem Krankenhausbett auf und konnte sich weder daran erinnern wie noch warum er hierhergekommen war. Neben dem Bett erkannte er eine menschliche Silhouette, die irgendetwas zu irgendjemandem sagte, den er nicht sehen konnte. Plötzlich erschien eine zweite Gestalt, die sich ihm als Arzt vorstellte und ihm erklärte, es habe lange Zeit nicht gut für ihn ausgesehen: „Sie waren für einige Zeit im Koma, aber nun haben Sie ja doch noch den Sprung zurück ins Leben geschafft.“

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