Mut zur Muße

Ein wunderbarer Text von Lars Frers, den ich schon vor einigen Jahren entdeckt habe und nun, um ihn auch hier zu verbreiten, gemäß CC-Lizenz als Vollzitat wiedergeben möchte (das Original findet sich hier):

Es scheint viele Gründe zu geben, die gegen den Müßiggang sprechen. Der beste von ihnen ist vielleicht der Vorwurf, dass das Nichtstun, das nicht auf etwas konkretes hin orientierte Tätigsein unproduktiv sei. Der Sinn unseres Daseins sei ja schließlich nicht das Treiben durch die Welt, sondern das aktive Nutzen des uns gegebenen Handlungspotentials, der uns gegebenen Freiheit. Müßiggänger verschleudern dieses Potential. Im schlimmsten Fall sind sie eh zu gar nichts nutze, im besten Falle ist es bedauerlich, dass sie sich nicht mehr für ihre, die oder irgendeine Sache einsetzen, denn ihre Mitarbeit ist gefragt und die Sache drängt. Wozu also zögern? Mutig, auf zur Tat!

In der Muße liegt eine besondere Kraft. Sie ist ein Rückzug aus dem Drängen und Ziehen des Alltagsgeschäfts, ein Rückzug, der es ermöglicht die Dinge und die Menschen noch einmal aus der Distanz anzuschauen, zu sehen, zu denken und zu fühlen, ob eingeschlagene Richtungen dorthin führen, wo ich eigentlich hin will. Sich mit diesen grundsätzlichen Fragen zu konfrontieren braucht Zeit. Kann ich mich dazu zwingen, mich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen? Vielleicht, aber ich glaube nicht, dass ich unter Druck zu den Fragen – und möglicherweise auch Antworten – kommen kann, die für mich wichtig sind. Man findet vielleicht auch unter Druck Antworten, aber wahrscheinlich stellt man sich nicht die richtigen Fragen.

Für mich ist der Übergang vom Faulsein zur Muße oder von der Ablenkung zur Muße nicht vollständig klar. Klar ist mir nur, das ich nicht direkt von der Arbeit und vom Alltagsgeschäft in die Muße eintreten kann. Es braucht erst einige Zeit (das heißt in der Regel: einige Tage oder besondere Umstände wie eine anstehende Reise oder einen Urlaub), bis ich keine Lust mehr habe, mich abzulenken, bis ich mich mit der Welt und mir beschäftigen möchte oder bis ich einfach offen bin für Eindrücke und Wahrnehmungen, die ich sonst ausfiltere.

In der Muße allerdings finde ich nicht unbedingt den Frieden. Muße bedeutet nicht Zen-mäßig nach dem Einssein mit der Welt zu streben oder ins Nirvana oder die völlige Ruhe einzutauchen. In der Muße liegt eine Kraft, etwas aktives, auf die Welt bezogenes. Sie ist ein Distanz-zur-Welt-einnehmen, aber sie ist nicht ein sich-von-der-Welt-lösen. Dies scheint mir das Besondere und das Produktive: eine Reorganisation, eine Neueinschätzung und ein weitgehend unbefangenes in Perspektive setzen wird möglich. Von dieser Perspektive aus kann ich dann gestärkt mit Bezug auf meine Welt Tätig werden. Es wird sozusagen ein fester Boden geschaffen, von dem aus ich mich beteiligen kann, der Halt gibt in einer Welt, in der es eine völlig unüberschaubare Anzahl von attraktiven Angeboten und von Verführungen jedweder Art gibt. Ich glaube, dass es kaum möglich ist, ohne solche Pausen – die anfangs Zerstreung sein mögen, die aber später Raum und Zeit zur Konzentration bieten – die Dinge zu tun, die man eigentlich tun möchte und sollte.

Etwas unheimlich finde ich, dass ich bereits seit über sieben Monaten eine einzelne, leere Datei auf dem sonst immer aufgeräumten Desktop meines Computers habe. Die Datei heisst 041105-musse.txt. Das heisst, ich habe mir am 4. November des vergangenen Jahres überlegt, dass ich gerne etwas über die Muße schreiben möchte. In der Datei stand nur der Titel dieses Eintrags Mut zur Muße. Offensichtlich habe ich in den vergangenen Monaten eben nicht die Muße und den Mut gefunden, mich mit diesem Thema schriftlich auseinanderzusetzen. Statt dessen habe ich lieber über gesehene Filme geschrieben, an meiner Arbeit gesessen, Exzerpte angefertigt und allerlei anderes erledigt. Das hat auch alles seinen Sinn, aber ich finde es bedauerlich, dass ich mich nicht vorher dieser Sache gewidmet habe, die mir eigentlich wirklich am Herzen liegt.

Zum Abschluss möchte ich noch einmal auf den Mut eingehen, den es zur Muße benötigt. Mut scheint mir vor allem aus zwei Gründen erforderlich.

  • Die Umwelt unterstellt in ihrer spezifischen Form von Normalität und Arbeitsethik, dass Müßiggang unmoralisch und unverantwortlich wäre. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall, aber ich fühle auch den Zwang, mich für dieses illegitime Verhalten zu rechtfertigen (sonst würde ich wohl kaum diesen Text hier schreiben). Das Perfide ist, dass der häufig nur indirekte Vorwurf der Unangemessenheit sowohl von Seiten des entfesselten Kapitalismus als auch von dessen Gegnern kommt. Im einen Fall drängt die Konkurrenz, im anderen die Sache. In beiden Fällen ist Nichtkonformität ausserordentlich irritierend.
  • Mut ist gegenüber sich selbst erforderlich. Eigene, bereits getroffene Entscheidungen werden hinterfragt. Es ist vorher unklar, was eigentlich herauskommt und ob es einen wirklich ‚weiterbringen‘ wird man sich der Reflexion stellen möchte. In der Regel ist bei mir ein merkwürdiges Zusammenspiel aus Unzufriedenheit und Zuversicht, aus Verpflichtungsfreiheit und Motiviertheit erforderlich, damit ich den Mut zur Muße aufbringe.

(Lars Frers, Juni 2005)

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