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„Kin­der aus sozi­al benach­tei­lig­ten Fami­li­en gehö­ren zwar zu den größ­ten Bildungsverlierer(inne)n, ihre Armut basiert jedoch sel­ten auf fal­schen oder feh­len­den Schul­ab­schlüs­sen, denn die Letz­te­ren sind höchs­tens Aus­lö­ser und Ver­stär­ker, aber nicht Ver­ur­sa­cher mate­ri­el­ler Not. Bil­dungs­de­fi­zi­te füh­ren aller­dings oft zu einer Ver­fes­ti­gung der Armut“ (But­ter­weg­ge, 2010, S. 541).

Letz­ten Endes stellt sich bei For­de­run­gen nach mehr und bes­se­rer Schu­le – also bei­spiels­wei­se beim Ruf nach Früh­för­de­rung und Ver­schu­lung des Kin­der­gar­tens oder Ganz­tags­schu­le – die Fra­ge, wie weit die Anstren­gun­gen gehen sol­len, um die Illu­si­on zu ver­fol­gen, das Bil­dungs­we­sen kön­ne ihm imma­nen­te und gesell­schaft­lich beding­te Pro­ble­me lösen. Wie ent­spre­chen­de Stu­di­en­ergeb­nis­se zei­gen, ist frü­he För­de­rung allein nicht aus­rei­chend, solan­ge die Kin­der inner­halb ihres elter­li­chen Milieus mit des­sen All­tags­pra­xis und Bil­dungs­aspi­ra­ti­on ver­wei­len; ganz­tags­schu­li­sche Betreu­ung wie­der­um ist eben­so inef­fek­tiv, solan­ge die Ein­gangs­kom­pe­ten­zen auf­grund der unter­schied­li­chen Her­kunft der­art ungleich sind (vgl. bei­spiels­wei­se Are­ns, 2007, S. 145; Deut­sches Jugend­in­sti­tut, 2004; Becker & Lau­ter­bach, 2007a; Becker & Lau­ter­bach, 2007b; Krey­en­feld, 2007; Ehm­ke & Jude, 2010; Pfeif­fer, 2010; Wei­nert, Ebert, & Dubo­wy, 2010, S. 43; Sta­tis­ti­sches Bun­des­amt, 2011). Folg­lich müss­te – aus einer Defi­zit­per­spek­ti­ve urtei­lend – sowohl eine mög­lichst frü­he För­de­rung als auch eine mög­lichst umfas­sen­de Betreu­ung durch die Schu­le statt­fin­den, um elter­li­che Ein­flüs­se zu begren­zen, den Kin­dern die Aus­bil­dung schul­na­her Habi­tus zu ermög­li­chen und nega­ti­ve Peer­grup­pen­ef­fek­te aus­zu­schlie­ßen: „Je zeit­lich umfas­sen­der schu­li­sche Bil­dungs­pro­zes­se sind und je gerin­ger der Anteil der elter­li­chen Betreu­ung, des­to gerin­ger sind her­kunfts­be­ding­te Ungleich­hei­ten im Leis­tungs­ni­veau“ (Jung­bau­er-Gans, 2004, S. 381; vgl. Becker & Lau­ter­bach, 2007b).

Im End­ef­fekt läuft dies auf eine frü­he und umfas­sen­de Her­aus­lö­sung aus dem Her­kunfts­mi­lieu hin­aus, wie es etwa der Bezirks­bür­ger­meis­ter in Ber­lin-Neu­kölln ange­sichts der Bil­dungs­pro­ble­ma­tik for­dert: „Die Kin­der müs­sen raus aus dem Milieu, so früh wie mög­lich in die Krip­pe und dann auf die Ganz­tags­schu­le“ (Mül­ler M., 2011, S. 9). Neben der Fra­ge der prak­ti­schen Umsetz­bar­keit stellt sich somit auch eine nor­ma­ti­ve Fra­ge: Soll Schu­le den Ein­fluss der Eltern auf ein Mini­mum redu­zie­ren und die Frei­zeit der Kin­der bestim­men, um poten­ti­ell Chan­cen­un­gleich­heit zu ver­rin­gern, und wäre dies dann auch im Inter­es­se der Kin­der, oder han­delt es sich sei­ner­seits um sym­bo­li­sche Gewalt hin­ter dem Deck­man­tel der Her­stel­lung sozia­ler Chan­cen­gleich­heit, womit im Kon­text des bestehen­den Schul­sys­tems aber ledig­lich Anglei­chung an die legi­ti­me Kul­tur gemeint sein kann und eine Blind­heit gegen­über den tat­säch­li­chen gesell­schaft­li­chen Ursa­chen sozia­ler Ungleich­heit zemen­tiert wird?

Der ein­engen­de Fokus auf das Bil­dungs­sys­tem ver­schlei­ert das gesell­schaft­li­che Ver­tei­lungs­pro­blem der rele­van­ten Res­sour­cen und erklärt es zu einem Pro­blem, das allein mit­tels mehr Schul­bil­dung beho­ben wer­den kön­ne – ein Bil­dungs­dis­kurs, der der­art geführt wird, kann sei­ner­seits als Ideo­lo­gie begrif­fen wer­den, denn es ist frag­lich, „ob sich die Spal­tung der Gesell­schaft tat­säch­lich durch mehr oder eine bes­se­re Bil­dung für alle über­win­den bzw. bewäl­ti­gen lässt“ (But­ter­weg­ge, 2010, S. 540). Es fin­det ledig­lich eine über die meri­to­kra­ti­sche Ideo­lo­gie legi­ti­mier­te Sub­jek­ti­vie­rung und Ver­en­gung des eigent­li­chen gesell­schaft­li­chen Pro­blems der Res­sour­cen­ver­tei­lung statt (vgl. Becker & Hadjar, 2011, S. 51), sodass Armut und schu­li­scher Miss­erfolg aus einer Defi­zit­per­spek­ti­ve her­aus als Pro­blem der Ver­hal­tens­wei­se, die nur der ‚Umer­zie­hung‘ bedür­fe, beho­ben wer­den könn­ten, wäh­rend die gesell­schaft­lich unglei­che Ver­tei­lung des Kapi­tals unhin­ter­fragt bleibt, was für das kul­tu­rel­le, aber am stärks­ten für das öko­no­mi­sche Kapi­tal zutref­fend ist, das wie­der­um dem kul­tu­rel­len Kapi­tal zugrun­de liegt:

„Viel ent­schei­den­der als die Umver­tei­lung von Geld sei, dass Men­schen einen gleich­be­rech­tig­ten Zugang zu den Bil­dungs­in­sti­tu­tio­nen und zum Arbeits­markt erhal­ten, heißt es immer häu­fi­ger. Zu fra­gen wäre frei­lich, wes­halb die Bedeu­tung des Gel­des für die Teil­ha­be der Men­schen am gesell­schaft­li­chen Leben aus­ge­rech­net zu einer Zeit gesun­ken sein soll, wo es in sämt­li­chen Lebens­be­rei­chen wich­ti­ger als frü­her, aber auch unglei­cher denn je ver­teilt ist“ (But­ter­weg­ge, 2008).

Mit dem Fokus auf »Bil­dungs­fer­ne« und ver­meint­li­che kul­tu­rel­le »Defi­zi­te« wer­den die „empi­ri­schen Befun­de der Ungleich­heits- und Bil­dungs­for­schung (…) von grund­le­gen­den Fra­gen nach sozia­ler Herr­schaft und Gerech­tig­keit weit­ge­hend ent­kop­pelt“ (Grund­mann, Dra­ven­au, & Bitt­ling­may­er, 2006, S. 251), denn „[s]tatt mate­ri­el­ler, d.h. Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit wird heu­te in der Regel bloß noch Chan­cen­gleich­heit gefor­dert“ (But­ter­weg­ge, 2010, S. 546), die allen ledig­lich glei­che Start­chan­cen sichern soll, das Ren­nen danach aber der sozia­len Her­kunft über­lässt. Die Alter­na­ti­ve, d.h. das die sozia­le Ungleich­heit effek­ti­ver bekämp­fen­de Vor­ge­hen bestün­de dar­in, vom Staat zu ver­lan­gen und ihm zu ermög­li­chen, „daß er sei­ne regu­lie­ren­de Tätig­keit aus­übt, fähig dazu, die »Fata­li­tät« der öko­no­mi­schen und sozia­len Mecha­nis­men zu kon­ter­ka­rie­ren, die der gesell­schaft­li­chen Ord­nung imma­nent sind“ (Bour­dieu, 1992a, S. 173), wofür es „wei­ter­hin der Umver­tei­lung von Arbeit, Ein­kom­men und Ver­mö­gen“ (But­ter­weg­ge, 2008) bedarf. Armut oder beruf­li­cher Miss­erfolg basie­ren also nur vor­der­grün­dig auf man­geln­dem schu­li­schen Bil­dungs­er­folg, da die­ser sei­nen Ursprung in der unglei­chen Ver­tei­lung der Res­sour­cen hat. Solan­ge vor allem das öko­no­mi­sche Kapi­tal der­art ungleich ver­teilt ist und (Bildungs-)Erfolg von die­sem Kapi­tal abhängt, wer­den dem­zu­fol­ge sozia­le Ungleich­hei­ten fort­be­stehen: „Ein­kom­mens­ar­mut mutiert so zu kul­tu­rel­ler und Bil­dungs­ar­mut“ (Rabe-Kle­berg, 2010, S. 51; vgl. Becker R., 2011).

Das gegen­wär­ti­ge Bil­dungs­sys­tem darf folg­lich weder „zum allei­ni­gen Bestim­mungs­fak­tor sozia­ler Ungleich­heit“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 44) noch „zur zen­tra­len Insti­tu­ti­on für die Her­stel­lung gesell­schaft­li­cher Chan­cen­gleich­heit“ (ebd., S. 45) ver­klärt wer­den, da bei­de Per­spek­ti­ven – mit je unter­schied­li­chen Vor­zei­chen – den Stel­len­wert des Schul­sys­tems über­schät­zen und die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Grund­la­ge außer Acht las­sen. Das Schul­sys­tem muss als spe­zi­fi­sches Sys­tem inner­halb des gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Sys­tems betrach­tet wer­den, das die „vor­ge­ge­be­nen Struk­tur-, Sys­tem- und gesell­schaft­lich-sozia­len Bedin­gun­gen nicht aus­he­beln“ (Dit­ton, 2011, S. 261) kann und des­sen Ein­fluss ent­spre­chend begrenzt ist: „Es wäre unrea­lis­tisch zu erwar­ten, dass durch Refor­men im Bil­dungs­we­sen allein der Kreis­lauf der sozia­len Repro­duk­ti­on durch­bro­chen wer­den könn­te. Man kommt nicht um die Erkennt­nis her­um, dass Schul­sys­te­me auch ein Spie­gel der jewei­li­gen Gesell­schaft sind“ (Dit­ton, 2007, S. 267).

Der mög­li­che Bei­trag von Bil­dungs­re­for­men zur Lösung eines genu­in gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Pro­blems muss also als recht gering ein­ge­stuft wer­den, wohin­ge­gen „die Län­der mit der nied­rigs­ten sozia­len Dis­pa­ri­tät der Bil­dungs­be­tei­li­gung auch Län­der mit grö­ße­rer sozia­ler Gleich­heit sind“ (Fend, 2009, S. 65; vgl. Becker R., 2011, S. 104). Schu­le kann kei­ne Gleich­heit her­stel­len, wo gesell­schaft­lich kei­ne Gleich­heit herrscht und gewollt ist, sie erfüllt daher die para­do­xe Funk­ti­on, einer­seits den Abbau geburts­stän­di­scher Pri­vi­le­gi­en vor­an­ge­trie­ben, ande­rer­seits aber neue Hier­ar­chi­sie­rungs­me­cha­nis­men und Legi­ti­mie­rungs­for­men eta­bliert zu haben, die die­se sozia­le Ungleich­heit viel effek­ti­ver ver­schlei­ern (vgl. Büch­ner, 2003). Durch eine blo­ße Reform des Schul­sys­tems kön­nen viel­leicht spe­zi­fi­sche Repro­duk­ti­ons­me­cha­nis­men abge­schwächt wer­den, die Mecha­nis­men der sozia­len Repro­duk­ti­on an sich wer­den sich jedoch ledig­lich ver­la­gern, denn wird ein Repro­duk­ti­ons­me­cha­nis­mus auf­ge­deckt oder aus­ge­schal­tet, „so wächst das Inter­es­se der Inha­ber von Kapi­tal, sich sol­cher Repro­duk­ti­ons­stra­te­gien zu bedie­nen, die eine bes­se­re Ver­schleie­rung der Kapi­tal­trans­mis­si­on gewähr­leis­ten“ (Bour­dieu, 1992b, S. 75), wes­halb „der Weg zu einer weni­ger durch Ungleich­heit gekenn­zeich­ne­ten Gesell­schaft nicht in ers­ter Linie über Refor­men des Schul­sys­tems ver­läuft, son­dern über direkt wirk­sa­me Maß­nah­men zum Abbau von Ungleich­heit“ (Dit­ton, 2007, S. 267).

Letzt­lich han­delt es sich bei sozia­ler Ungleich­heit um kein spe­zi­fi­sches Pro­blem des Bil­dungs­sek­tors, son­dern um ein gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Pro­blem, sodass anstel­le der Fixie­rung auf das Schul­sys­tem die unglei­che Kapi­tal­ver­tei­lung und die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se, die die­se bedin­gen, in den Fokus der Betrach­tung zu stel­len sind. Bil­dung kann Armut nicht bekämp­fen, wenn letz­te­re gesamt­ge­sell­schaft­lich pro­du­ziert, hin­ge­nom­men und legi­ti­miert wird.


Lite­ra­tur:

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  2. Becker, R. (2011). Ent­ste­hung und Repro­duk­ti­on dau­er­haf­ter Bil­dungs­un­gleich­hei­ten. In R. Becker (Hrsg.), Lehr­buch der Bil­dungs­so­zio­lo­gie (2. Auf­la­ge) (S. 87-138). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  3. Becker, R., & Lau­ter­bach, W. (2007a). Bil­dung als Pri­vi­leg – Ursa­chen, Mecha­nis­men, Pro­zes­se und Wir­kun­gen. In R. Becker, & W. Lau­ter­bach (Hrsg.), Bil­dung als Pri­vi­leg (2. Auf­la­ge) (S. 9-41). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  4. Becker, R., & Lau­ter­bach, W. (2007b). Vom Nut­zen vor­schu­li­scher Erzie­hung und Ele­men­tar­bil­dung: Bes­se­re Bil­dungs­chan­cen für Arbei­ter­kin­der? In R. Becker, & W. Lau­ter­bach (Hrsg.), Bil­dung als Pri­vi­leg (2. Auf­la­ge) (S. 125-155). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  5. Becker, R., & Hadjar, A. (2011). Meri­to­kra­tie – Zur gesell­schaft­li­chen Legi­ti­ma­ti­on unglei­cher Bil­dungs-, Erwerbs- und Ein­kom­mens­chan­cen in moder­nen Gesell­schaf­ten. In R. Becker (Hrsg.), Lehr­buch der Bil­dungs­so­zio­lo­gie (2. Auf­la­ge) (S. 37-62). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  6. Bour­dieu, P. (1992a). Die gesun­de Wut eines Sozio­lo­gen (Inter­view). In P. Bour­dieu, Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht (S. 165-174). Ham­burg: VSA-Verlag.
  7. Bour­dieu, P. (1992b). Öko­no­mi­sches Kapi­tal – Kul­tu­rel­les Kapi­tal – Sozia­les Kapi­tal. In P. Bour­dieu, Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht (S. 49-79). Ham­burg: VSA-Verlag.
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  10. But­ter­weg­ge, C. (2010). Kin­der­ar­mut und Bil­dung. In G. Quen­zel, & K. Hur­rel­mann (Hrsg.), Bil­dungs­ver­lie­rer – Neue Ungleich­hei­ten (S. 537-555). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
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  18. Krey­en­feld, M. (2007). Sozia­le Ungleich­heit und Kin­der­be­treu­ung. Eine Ana­ly­se der sozia­len und öko­no­mi­schen Deter­mi­nan­ten der Nut­zung von Kin­der­ta­ges­ein­rich­tun­gen. In R. Becker, & W. Lau­ter­bach (Hrsg.), Bil­dung als Pri­vi­leg (2. Auf­la­ge) (S. 99-123). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
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  20. Pfeif­fer, F. (2010). Ent­wick­lung und Ungleich­heit von Fähig­kei­ten: Anmer­kun­gen aus öko­no­mi­scher Sicht. In H.-H. Krü­ger, U. Rabe-Kle­berg, R.-T. Kra­mer, & J. Bud­de (Hrsg.), Bil­dungs­un­gleich­heit revi­si­ted (S. 25-43). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  21. Rabe-Kle­berg, U. (2010). Bil­dungs­ar­mut von Anfang an? Über den Bei­trag des Kin­der­gar­tens im Pro­zess der Repro­duk­ti­on sozia­ler Ungleich­heit. In H.-H. Krü­ger, U. Rabe-Kle­berg, R.-T. Kra­mer, & J. Bud­de (Hrsg.), Bil­dungs­un­gleich­heit revi­si­ted (S. 45-54). Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozialwissenschaften.
  22. Sta­tis­ti­sches Bun­des­amt (Hrsg.). (2011). Daten­re­port 2011. Ein Sozi­al­be­richt für die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Bonn: Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bildung.
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Vor etwas mehr als einem hal­ben Jahr habe ich im Bei­trag »Die kom­men­den Tage« die sozia­len Fol­gen der anhal­ten­den Kri­se sowie die auf­kei­men­den Pro­tes­te der Occu­py- als auch ande­rer Bewe­gun­gen skiz­ziert und ver­sucht, deren wei­te­re Ent­wick­lung zu pro­gnos­ti­zie­ren. Genannt wur­den als Kri­sen­phä­no­me­ne der weit­ge­hen­den Abbau des Sozi­al­staats, erstar­ken­der Natio­na­lis­mus, zuneh­men­de Ver­ar­mung, Pre­ka­ri­sie­rung und Ent­so­li­da­ri­sie­rung, Per­so­na­li­sie­rung der Kri­tik, schlei­chen­de Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung sowie die Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Pro­test­be­kämp­fung. Lei­der haben sich sämt­li­che dar­ge­stell­ten Aspek­te in der Zwi­schen­zeit tat­säch­lich wei­ter ver­schärft, eini­ge sogar schnel­ler und gewal­ti­ger, als ich ursprüng­lich gedacht hatte.

Im Fol­gen­den daher eine frag­men­ta­ri­sche Bestands­auf­nah­me, die sich auf den aktu­el­len Zustand Euro­pas kon­zen­triert, ver­bun­den mit zahl­rei­chen exem­pla­ri­schen Links zu Arti­keln und Infor­ma­tio­nen. Sie sol­len als Über­blick und Anhalts­punk­te für wei­ter­ge­hen­de Recher­chen die­nen, damit sich jeder Leser anhand der Berich­te selbst ein Bild machen kann und nicht auf mei­ne Inter­pre­ta­ti­on ange­wie­sen ist.


Abbau des Sozialstaats

Die Spar­maß­nah­men in Grie­chen­land, Ita­li­en, Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, Irland, Spa­ni­en, Por­tu­gal und ande­ren euro­päi­schen Län­dern bedeu­ten nicht zuletzt einen Abbau des Sozi­al­staats. Sie umfas­sen quer durch Euro­pa u.a. Maß­nah­men wie Ren­ten­kür­zun­gen sowie die Anhe­bung des Ren­ten­al­ters, die Locke­rung des Kün­di­gungs­schut­zes, Lohn­kür­zun­gen im öffent­li­chen Dienst, Ein­füh­rung neu­er Gebüh­ren oder Gebüh­ren­er­hö­hun­gen, die Kür­zung von Arbeits­lo­sen­un­ter­stüt­zung, Sozi­al­geld und ähn­li­chen Sozi­al­leis­tun­gen. Die größ­ten Ein­schnit­te fin­den dabei in der Regel in den Berei­chen Gesund­heit und Bil­dung statt, wodurch nicht nur die gegen­wär­ti­ge Ver­sor­gung und Aus­bil­dung der Bevöl­ke­rung beschnit­ten wird, son­dern auch deren indi­vi­du­el­le sowie die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Zukunfts­per­spek­ti­ve. Ent­spre­chend wer­den immer grö­ße­re Tei­le der Bevöl­ke­rung in Armut und Ver­zweif­lung gedrängt, die mit­un­ter zum Sui­zid führt (so ist bei­spiels­wei­se die Sui­zid­ra­te in Grie­chen­land in den letz­ten zwei Jah­ren um mehr als 40 Pro­zent angestiegen).


Rezession

Vor allem die euro­päi­sche Süd­pe­ri­phe­rie, aber auch ande­re euro­päi­sche Staa­ten lei­den unter Rezes­si­on unter­schied­li­chen Aus­ma­ßes, wenn­gleich eini­ge Staa­ten bis­lang davon ver­schont geblie­ben sind. Die strik­ten Maß­nah­men der Austeri­täts­po­li­tik wie­der­um zemen­tie­ren die Abwärts­spi­ra­le der ent­spre­chen­den Län­der in immer tie­fe­re Rezes­si­on, da Lohn­kür­zun­gen, Gebüh­ren- und Steu­er­erhö­hun­gen wie z.B. bei der Mehr­wert­steu­er oder die Ein­füh­rung neu­er Son­der­steu­ern zulas­ten der Unter- und Mit­tel­schicht sich nega­tiv auf den pri­va­ten Kon­sum und damit letzt­lich die Pro­duk­ti­on und das Steu­er­auf­kom­men aus­wir­ken. Auch hier­zu­lan­de wird die Kri­se spür­ba­rer, sodass mit­tel­fris­tig Mel­dun­gen wie die­se kein Ein­zel­fall blei­ben wer­den, zumal wirt­schaft­li­che Abküh­lung auf glo­ba­ler Ebe­ne – mit beson­de­rem Blick auf Chi­na – zu beob­ach­ten ist. Hin­zu kom­men auf­grund immer auf­wen­di­ge­rer För­der­me­tho­den ste­tig stei­gen­de Ener­gie­kos­ten.


Natio­na­lis­mus & zuneh­men­de Entsolidarisierung

Zusätz­lich zur unver­hoh­le­nen und zum Teil auch von poli­ti­scher Sei­te befeu­er­ten Het­ze gegen die ver­meint­li­chen Kri­sen­ver­ur­sa­cher im euro­päi­schen Süden, für deren angeb­li­che Faul­heit und Inkom­pe­tenz man nicht län­ger Zahl­meis­ter sein wol­le, wer­den – allen vor­an durch Deutsch­land – natio­na­le Wirt­schafts­in­ter­es­sen auf Kos­ten von Dritt­staa­ten vor­an­ge­trie­ben. Das Pro­jekt Euro­pa, das die Bevöl­ke­run­gen der euro­päi­schen Staa­ten ein­an­der näher­brin­gen soll­te, ver­kommt zum Gegen­teil. Im Zuge der Kri­se ist nicht nur eine all­ge­mei­ne Spal­tung Euro­pas zu beob­ach­ten, es ist zudem auch ein deut­li­cher Gra­ben zwi­schen den strau­cheln­den euro­päi­schen Staa­ten und Deutsch­land ent­stan­den, letz­te­res sei­ner­seits hege­mo­nia­les Zen­trum der Kri­sen­po­li­tik und gro­ßer Pro­fi­teur des Euros sowie des wirt­schaft­li­chen Ungleich­ge­wichts in Europa.

Selbst noch in der momen­ta­nen Situa­ti­on pro­fi­tiert Deutsch­land zumin­dest kurz­fris­tig aus den Kri­sen­phä­no­me­nen, u.a. durch nied­ri­ge bis nega­ti­ve Zin­sen für Anlei­hen oder etwa den schwa­chen Euro, der deut­sche Expor­te in Län­der außer­halb der Euro­zo­ne ver­bil­ligt. Die­se kurz­fris­ti­gen Vor­tei­le für die deut­sche Wirt­schaft, erkauft auf dem Rücken Euro­pas, soll­ten bei deut­schen Vor­schlä­gen zur Kri­sen­be­kämp­fung stets im Hin­ter­kopf behal­ten wer­den, offen­ba­ren sie doch einen gewich­ti­gen Inter­es­sen­kon­flikt. Erfolgs­mel­dun­gen wie etwa stei­gen­der deut­scher Export sind daher mit Vor­sicht zu genie­ßen, denn mit­tel- bis lang­fris­tig wird der Kelch auch an Deutsch­land nicht vor­über­ge­hen (vgl. Abschnitt Rezes­si­on), gera­de ange­sichts der Export­las­tig­keit der deut­schen Wirtschaft.

Gene­rell wird wei­ter­hin mit­tels natio­na­lis­ti­scher Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en ver­sucht, die von den Kri­sen­ent­wick­lun­gen am stärks­ten Betrof­fe­nen der jewei­li­gen Staa­ten gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len. Natio­na­lis­mus und Ent­so­li­da­ri­sie­rung zei­gen sich exem­pla­risch auch am deut­schen Umgang mit Grie­chen­land, des­sen Bevöl­ke­rung kurz vor den Wah­len mehr oder weni­ger offen ange­droht wur­de, es müs­se unab­hän­gig des Wahl­aus­gangs die an die finan­zi­el­len Hilfs­pa­ke­te geknüpf­ten Bedin­gun­gen erfül­len oder ansons­ten die Kon­se­quen­zen tra­gen. Mit Wolf­gang Schäubles Ambi­tio­nen zur Füh­rung der Euro­grup­pe könn­ten sich deut­sche Vor­machts­an­sprü­che zusätz­lich zemen­tie­ren, die zuletzt mit der Wahl in Frank­reich ins Wan­ken gera­ten waren.

Inner­halb der ein­zel­nen Staa­ten sind ande­re For­men der Ent­so­li­da­ri­sie­rung zu beob­ach­ten, näm­lich ver­stärk­te von oben nach unten gerich­te­te Abgren­zungs­be­mü­hun­gen bis hin zur Abwer­tung schwä­che­rer sozia­ler Grup­pen. Für Deutsch­land fasst der Sozio­lo­ge Wil­helm Heit­mey­er, Her­aus­ge­ber der Stu­die »Deut­sche Zustän­de«, exem­pla­risch zusam­men:

Die lau­fen­den Pro­zes­se der Umver­tei­lung und ihre gesell­schaft­li­che Zer­stö­rungs­kraft neh­men ste­tig zu und füh­ren zu einer immer grö­ßer wer­den­den Spal­tung der Gesell­schaft. Die obe­ren Ein­kom­mens­grup­pen neh­men die­se Spal­tung nur begrenzt wahr, sie sind im Gegen­teil der Mei­nung, dass sie zu wenig vom Wachs­tum pro­fi­tie­ren. Sie sind rasch bereit, die Hil­fe und Soli­da­ri­tät für schwa­che Grup­pen auf­zu­kün­di­gen. Sie wer­ten zuneh­mend stär­ker ab. Die Stu­die macht deut­lich, es exis­tiert eine geball­te Wucht rabia­ter Eli­ten und die Trans­mis­si­on sozia­ler Käl­te durch eine rohe Bür­ger­lich­keit, die sich selbst in der Opfer­rol­le sieht und des­halb immer neue Abwer­tun­gen gegen schwa­che Grup­pen in Sze­ne setzt. Und die Stu­die zeigt, wie stark Men­schen auf­grund von eth­ni­schen, kul­tu­rel­len oder reli­giö­sen Merk­ma­len, der sexu­el­len Ori­en­tie­rung, des Geschlechts, einer kör­per­li­chen Ein­schrän­kung oder aus sozia­len Grün­den mit sol­chen Men­ta­li­tä­ten kon­fron­tiert und ihnen macht­los aus­ge­lie­fert sind. Die Opfer­grup­pen sind mitt­ler­wei­le wehr­los und nicht mobi­li­sie­rungs­fä­hig. Ins­ge­samt ist eine öko­no­mi­sche Durch­drin­gung sozia­ler Ver­hält­nis­se empi­risch beleg­bar. Sie geht Hand in Hand mit einem Anstieg von grup­pen­be­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit. Seit 2008 haben sich die kri­sen­haf­ten Ent­wick­lun­gen zeit­lich mas­siv verdichtet.

Die Wahl­er­geb­nis­se der rech­ten Par­tei­en in Grie­chen­land (zusam­men knapp 17 % für die Par­tei­en Chry­si Avgi und Unab­hän­gi­ge Grie­chen) und Frank­reich (knapp 18 % für die Natio­na­lis­ten unter Mari­ne Le Pen) zei­gen deut­lich, wel­che Rich­tung der­ar­ti­ge Abgren­zungs- und Ent­so­li­da­ri­sie­rungs­ten­den­zen ein­schla­gen kön­nen. Doch nicht nur klei­ne, rechts­ra­di­ka­le Par­tei­en, son­dern auch kon­ser­va­ti­ve Volks­par­tei­en betrie­ben kräf­tig Stim­mungs­ma­che gegen sozi­al Schwa­che und Migran­ten, wie die Wahl­kämp­fe in Frank­reich und Grie­chen­land vor Augen geführt haben. Zudem wird die restrik­ti­ve EU-Migra­ti­ons­po­li­tik in Zei­ten der Kri­se noch schär­fer vor­an­ge­trie­ben, wie etwa mas­si­ve Maß­nah­men zur »Bekämp­fung ille­ga­ler Migra­ti­on« in Grie­chen­land belegen.


Zuneh­men­de Ver­ar­mung und Prekarisierung

Arbeits­lo­sen­zah­len wie zum Bei­spiel die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit in Grie­chen­land (~54 %), Spa­ni­en (~50 %) und Ita­li­en (~30 %) oder Sta­tis­ti­ken der Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ver­tei­lung (ers­te­re hier als inter­ak­ti­ve Gra­fik für die USA), der Obdach­lo­sig­keit, der Schul­den­be­las­tung sowie der Armut oder des Armuts­ri­si­kos offen­ba­ren alle­samt anwach­sen­de sozia­le Miss­stän­de (vgl. den Abschnitt zum Abbau des Sozi­al­staats). In vie­len Län­dern ist daher auf­grund der tris­ten Aus­sich­ten bereits von der »ver­lo­re­nen Gene­ra­ti­on« die Rede. Ähn­li­ches gilt für die USA, wo die Illu­si­on einer mode­ra­ten Arbeits­lo­sen­quo­te nur durch sta­tis­ti­sche Spie­le­rei­en auf­recht­erhal­ten wer­den kann.


Entdemokratisierung

Nicht nur wur­den in Grie­chen­land und Ita­li­en Über­gangs­re­gie­run­gen gebil­det, die von unge­wähl­ten Tech­no­kra­ten im Sin­ne der rigi­den Spar­po­li­tik ange­führt wer­den, auch die teils pani­schen Reak­tio­nen in Pres­se, Poli­tik und an den Märk­ten auf den Links­ruck der Wah­len in Frank­reich und Grie­chen­land spre­chen eine deut­li­che, anti­de­mo­kra­ti­sche Spra­che. Poli­ti­sche Pro­zes­se wer­den zuneh­mend an anti­zi­pier­ten Markt­re­ak­tio­nen aus­ge­rich­tet, deren Ver­un­si­che­rung so gut es geht ver­mie­den wird; es fin­det eine Ver­schie­bung der Sou­ve­rä­ni­tät statt, deren Ergeb­nis die »markt­kon­for­me« (Ange­la Mer­kel) Demo­kra­tie ist. Mit dem geplan­ten Fis­kal­pakt wird zudem das Haus­halts­recht der Unter­zeich­ner­staa­ten star­ke Ein­schrän­kun­gen erfah­ren, was einer Schwä­chung par­la­men­ta­ri­scher Kon­trol­le ent­spricht, sowie Ent­schei­dungs­ge­walt u.a. zur EU-Kom­mis­si­on ver­la­gert wer­den, die nicht demo­kra­tisch gewählt ist. Eine Befra­gung der Bevöl­ke­rung mit­tels Refe­ren­dum wird, wie schon bei frü­he­ren Ver­trä­gen auf Ebe­ne der EU, als Bedro­hung betrach­tet oder – wie in Grie­chen­land gesche­hen – gar ver­hin­dert. Immer deut­li­cher tritt der unauf­lös­ba­re Wider­spruch zwi­schen Demo­kra­tie und Kapi­ta­lis­mus zuta­ge. Mit­be­stim­mung und fried­li­cher Pro­test (vgl. den fol­gen­den Abschnitt), so scheint es, wer­den mit Ver­schär­fung der Kri­se mehr und mehr zum Stör­fak­tor für auto­ri­tä­res Kri­sen­ma­nage­ment und Märkte.


Radi­ka­li­sie­rung des Pro­tests und der Protestbekämpfung

Die Pro­test­be­we­gung, ob sie sich nun gegen die aktu­el­le Kri­sen­po­li­tik, Ban­ken­spe­ku­la­tio­nen oder das gegen­wär­ti­ge Sys­tem als Gan­zes rich­tet, hat zwar an Auf­merk­sam­keit von Sei­te der Mas­sen­me­di­en ver­lo­ren, ist jedoch wei­ter­hin sehr aktiv und kann sowohl gro­ße Demons­tra­tio­nen als auch klei­ne­re, all­täg­li­che­re For­men des Pro­tests vor­wei­sen, wie Beset­zun­gen öffent­li­cher Plät­ze, krea­ti­ve Spon­tan­kund­ge­bun­gen, diver­se For­men von Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und -ver­sor­gung, zivi­len Unge­hor­sam, wider­stän­di­sche All­tags­pra­xen, Guer­ril­la Gar­dening und direk­te Aktio­nen. In von der Kri­se stark betrof­fe­nen Län­dern wie Grie­chen­land oder Ita­li­en sind in die­sem Kon­text ver­mehrt Aus­schrei­tun­gen zu beobachten.

Auf der ande­ren Sei­te wer­den Pro­test­for­men und deren Teil­neh­mer zuneh­mend kri­mi­na­li­siert, Camps und Demons­tra­tio­nen – teils gewalt­sam – auf­ge­löst und non-kon­for­mes Ver­hal­ten bestraft. Ita­li­en erwägt sogar den Ein­satz des Mili­tärs. Gene­rell scheint die Tole­ranz­schwel­le für Pro­test zu sin­ken, was zuneh­mend die Aus­übung ele­men­ta­rer Frei­heits­rech­te beschnei­den wird, um die Illu­si­on des unge­stör­ten Wei­ter-so auf­recht­zu­er­hal­ten und Eigen­tums­ver­hält­nis­se als auch Geschäfts­be­trieb zu verteidigen.

So weit der aktu­el­le Stand, ohne Anspruch auf Voll­stän­dig­keit – tat­säch­lich exis­tie­ren euro­pa­weit und natür­lich glo­bal auf­grund der anhal­ten­den Kri­se etli­che wei­te­re sozia­le, öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Pro­blem­la­gen sowie ent­spre­chen­de Proteste.

Es gibt kei­ne kon­kre­ten Hin­wei­se dar­auf, dass sich die­se Zustän­de in abseh­ba­rer Zukunft ver­bes­sern wer­den. Das Gegen­teil ist der Fall: Wird am bestehen­den Kurs fest­ge­hal­ten, wer­den Arbeits­lo­sig­keit und Sozi­al­ab­bau wei­ter zuneh­men, wor­auf der Lebens­stan­dard der meis­ten Men­schen in den betrof­fe­nen Län­dern absin­ken wird, wäh­rend ver­stärkt auto­ri­tä­re Kri­sen- und Pro­test­be­wäl­ti­gungs­stra­te­gien zu beob­ach­ten sein wer­den. Selbst an jenen, die bis­lang das gegen­wär­ti­ge poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Sys­tem ver­tei­digt oder zumin­dest hin­ge­nom­men haben, weil sie von des­sen gewal­ti­gen Schat­ten­sei­ten nicht direkt betrof­fen waren, dürf­ten die gegen­wär­ti­gen Ent­wick­lun­gen nicht mehr lan­ge unbe­merkt vor­über­ge­hen. Die Ein­schlä­ge kom­men näher. Dies ist das Euro­pa, in dem wir leben.

Lang­fris­tig wer­den die­se Ent­wick­lun­gen wohl vor kei­nem der so genann­ten Durch­schnitts­bür­ger Halt machen, da jeder zusätz­li­che Tag der bestehen­den Ver­hält­nis­se die Zustän­de nur ver­schlim­mert, auch wenn sie man­che spä­ter erfas­sen wer­den als ande­re. Die­ser tris­ten Aus­sicht steht die posi­ti­ve Visi­on gegen­über, die eige­ne Apa­thie und Ohn­macht ange­sichts schein­bar über­mäch­ti­ger Struk­tu­ren zu über­win­den, um aus der Kri­se kon­struk­ti­ve Kraft zu schöp­fen und sich durch Pro­test, alter­na­ti­ve Lebens­wei­sen, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on oder ähn­li­che Maß­nah­men aktiv an der Gestal­tung einer gerech­ten, frei­en, demo­kra­ti­schen und soli­da­ri­schen Gesell­schaft zu betei­li­gen, in der wir ger­ne leben möch­ten. Nie­mand soll­te dar­auf ver­trau­en, von der Poli­tik Lösun­gen zu erhal­ten. Die Poli­tik hat kei­ne Lösun­gen und sie stellt die fal­schen Fra­gen. Es liegt an jedem ein­zel­nen von uns, wie es wei­ter­ge­hen wird.

Sons­ti­ge wei­ter­füh­ren­de Links:

  • Keep Tal­king Greece
    Nach­rich­ten aus Grie­chen­land (Eng­lisch)
  • Grie­chen­land-Blog
    Aus und über Grie­chen­land – News, Mel­dun­gen, Kommentare
  • Ellas
    Infor­ma­tio­nen dar­über, wie das Leben in Grie­chen­land in den Zei­ten der „Kri­se“ wirk­lich aus­sieht – und ein biss­chen mehr.
  • Spa­ni­en­le­ben
    Spa­ni­en: aktu­el­le Neu­ig­kei­ten aus Medi­en, Poli­tik, Wirtschaft
  • Uhu­par­do
    Aktu­el­le Berich­te aus Spa­ni­en und über die Kri­sen­po­li­tik im Allgemeinen

Wo immer näm­lich die­se Gesell­schaft nicht funk­tio­niert, wo immer sie ver­sagt, wird ihr Ver­sa­gen an den Ärms­ten offenbar.
Jede Ver­än­de­rung im sozia­len Raum, jede Ver­schär­fung des Wett­be­werbs, jede Zunah­me an Gewalt im öffent­li­chen Leben, jede Kon­ta­mi­nie­rung bil­li­gen Essens hin­ter­lässt in der Lebens­er­fah­rung von Armen ihre Spu­ren. Auch wie Gesell­schaft sich ver­än­dert, in ihren Klas­sen- und Geschlechts­ver­hält­nis­sen eben­so wie in ihrer Mit­mensch­lich­keit, das erfah­ren die Armen zuerst. Sie wer­den des­halb eben nicht nur mate­ri­ell und gesund­heit­lich, sie wer­den auch psy­cho­lo­gisch und mora­lisch am emp­find­lichs­ten von den Ein­bu­ßen der Gesell­schaft getroffen.
In der Armut wird das Selbst­bild der Gesell­schaft gekränkt und bestä­tigt: gekränkt, weil sie ihre idea­len Bil­der ohne Rück­stän­de pro­du­zie­ren möch­te, bestä­tigt, weil sie die­se Armut ja selbst her­stellt, die Pro­duk­ti­on von Armut also genau so for­ciert wie ihr Pen­dant, den Wohlstand.
In die­ser Kul­tur, und das heißt auch in den Bezie­hun­gen der Men­schen unter­ein­an­der, hat sich der Wert der Ver­käuf­lich­keit und Käuf­lich­keit der­art ver­selb­stän­digt, dass Men­schen schon degra­diert wer­den, weil sie nicht am Waren­ver­kehr teil­neh­men kön­nen oder wol­len. Jede Gesin­nung, jedes Phä­no­men, jede Erschei­nung, jede mensch­li­che Her­vor­brin­gung, jede Leis­tung wird auf opti­ma­le Ver­käuf­lich­keit unter­sucht und abge­rich­tet. Unvor­stell­bar, wel­che Kul­tur sich ent­wi­ckeln könn­te, wenn nicht jede Lebens­re­gung an ihrer Markt­taug­lich­keit gemes­sen, wenn Zugang zur Öffent­lich­keit nicht nur Din­gen ver­schafft wür­de, die sich ver­kau­fen las­sen, wenn, mit einem Wort, jeder täte, was er gesell­schaft­lich für wich­tig, und nicht, was er für pro­fi­ta­bel hiel­te. Eine Uto­pie mehr.
(Roger Wil­lem­sen – Der Knacks)