Zu mei­nen, wenn man allen glei­che wirt­schaft­li­che Mit­tel bereit­stel­le, gäbe man auch allen, sofern sie die uner­läß­li­che „Bega­bung“ mit­bräch­ten, glei­che Chan­cen (…), hie­ße in der Ana­ly­se der Hin­der­nis­se auf hal­bem Wege ste­hen­blei­ben und über­se­hen, daß die an Prü­fungs­kri­te­ri­en gemes­se­nen Fähig­kei­ten weit mehr als durch natür­li­che „Bega­bung“ (…) durch die mehr oder min­der gro­ße Affi­ni­tät zwi­schen den kul­tu­rel­len Gewohn­hei­ten einer Klas­se und den Anfor­de­run­gen des Bil­dungs­we­sens oder des­sen Erfolgs­kri­te­ri­en bedingt sind. (…) Das kul­tu­rel­le Erbe ist so aus­schlag­ge­bend, daß auch ohne aus­drück­li­che Dis­kri­mi­nie­rungs­maß­nah­men die Exklu­si­vi­tät garan­tiert bleibt, da hier nur aus­ge­schlos­sen scheint, wer sich selbst aus­schließt. (…) Die Mecha­nis­men, die zur Eli­mi­nie­rung der Kin­der aus den unte­ren und mitt­le­ren Klas­sen füh­ren, wären bei einer sys­te­ma­ti­schen Sti­­pen­­di­en- und Stu­di­en­bei­hil­fe­po­li­tik, die alle Gesell­schafts­klas­sen for­mal gleich­stel­len wür­de, fast eben­so (nur dis­kre­ter) wirk­sam; daß die ver­schie­de­nen Gesell­schafts­klas­sen auf den ver­schie­de­nen Stu­fen des Bil­dungs­we­sens ungleich ver­tre­ten sind, lie­ße sich dann mit noch bes­se­rem Gewis­sen auf unglei­che Bega­bung und unglei­chen Bil­dungs­ei­fer zurück­füh­ren. Kurz, die Trag­wei­te der sozia­len Ungleich­heits­fak­to­ren ist so groß, daß auch eine wirt­schaft­li­che Anglei­chung nicht viel ändern wür­de, da das Bil­dungs­sys­tem immer wei­ter sozia­les Pri­vi­leg in Bega­bung oder indi­vi­du­el­les Ver­dienst umdeu­ten und die Ungleich­heit dadurch legi­ti­mie­ren wür­de. (…) In der Über­zeu­gung, daß man nur ordent­lich zu rech­nen brau­che, um in der bes­ten aller denk­ba­ren Gesell­schaf­ten auch das bes­te aller Bil­dungs­we­sen zu schaf­fen, ver­fal­len die neu­en opti­mis­ti­schen Phi­lo­so­phen der Sozi­al­ord­nung in die alte Spra­che aller Sozio­di­ze­en, die zu bewei­sen ver­su­chen, daß die Sozi­al­ord­nung so ist, wie sie sein soll, weil man ihre schein­ba­ren Opfer nicht ein­mal mehr zur Ord­nung rufen muß, da sie ohne­hin bereit­wil­lig das sind, was sie sein sol­len. Die­se Bil­dungs­for­scher die­nen still­schwei­gend der Funk­ti­on der Legi­ti­mie­rung und Bewah­rung der Sozi­al­ord­nung, die das Bil­dungs­we­sen erfüllt, wenn es die Klas­sen, die es aus­schließt, von der Legi­ti­mi­tät ihres Aus­schlus­ses über­zeugt, indem es sie hin­dert, die Prin­zi­pi­en, auf­grund derer es sie aus­schließt, zu erken­nen und anzu­fech­ten. Die Urtei­le der Bil­dungs­in­stan­zen sind des­halb so defi­ni­tiv, weil sie mit der Ver­ur­tei­lung zugleich Ver­ges­sen über die sozia­len Impli­ka­tio­nen des Urteils ver­hän­gen. Damit sozia­les Schick­sal in freie Beru­fung und per­sön­li­ches Ver­dienst umge­deu­tet wer­den kann (…), muß das Bil­dungs­we­sen als „Obers­ter Pries­ter der Göt­tin Not­wen­dig­keit“ die Indi­vi­du­en erfolg­reich davon über­zeu­gen, daß sie ihr Schick­sal, das durch die sozia­le Not­wen­dig­keit längst über sie ver­hängt war, selbst gewählt oder ver­dient haben. Bes­ser als die poli­ti­schen Reli­gio­nen, deren kon­stan­tes­te Funk­ti­on (…) dar­in bestand, die herr­schen­den Klas­sen mit einer Theo­di­zee ihres Pri­vi­legs aus­zu­stat­ten, bes­ser als die Heils­leh­ren vom Jen­seits, die zur Per­p­etu­ie­rung der Sozi­al­ord­nung durch das Ver­spre­chen bei­tru­gen, die­se Ord­nung wer­de nach dem Tode umge­stürzt, bes­ser als die Dok­trin vom Kar­ma, die (…) den sozia­len Rang jedes Indi­vi­du­ums im Kas­ten­sys­tem aus dem Grad sei­ner reli­giö­sen Voll­kom­men­heit im Kreis­lauf der See­len­wan­de­rung ablei­te­te, ver­mag es heu­te das Bil­dungs­we­sen mit sei­ner Ideo­lo­gie der „natür­li­chen Bega­bung“ und der „ange­bo­re­nen Nei­gun­gen“, den Kreis­lauf der Repro­duk­ti­on der sozia­len Hier­ar­chien und der Bil­dungs­hier­ar­chien zu legitimieren.
(Pierre Bour­dieu / Jean-Clau­­de Pas­se­ron – Die Illu­si­on der Chancengleichheit)

Wer sich nicht mit Poli­tik befaßt, hat die poli­ti­sche Par­tei­nah­me, die er sich spa­ren möch­te, bereits voll­zo­gen: er dient der herr­schen­den Partei.
(Max Frisch)

Wenn die Pflicht­er­fül­lung durch den sozia­len Druck zur dau­ern­den Antriebs­fe­der wird, ver­stärkt sich fort­wäh­rend die Bereit­schaft, sich dem Wil­len eines ande­ren zu unter­wer­fen. Außer­dem wird immer wei­ter beschnit­ten, was noch vom Gefühl der Eigen­ver­ant­wort­lich­keit – und der Fähig­keit zum Mit­ge­fühl – übrig­ge­blie­ben ist. Pflicht­er­fül­lung wird ein will­kom­me­ner Weg, auf dem man der per­sön­li­chen Ver­ant­wor­tung, die durch Mit­ge­fühl erwa­chen könn­te, ent­kom­men kann. Hat man sich für die Pflicht­er­fül­lung ent­schie­den, so ent­geht man auch dem Schmerz, der von dem eige­nen Mit­ge­fühl her­vor­ge­ru­fen wer­den könn­te. Ein so von der Pflicht beses­se­ner Mensch ist sogar dazu bereit, in treu­er Pflicht­er­fül­lung zu ster­ben – und die­se abs­trak­te Idee hält er für Verantwortlichkeit.

Gehor­sam wird dann zum eigent­li­chen Sinn des Lebens. Es sei an die Kriegs­ver­bre­cher erin­nert, die die­se Ent­schul­di­gung oft vor­brin­gen. Sie soll­ten uns end­lich die Augen öff­nen für die wah­re Bedeu­tung jeder Art von Gehor­sam. Unter dem Deck­man­tel des Befehls gescha­hen alle Arten von Grau­sam­kei­ten und Mord­ta­ten, ohne daß einer die Ver­ant­wor­tung dafür hat über­neh­men müs­sen. In einem gewis­sen Sinn ist die­se Ent­schul­di­gung sogar rich­tig: Die eige­ne See­le hat­te nichts damit zu tun, sie wur­de außer Reich­wei­te des­sen gehal­ten, dem man gehor­sam war. Die­ser trug schließ­lich die Ver­ant­wor­tung. Unter die­ser Vor­aus­set­zung fällt es sol­chen Men­schen auch nicht schwer, die Her­ren zu wech­seln.
Nicht selbst die Ver­ant­wor­tung zu tra­gen ist Bestand­teil der Grund­lü­ge. Sie ver­deckt, was die ursprüng­li­che Ent­schei­dung – die Lebens­ent­schei­dung – war: näm­lich sich mit der Unter­wer­fung abzu­fin­den und sein inne­res Leben auf­zu­ge­ben, um an der Macht zu par­ti­zi­pie­ren. An genau die­sem Punkt fällt die Ent­schei­dung dar­über, ob ein Mensch Selbst­ver­ant­wor­tung und die Ver­ant­wor­tung ande­ren gegen­über entwickelt.

Am 27. März 1979 wur­de wäh­rend einer poli­ti­schen Demons­tra­ti­on in der Schweiz ein Schrift­stel­ler von zwei Poli­zis­ten fest­ge­nom­men und zusam­men­ge­schla­gen. Einer der Poli­zis­ten sag­te bei der spä­te­ren Gerichts­ver­hand­lung: »Was wol­len Sie denn von mir? Ich habe mein Leben lang gehorcht, als Kind, als Schü­ler, in der Aus­bil­dung, als Sol­dat und nun als Poli­zist. Ich habe nur mei­ne Befeh­le aus­ge­führt.«
Hier inter­es­siert nicht so sehr die Tat­sa­che, daß der Poli­zist dann vor Gericht für sich in Anspruch nahm, »auf Befehl« gehan­delt zu haben, son­dern daß er die Ent­wick­lungs­ge­schich­te des Gehor­sams vor­führ­te: Man wächst damit auf, daß man gehor­sam sein muß, nicht aber damit, daß man selbst – und für sich selbst – den­ken und füh­len kann. Und es bleibt ver­bor­gen, daß die­se Ein­übung genau das her­vor­ruft, wovor die Gesell­schaft Angst hat: näm­lich Destruk­ti­vi­tät – vor der sie sich ver­geb­lich durch die Ein­übung in Gehor­sam zu schüt­zen versucht.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

So tief kann kein Mensch sin­ken, als daß er nicht immer noch tie­fer sin­ken könn­te, so Schwe­res kann kein Mensch erdul­den, als daß er nicht noch Schwe­re­res ertra­gen könn­te. Hier ist es, wo der Geist des Men­schen, der ihn angeb­lich über das Tier erhebt, ihn tief unter das Tier ernied­rigt. Ich habe Pack­zü­ge von Kame­len, von Lamas, von Eseln und von Maul­tie­ren getrie­ben. Ich habe Dut­zen­de unter die­sen Tie­ren gese­hen, die sich hin­leg­ten, wenn sie nur mit drei Kilo­gramm über­la­den waren, die sich hin­leg­ten, wenn sie sich schlecht behan­delt glaub­ten, und die sich klag­los hät­ten zu Tode peit­schen las­sen – und auch das habe ich gese­hen -, als auf­zu­ste­hen, die Last zu über­neh­men oder die schlech­te Behand­lung wei­ter zu erdul­den. Ich habe Esel gese­hen, die zu Leu­ten ver­kauft wor­den waren, die Tie­re schänd­lich pei­nig­ten, und die Esel hör­ten auf zu fres­sen und star­ben weg. Nicht ein­mal Mais ver­moch­te ihren Ent­schluß zu ändern. Aber der Mensch? Der Herr der Schöp­fung? Er liebt es, Skla­ve zu sein, er ist stolz, Sol­dat sein zu dür­fen und nie­der­kar­tätscht zu wer­den, er liebt es, gepeitscht und gemar­tert zu wer­den. War­um? Weil er den­ken kann. Weil er sich Hoff­nung den­ken kann. Weil er hofft, daß es auch wie­der bes­ser­ge­hen wird. Das ist sein Fluch und nie sein Segen.
(B. Tra­ven – Das Totenschiff)

Der chro­nisch Ver­bit­ter­te bemerk­te sei­ne Krank­heit nur ein­mal in der Woche: am Sonn­tag­nach­mit­tag. Dann, wenn weder sei­ne Arbeit noch die Rou­ti­ne ihm hal­fen, die Sym­pto­me zu lin­dern, bemerk­te er, daß irgend etwas nicht stimm­te. Denn der Frie­den die­ser Nach­mit­ta­ge war die reins­te Höl­le, die Zeit ver­ging nicht, und er war stän­dig gereizt. Doch dann wur­de es wie­der Mon­tag, und der Ver­bit­ter­te ver­gaß sei­ne Sym­pto­me, auch wenn er schimpf­te, daß er nie­mals Zeit hät­te, sich aus­zu­ru­hen, und sich dar­über beklag­te, daß die Wochen­en­den immer so schnell ver­gin­gen. Die­se Krank­heit hat­te jedoch einen Vor­teil. Sie war gesell­schaft­lich gese­hen bereits zur Regel gewor­den. Der größ­te Teil der Ver­bit­ter­ten konn­te drau­ßen wei­ter­le­ben, ohne die Gesell­schaft zu bedro­hen, da sie wegen der Mau­ern, die sie um sich errich­tet hat­ten, voll­kom­men iso­liert waren, obwohl es so aus­sah, als näh­men sie am sozia­len Leben teil.
(Pau­lo Coel­ho – Vero­ni­ka beschließt zu sterben)