Um verstehen zu können, habe ich mich zerstört. Verstehen heißt das Lieben vergessen. Ich kenne nichts, was zugleich falscher und bedeutsamer wäre als der Ausspruch Leonardo da Vincis, demnach wir etwas nur lieben oder hassen können, wenn wir es verstanden haben.
Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe
Möglich, der Mann hat recht. Vielleicht ist er gar nicht so ein Biest. Warum sollen Menschen denn Biester sein? Ich glaube beinahe, der Staat ist das Biest. Der Staat, der den Müttern die Söhne nimmt, um sie den Götzen vorzuwerfen. Dieser Mann ist der Diener des Biestes, wie der Henker der Diener des Biestes ist. Alles, was der Mann sagte, war auswendig gelernt. Das hatte er jedenfalls lernen müssen, als er seine Prüfung ablegte, um Konsul zu werden. Das ging klipp-klapp. Auf jede meiner Aussagen hatte er eine passende Antwort, die mir sofort das Maul stopfte. Als er jedoch fragte: »Haben Sie Hunger? Haben Sie schon gegessen?«, da wurde er plötzlich Mensch und hörte auf, Biestdiener zu sein. Hunger haben ist etwas Menschliches. Papiere haben ist etwas Unmenschliches, etwas Unnatürliches. Darum der Unterschied. Und das ist die Ursache, warum Menschen immer mehr aufhören, Menschen zu sein, und anfangen, Figuren aus Papiermaché zu werden. Das Biest kann keine Menschen brauchen; die machen zuviel Arbeit, Figuren aus Papiermaché lassen sich besser in Reih und Glied stellen und uniformieren, damit die Diener des Biestes ein bequemeres Leben führen können.
B. Traven – Das Totenschiff
Jemandem zu begegnen bedeutet, sich zu verwickeln. Es wird ein unsichtbarer Faden geknüpft. Von Mensch zu Mensch. Lauter Fäden. Kreuz und quer. Jemandem zu begegnen bedeutet, Teil seines Gewebes zu werden.
Milena Michiko Flašar
Wenn du mit einem realen Menschen zusammensein und dessen Wesenskern spüren willst, mußt du mit ihm allein sein. Jedes weitere Paar Augen und Ohren verwässert nur diesen Wesenskern. Wenn du mit zwei deiner besten Freunde essen gehst, wirst du nicht mit zwei vollständigen Personen unterwegs sein, und sie werden sich nicht so offen benehmen, wie sie es täten, wenn sie mit dir allein wären. Bist du mit einem Freund oder einer Freundin auf einer großen Party, erlebst du nur einen Bruchteil seiner oder ihrer wahren Persönlichkeit. Übertrage diesen Gedanken auf nationale, globale oder sogar evolutionäre Zusammenhänge, und schon ergibt vielleicht alles, was je geschehen ist, mehr Sinn.
Joey Goebel – Freaks
Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet. Ich entziehe einer Zivilisation das Vertrauen, die den Geist an den Körper verraten hat. Ich entziehe einem Körper das Vertrauen, der nicht mein eigenes Fleisch und Blut, sondern eine kollektive Vision vom Normalkörper darstellen soll. Ich entziehe einer Normalität das Vertrauen, die sich selbst als Gesundheit definiert. Ich entziehe einer Gesundheit das Vertrauen, die sich selbst als Normalität definiert. Ich entziehe einem Herrschaftssystem das Vertrauen, das sich auf Zirkelschlüsse stützt. Ich entziehe einer Sicherheit das Vertrauen, die eine letztmögliche Antwort sein will, ohne zu verraten, wie die Frage lautet. Ich entziehe einer Philosophie das Vertrauen, die vorgibt, dass die Auseinandersetzung mit existentiellen Problemen beendet sei. Ich entziehe einer Moral das Vertrauen, die zu faul ist, sich dem Paradoxon von Gut und Böse zu stellen und sich lieber an »funktioniert« oder »funktioniert nicht« hält. Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt. Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. Ich entziehe einer METHODE das Vertrauen, die lieber der DNA eines Menschen als seinen Worten glaubt. Ich entziehe dem allgemeinen Wohl das Vertrauen, weil es Selbstbestimmtheit als untragbaren Kostenfaktor sieht. Ich entziehe dem persönlichen Wohl das Vertrauen, solange es nichts weiter als eine Variation auf den kleinsten gemeinsamen Nenner ist. Ich entziehe einer Politik das Vertrauen, die ihre Popularität allein auf das Versprechen eines risikofreien Lebens stützt. Ich entziehe einer Wissenschaft das Vertrauen, die behauptet, dass es keinen freien Willen gebe. Ich entziehe einer Liebe das Vertrauen, die sich für das Produkt eines immunologischen Optimierungsvorgangs hält. Ich entziehe Eltern das Vertrauen, die ein Baumhaus »Verletzungsgefahr« und ein Haustier »Ansteckungsrisiko« nennen. Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst. Ich entziehe jenem Idioten das Vertrauen, der das Schild am Eingang unserer Welt abmontiert hat, auf dem stand: »Vorsicht! Leben kann zum Tode führen.«
Juli Zeh – Corpus Delicti
»Weil das Leben so sinnlos ist«, sagt Mia, »und man es trotzdem irgendwie aushalten muss, bekomme ich manchmal Lust, Kupferrohre beliebig miteinander zu verschweißen. Bis sie vielleicht einem Kranich ähneln. Oder einfach nur ineinandergewickelt sind wie ein Nest aus Würmern. Dann würde ich das Gebilde auf einen Sockel montieren und ihm einen Namen geben.« (…) »Nur, damit etwas bleibt«, sagt Mia. »Um etwas Zweckloses zu schaffen. Alles, was einen Zweck hat, erfüllt ihn eines Tages und ist damit verbraucht.«
Juli Zeh – Corpus Delicti
Natürlich kann ich hier arbeiten. Da arbeiten ja auch andere. Das sehe ich mit eignen Augen. Was ein andrer kann, das kann ich auch. Der Nachahmungstrieb des Menschen macht Helden und macht Sklaven. Wenn der nicht an den Peitschenhieben stirbt, dann werde ich sie wohl auch überleben können. […] Natürlich kann ich das auch. So geht der Krieg voran, und so fahren die Totenschiffe, alles nach dem selben Rezept. Die Menschen haben nur eine Schablone, nach der sie alles machen; das geht so glatt, daß sie ihr Hirn gar nicht anzustrengen brauchen, um ein andres Rezept auszudenken. Man geht nichts lieber als ausgetretene Pfade. Da fühlt man sich so schön sicher. Der Nachahmungstrieb ist schuld daran, daß die Menschheit innerhalb der letzten sechstausend Jahre keine wahren Fortschritte gemacht hat, sondern trotz Radio und Fliegerei in der selben Barbarei lebt wie am Anfang der europäischen Periode. So hat es der Vater gemacht, und so hat es der Sohn nachzumachen. Schluß. Was für mich, den Vater, gut genug war, wird für dich, du Rotznase, wohl erst recht gut genug sein. […] Allein das, was anders gemacht wurde als bisher, allein das, was unter Protest der Väter, Päpste, Heiligen und Verantwortlichen anders gedacht wurde, hat der Menschheit neue Ausblicke verschafft und ihr den Glauben gegeben, daß eines fernen Tages vielleicht doch ein Fortschreiten wird beobachtet werden können. Dieser ferne Tag wird in Sicht sein, sobald die Menschen nicht mehr an Institutionen glauben, nicht an Autoritäten und nicht an eine Religion, welchen Namen man ihr auch immer geben mag.
B. Traven – Das Totenschiff
Ich begreife mein Verharren in diesem immer gleichen Leben, diesem Staub, diesem Schmutz an der Oberfläche des Nie-Veränderns einzig als ein Fehlen persönlicher Hygiene.
So wie wir unseren Körper waschen, sollten wir auch unser Schicksal waschen, das Leben wechseln wie Wäsche – nicht, um uns am Leben zu erhalten, wie durch Nahrung oder Schlaf, sondern aus jener wertfreien Selbstachtung, die genau wir Hygiene nennen.
Bei vielen Menschen ist dieser Mangel an Hygiene nicht etwa als bewußt gewollt zu verstehen, sondern vielmehr als ein Achselzucken ihres Intellekts. Und bei vielen ist ein immer gleiches stumpfsinniges Leben nicht auf eine freie Entscheidung zurückzuführen oder auf ein natürliches Sich-Schicken in eine ungewollte Existenz, sondern auf eine getrübte Wahrnehmung ihrer selbst, auf einen ironischen Automatismus ihres Intellekts.
Manchen Schweinen widerstrebt die eigene Schweinerei, dennoch lassen sie nicht ab von ihr, und zwar aus dem gleichen übersteigerten Gefühl heraus, aus dem ein verängstigter Mensch die Gefahr nicht flieht. Wie ich suhlen sich manche Schweine in ihrem Schicksal und lassen, fasziniert vom eigenen Unvermögen, nicht ab von der Banalität ihres Lebens. Sie sind wie Vögel, die allein der Gedanke an die Schlange fesselt, wie Fliegen, die blindlings Baumstämme umkreisen, bis sie in die klebrige Reichweite einer Chamäleonzunge geraten.
Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe
Die Welt gehört dem, der nicht fühlt. Die Grundvoraussetzung, um ein praktischer Mensch zu werden, ist ein Mangel an Sensibilität. Die beste Vorbedingung für die Praxis des Lebens ist die Triebkraft, die zum Handeln führt, das heißt der Wille. Nun gibt es aber zwei Dinge, die das Handeln beeinträchtigen – die Sensibilität und das analytische Denken, das letztlich nichts anderes ist als ein Denken mit Sensibilität. Jedes Handeln ist seiner Natur nach die Projektion der Persönlichkeit auf die Außenwelt, und da die Außenwelt zur Hauptsache von menschlichen Wesen bestimmt wird, folgt daraus, daß diese Projektion der Persönlichkeit vor allem bedeutet, daß wir uns auf dem Weg unserer Mitmenschen querlegen, ihn hinderlich gestalten und sie je nach Art unseres Vorgehens verletzen und erdrücken.
Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe
Warum der Arbeit nachlaufen? Da steht man vor dem, der die Arbeit zu vergeben hat, und wird behandelt wie ein zudringlicher Bettler. »Ich habe jetzt keine Zeit, kommen Sie später wieder.« Wenn der Arbeiter aber einmal sagt: »Ich habe jetzt keine Zeit oder keine Lust, für Sie zu arbeiten«, dann ist es Revolution, Streik, Rüttelung an den Fundamenten des Gemeinwohls, und die Polizei kommt, und ganze Regimenter von Miliz rücken an und stellen Maschinengewehre auf. Fürwahr, es ist manchmal weniger beschämend, um Brot zu betteln, als um Arbeit zu fragen. Aber kann der Skipper seinen Eimer allein fahren, ohne den Arbeiter? Kann der Ingenieur seine Lokomotiven allein bauen, ohne den Arbeiter? Aber der Arbeiter hat mit dem Hute in der Hand um Arbeit zu betteln, muß dastehen wie ein Hund, der geprügelt werden soll, muß zu dem blöden Witz, den der Arbeitvergebende macht, lachen, obgleich ihm gar nicht zum Lachen zumute ist, nur um den Skipper oder den Ingenieur oder den Meister oder den Vorarbeiter oder wer immer das Machtwort ›Sie werden eingestellt!‹ zu sagen die Befugnis hat, bei guter Laune zu halten.
Wenn ich so untertänig um Arbeit betteln muß, um sie zu erhalten, kann ich auch um übriggebliebenes Mittagessen in einem Gasthof betteln. Der Hotelkoch behandelt mich nicht so wegwerfend, wie mich schon Leute behandelt haben, bei denen ich um Arbeit nachfragte.
B. Traven – Das Totenschiff
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