Die Maschi­ne­rie des Staates

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Die moder­ne Geschich­te hat, den­ke ich, hin­rei­chend bewie­sen, dass jeder Mensch, oder fast jeder, unter gewis­sen Vor­aus­set­zun­gen das tut, was man ihm sagt; und, ver­zeiht mir, die Wahr­schein­lich­keit ist gering, dass ihr die Aus­nah­me seid – so wenig wie ich. Wenn ihr in einem Land und in einer Zeit gebo­ren seid, wo nicht nur nie­mand kommt, um eure Frau und eure Kin­der zu töten, son­dern auch nie­mand, um von euch zu ver­lan­gen, dass ihr die Frau­en und Kin­der ande­rer tötet, dann dan­ket Gott und zie­het hin in Frie­den. Aber bedenkt immer das eine: Ihr habt viel­leicht mehr Glück gehabt als ich, doch ihr seid nicht bes­ser. Denn soll­tet ihr so ver­mes­sen sein, euch dafür zu hal­ten, seid ihr bereits in Gefahr. Gern stel­len wir dem Staat – ob er tota­li­tär ist oder nicht – den gewöhn­li­chen Men­schen gegen­über, die Laus oder das klei­ne Licht. Dabei ver­ges­sen wir jedoch, dass der Staat aus Men­schen besteht, mehr oder weni­ger gewöhn­li­chen Men­schen, ein jeder mit sei­nem Leben, sei­ner Geschich­te, jeder mit sei­ner Ver­ket­tung von Zufäl­len, die dafür gesorgt haben, dass er sich eines Tages auf der rich­ti­gen Sei­te des Gewehrs oder Doku­ments wie­der­fin­det, wäh­rend ande­re auf der fal­schen ste­hen. Die­ser Gang der Ereig­nis­se ist in den sel­tens­ten Fäl­len das Ergeb­nis einer Ent­schei­dung oder gar einer cha­rak­ter­li­chen Ver­an­la­gung. Und die Opfer sind in der über­wie­gen­den Mehr­zahl der Fäl­le nicht des­halb gefol­tert oder getö­tet wor­den, weil sie gut waren, eben­so wenig wie ihre Pei­ni­ger sie aus Bos­heit gequält haben. Das zu glau­ben wäre reich­lich naiv; man braucht sich nur in einer belie­bi­gen Büro­kra­tie umzu­se­hen, und sei es die des Roten Kreu­zes, um sich davon zu über­zeu­gen. (…) Die Maschi­ne­rie des Staa­tes nun ist aus dem glei­chen Sand geba­cken wie das, was sie Korn für Korn zu Staub zer­mahlt. Es gibt sie, weil alle damit ein­ver­stan­den sind, dass es sie gibt, sogar – und häu­fig bis zum letz­ten Atem­zug – ihre Opfer. Ohne die Höß, Eich­manns, Goglid­zes, Wysch­in­skis, aber auch ohne die Wei­chen­stel­ler, die Beton­fa­bri­kan­ten und die Buch­hal­ter in den Minis­te­ri­en wäre ein Sta­lin oder ein Hit­ler nur einer jener von Hass und ohn­mäch­ti­gen Gewalt­fan­ta­sien auf­ge­bläh­ten Säcke gewesen.
Jona­than Lit­tell – Die Wohlgesinnten

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