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Was Psych­ia­trie und Psy­cho­lo­gie als Geis­tes­krank­heit vor­füh­ren, ist an die Vor­stel­lung gebun­den, daß es sich dabei um zuneh­men­den Rea­li­täts­ver­lust han­delt. Mehr oder weni­ger Rea­li­täts­be­zug – danach wird alles mensch­li­che Ver­hal­ten klas­si­fi­ziert. »Rea­li­tät« wird dabei aus­schließ­lich als äuße­re Rea­li­tät verstanden.
In der Tat ist der Rea­li­täts­be­zug – sein Feh­len oder der Grad der Erge­ben­heit an die äuße­re Rea­li­tät – ein Ras­ter, in das man Men­schen ein­ord­nen kann und das uns ermög­licht, eine Klas­si­fi­zie­rung vor­zu­neh­men vom psy­cho­ti­schen Ver­hal­ten über die Neu­ro­se zur Nor­ma­li­tät. Doch ein sol­ches Sche­ma ver­deckt, daß es auch noch eine ande­re Art von Krank­heit gibt, die viel gefähr­li­cher ist als die, die vom Ver­lust des Rea­li­täts­be­zugs gekenn­zeich­net ist.
Die­se ande­re Art von Krank­heit zu sehen erfor­dert einen Wech­sel der Blick­rich­tung und eine Abkehr von den her­kömm­li­chen Kate­go­rien. Dann wird man sehen, daß sich hin­ter der Ori­en­tie­rung an der »Rea­li­tät«, die gemein­hin das Kri­te­ri­um für Gesund­heit ist, eine tie­fe­re und weni­ger augen­fäl­li­ge Patho­lo­gie ver­birgt: die des »nor­ma­len« Ver­hal­tens, die Patho­lo­gie der Anpas­sung als Fol­ge der Preis­ga­be des Selbst.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

An die­ser Stel­le ist es nötig, etwas zur sozio­lo­gi­schen Sicht des mensch­li­chen Seins zu sagen. Kri­mi­na­li­tät wird zum Bei­spiel als eine Fol­ge der Armut gese­hen. Doch dies erklärt nicht, war­um die Mehr­heit nicht kri­mi­nell wird. Dar­aus wie­der­um kann man aber nicht schluß­fol­gern, Armut hät­te kei­nen Zusam­men­hang mit Kri­mi­na­li­tät. Man kommt nicht umhin, eini­ges zu dif­fe­ren­zie­ren. Wenn ein Hung­ri­ger stiehlt, han­delt er nicht aus Hab­gier; und wenn er dabei, ohne es zu wol­len, jeman­den umbringt, ist es kein vor­sätz­li­cher Mord. Ande­rer­seits gehö­ren die Rei­chen und Mäch­ti­gen zu jenen in unse­rer Gesell­schaft, die Krie­ge anzet­teln, die Lebens­grund­la­ge ande­rer Men­schen zer­stö­ren, Natur und Men­schen ver­gif­ten. Sie aber sit­zen nicht in den Gefäng­nis­sen. Kri­mi­nal­sta­tis­ti­ken ver­zeich­nen nur des­halb mehr Arme als Rei­che, weil sol­che Sta­tis­ti­ken der Ideo­lo­gie der Rei­chen und Mäch­ti­gen unter­lie­gen und weil sie nicht alle For­men von Destruk­ti­vi­tät aufführen.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Der Erfolg der »Rea­lis­ten« beruht nicht nur auf ihrer Kunst, sich als Füh­rer unent­behr­lich zu machen, son­dern auch auf der Natur des Gehor­sams jener, die sol­che Füh­rer benö­ti­gen, um ihr Selbst abge­ben zu kön­nen. Deren Bedürf­nis nach Anpas­sung rich­tet ihr gesam­tes Sein danach aus, daß sie Regeln erfül­len. Sie hän­gen an den Buch­sta­ben des Geset­zes und der Ver­ord­nun­gen und zer­stö­ren so die Rea­li­tät unse­rer Gefühls­welt. Auf die­se Wei­se brau­chen sie ihre eige­nen zer­stö­re­ri­schen Impul­se nicht zu erken­nen. Sie fin­den oft ihren Ort in der Büro­kra­tie, wo sie im Namen von Gesetz und Ord­nung Gefüh­le nie­der­wal­zen und sich selbst dabei völ­lig im Recht füh­len können.
Die­se Kon­for­mis­ten sind die Fuß­sol­da­ten der psyo­pa­thi­schen Füh­rer­na­tu­ren und hel­fen ihnen, die Welt in den Abgrund zu trei­ben. Die­se Kol­la­bo­ra­ti­on erst macht die Lage so bedroh­lich. 1940 schrieb ein Beam­ter des deut­schen Jus­tiz­mi­nis­te­ri­ums an sei­nen Minis­ter im Hin­blick auf die Eutha­na­sie, daß die­ser doch sei­nen gan­zen Ein­fluß gel­tend machen sol­le, um end­lich dem gesetz­lo­sen Töten von Geis­tes­kran­ken und Behin­der­ten eine gesetz­li­che Basis zu geben. Die Ehre der gesam­ten Jus­tiz ste­he auf dem Spiel.
Das Gewis­sen bedeu­tet hier nichts, ein­zig die Gewis­sen­haf­tig­keit, wie Roland Kir­bach die­se Hal­tung bit­ter kom­men­tier­te. Die Bereit­schaft, die Regeln höher zu ach­ten als das Leben, macht die unhei­li­ge Alli­anz von Kon­for­mist und Psy­cho­path möglich.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Wenn die Pflicht­er­fül­lung durch den sozia­len Druck zur dau­ern­den Antriebs­fe­der wird, ver­stärkt sich fort­wäh­rend die Bereit­schaft, sich dem Wil­len eines ande­ren zu unter­wer­fen. Außer­dem wird immer wei­ter beschnit­ten, was noch vom Gefühl der Eigen­ver­ant­wort­lich­keit – und der Fähig­keit zum Mit­ge­fühl – übrig­ge­blie­ben ist. Pflicht­er­fül­lung wird ein will­kom­me­ner Weg, auf dem man der per­sön­li­chen Ver­ant­wor­tung, die durch Mit­ge­fühl erwa­chen könn­te, ent­kom­men kann. Hat man sich für die Pflicht­er­fül­lung ent­schie­den, so ent­geht man auch dem Schmerz, der von dem eige­nen Mit­ge­fühl her­vor­ge­ru­fen wer­den könn­te. Ein so von der Pflicht beses­se­ner Mensch ist sogar dazu bereit, in treu­er Pflicht­er­fül­lung zu ster­ben – und die­se abs­trak­te Idee hält er für Verantwortlichkeit.

Gehor­sam wird dann zum eigent­li­chen Sinn des Lebens. Es sei an die Kriegs­ver­bre­cher erin­nert, die die­se Ent­schul­di­gung oft vor­brin­gen. Sie soll­ten uns end­lich die Augen öff­nen für die wah­re Bedeu­tung jeder Art von Gehor­sam. Unter dem Deck­man­tel des Befehls gescha­hen alle Arten von Grau­sam­kei­ten und Mord­ta­ten, ohne daß einer die Ver­ant­wor­tung dafür hat über­neh­men müs­sen. In einem gewis­sen Sinn ist die­se Ent­schul­di­gung sogar rich­tig: Die eige­ne See­le hat­te nichts damit zu tun, sie wur­de außer Reich­wei­te des­sen gehal­ten, dem man gehor­sam war. Die­ser trug schließ­lich die Ver­ant­wor­tung. Unter die­ser Vor­aus­set­zung fällt es sol­chen Men­schen auch nicht schwer, die Her­ren zu wechseln.
Nicht selbst die Ver­ant­wor­tung zu tra­gen ist Bestand­teil der Grund­lü­ge. Sie ver­deckt, was die ursprüng­li­che Ent­schei­dung – die Lebens­ent­schei­dung – war: näm­lich sich mit der Unter­wer­fung abzu­fin­den und sein inne­res Leben auf­zu­ge­ben, um an der Macht zu par­ti­zi­pie­ren. An genau die­sem Punkt fällt die Ent­schei­dung dar­über, ob ein Mensch Selbst­ver­ant­wor­tung und die Ver­ant­wor­tung ande­ren gegen­über entwickelt.

Am 27. März 1979 wur­de wäh­rend einer poli­ti­schen Demons­tra­ti­on in der Schweiz ein Schrift­stel­ler von zwei Poli­zis­ten fest­ge­nom­men und zusam­men­ge­schla­gen. Einer der Poli­zis­ten sag­te bei der spä­te­ren Gerichts­ver­hand­lung: »Was wol­len Sie denn von mir? Ich habe mein Leben lang gehorcht, als Kind, als Schü­ler, in der Aus­bil­dung, als Sol­dat und nun als Poli­zist. Ich habe nur mei­ne Befeh­le ausgeführt.«
Hier inter­es­siert nicht so sehr die Tat­sa­che, daß der Poli­zist dann vor Gericht für sich in Anspruch nahm, »auf Befehl« gehan­delt zu haben, son­dern daß er die Ent­wick­lungs­ge­schich­te des Gehor­sams vor­führ­te: Man wächst damit auf, daß man gehor­sam sein muß, nicht aber damit, daß man selbst – und für sich selbst – den­ken und füh­len kann. Und es bleibt ver­bor­gen, daß die­se Ein­übung genau das her­vor­ruft, wovor die Gesell­schaft Angst hat: näm­lich Destruk­ti­vi­tät – vor der sie sich ver­geb­lich durch die Ein­übung in Gehor­sam zu schüt­zen versucht.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Nei­gen wir erst ein­mal zur Tren­nung von Den­ken und Füh­len, so besteht die Schwie­rig­keit dar­in, daß wir nicht mehr in der Lage sind, die­sen Vor­gang zu sehen. Auf­grund unse­rer Ent­wick­lung wer­den wir bestrebt sein, uns nicht so zu sehen, wie wir sind, son­dern so, wie wir mei­nen, daß wir gese­hen wer­den soll­ten. Es wer­den Image und wirk­li­ches Sein sich nicht ent­spre­chen. Und wenn sie sich nicht ent­spre­chen, wird die­ser Wider­spruch der inne­ren Rea­li­tät stän­di­ge Quel­le von Angst sein. Die­ser Wider­spruch bedroht uns mit dem Zusam­men­bruch, und die Angst davor zwingt uns erst recht, auf unse­re Gefüh­le zu »ver­zich­ten«.

Für jene, die in das Erschei­nungs­bild »nor­ma­len« Ver­hal­tens hin­ein­schlüp­fen, weil sie die Span­nung der Wider­sprü­che zwi­schen der uns auf­er­leg­ten Rea­li­tät und ihrer inne­ren Welt nicht ertra­gen, für sol­che Men­schen gibt es bald kei­ne wirk­li­chen Gefüh­le mehr. Statt des­sen gehen sie mit Ideen von Gefüh­len um, haben kei­ne Erfah­rung mehr mit ihnen. Sie prä­sen­tie­ren auf­ge­setz­te Gefüh­le als ihre eige­nen und sagen sich von den wah­ren Gefüh­len los. Je »gesün­der« das Image ihrer Iden­ti­tät, das sie ange­nom­men haben, des­to erfolg­rei­cher wer­den sie die­se Mani­pu­la­ti­on voll­zie­hen kön­nen. Und es ist Mani­pu­la­ti­on, da ihr Ziel nicht der Aus­druck ihrer selbst ist, son­dern sie den ande­ren davon über­zeu­gen wol­len, daß sie ange­mes­sen han­deln, den­ken und füh­len. Dies sind die Men­schen, die ich als die wirk­lich Wahn­sin­ni­gen unter uns zei­gen möchte.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)