Schlagwortarchiv für: Bahn

Wie­der fah­re ich mit einem Zug. Schon als Kind ist es mir die liebs­te Art des Rei­sens gewe­sen. Das Zug­fah­ren übt auf mich eine Form von Magie aus, es fas­zi­niert mich, es fes­selt mich, es lie­fert mei­ner Phan­ta­sie einen Nähr­bo­den, auf dem sie präch­tig gedei­hen kann. Jedes Mal, seit ich klein war, habe ich mich auf das Zug­fah­ren gefreut, schon Wochen, ja Mona­te im Vor­aus, wenn ich zufäl­lig die Rei­se­pla­nung mei­ner Eltern auf­ge­schnappt hat­te oder sie mir lächelnd davon erzähl­ten, weil sie wuss­ten, wie sehr ich der Bahn­fahrt ent­ge­gen­fie­bern wür­de. Als ich sie­ben war, fuh­ren wir nach Frank­reich, und ich löcher­te mei­ne Eltern tage­lang mit einer Land­kar­te, wo wir denn lang­fah­ren wür­den und ob es dort Bäu­me gäbe oder Ber­ge oder Tun­nel oder Wie­sen. Ich habe nie ein­schla­fen kön­nen, wenn ich erfuhr, ich wür­de am nächs­ten Tag in einem Zug sit­zen, so auf­ge­regt war ich, so vol­ler Vor­freu­de. Es war ein Aben­teu­er, etwas Beson­de­res, etwas, wovon ich noch wochen­lang schwär­men konnte.
Viel­leicht war es albern, viel­leicht auch bloß kind­li­che Fas­zi­na­ti­on, aber ich habe mir bis heu­te ein wenig davon bewahrt. Ich war nie jemand, der in der Bahn die Zei­tung liest oder sich ein Buch zur Hand nimmt. Dafür ist mir das Zug­fah­ren schon immer viel zu auf­re­gend gewe­sen. Ich inter­es­sier­te mich nicht ein­mal beson­ders für die Mit­men­schen um mich her­um, die ihren Beschäf­ti­gun­gen nach­gin­gen, im Gang stan­den, mit­ein­an­der rede­ten oder ver­such­ten zu schla­fen. Statt­des­sen rann­te ich vor mei­nen Eltern in den Wagen, such­te uns Plät­ze und setz­te mich ans Fens­ter, nie irgend­wo anders hin außer ans Fens­ter. Dann schau­te ich hin­aus. Die gan­ze Fahrt über saß ich da, jedes ein­zel­ne Mal, und blick­te zufrie­den durch das Glas auf die vor­bei­zie­hen­de Welt, oder ich streck­te, als ich schon etwas grö­ßer war, hin und wie­der den Kopf durch das geöff­ne­te Fens­ter, weil ich es genoss, den Fahrt­wind auf der Haut zu spü­ren, die­ses unmit­tel­ba­re Gefühl der eige­nen Fortbewegung.
Mit atem­be­rau­ben­der Geschwin­dig­keit ras­te ich an der Welt vor­über, an Men­schen, Kin­dern vor allem, die stau­nend das Spek­ta­kel betrach­te­ten, an Fel­dern, an Kühen und Bäu­men, durch Bahn­hö­fe und an Stra­ßen vor­bei, und den­noch bewegt man sich die gan­ze Zeit im Grun­de nur auf einem Pfad, den ande­re für einen vor­ge­ge­ben haben. Ich ließ mei­ne Gedan­ken schwei­fen, ver­gaß für eine Wei­le die Sor­gen der Welt, schau­te aus dem Zug und war ein­fach nur da, jetzt im Moment, voll­kom­men frei. Mei­ne Phan­ta­sie ver­lor ihre gewohn­te Zurück­hal­tung, sie wur­de beflü­gelt von dem, was ich sehen, was ich hören und was ich spü­ren konn­te. Das Rüt­teln des Wagens, der über die Glei­se rauscht, das Getö­se der Dampf­lo­ko­mo­ti­ve und das rhyth­mi­sche Geräusch der Ach­sen, das alles ver­moch­te es bei jeder Fahrt aufs Neue, mich in eine Art Rausch zu ver­set­zen, mich zu betö­ren, zu umklam­mern und mich sanft in mei­ne Tag­träu­me zu schaukeln.
Ich stell­te mir in sol­chen Momen­ten vor, ich wäre auf einem wei­tent­fern­ten Pla­ne­ten, der Ent­de­cker frem­der Sphä­ren. Ich träum­te von einer ande­ren Welt oder mal­te mir zuwei­len aus, im Post­wa­gen wür­den die wich­tigs­ten Doku­men­te des Lan­des trans­por­tiert, geheims­te Geheim­sa­chen, Bau­plä­ne und Regie­rungs­be­schlüs­se, oder gar Schät­ze von uner­mess­li­chem Wert, und ich, ich wäre somit ein Teil des wich­tigs­ten Zuges der Nati­on. Wenn ich an Wäl­dern vor­bei­fuhr, dann sah ich Bäu­me, die ihre Äste inein­an­der ver­schlun­gen hat­ten und tanz­ten, die her­um­wir­bel­ten und dabei ihre Blät­ter ableg­ten wie Klei­der, derer sie über­drüs­sig gewor­den sind. Ich stell­te sie mir vor, wie sie gewöhn­lich stolz daste­hen, erho­be­nen Haup­tes, sich weder Wind noch Regen beu­gen. Sie tra­gen ihre Kro­nen zu Recht, dach­te ich dann, sie sind die wah­ren Köni­ge, die Köni­ge der Welt. Mit dem Zug­fah­ren ver­bin­de ich trotz all des Lärms die ruhigs­ten Momen­te mei­nes Lebens, und obwohl man auf Schie­nen stän­dig unter­wegs ist, war es ein Ort, an dem ich ankom­men konn­te, vor allem bei mir selbst. Wenn ich in einem Zug saß, dann fühl­te ich mich glücklich.
Dies­mal ist es anders. Der Wagen ist so voll, dass wir uns gegen­sei­tig auf den Füßen ste­hen. Dies­mal sit­ze ich nicht am Fens­ter, dies­mal kann ich nicht nach drau­ßen sehen, dies­mal bin ich nicht glück­lich. Den­noch stel­le ich mir die Land­schaft vor, die Fel­der und Bäu­me, wie sie alle­samt an mir vor­über­zie­hen oder viel­mehr ich an ihnen, schnell und weit­ge­hend unbe­merkt. Die Bäu­me, sie win­ken mir zu, ver­beu­gen sich vor mir im Wind, schau­en mir nach, wün­schen mir Glück. Wie­der träu­me ich von einer ande­ren Welt, dies­mal jedoch, weil mir der Glau­be an die­se hier abhan­den­ge­kom­men ist. Ich fürch­te, es wird die letz­te Zug­fahrt mei­nes Lebens sein, nach allem was man hört. Ich bin auf dem Weg zu einem Ort namens Treblinka.

In der Regio­nal­bahn, eine wah­re Bege­ben­heit. Zwei älte­re Her­ren betre­ten den Dop­pel­stock­wa­gen und suchen sich einen Sitz­platz im obe­ren Bereich:

#1: Das sind doch schö­ne Plät­ze. Ich mag es hier oben.

#2: Aber du weißt: Wenn man erst ein­mal oben ist …

#1: … will man nicht wie­der runter?

#2: Das auch. Vor allem aber will man immer höher. Wie Schil­ler schon sag­te: »Stre­ben wir nicht all­zu hoch hin­auf, daß wir zu tief nicht fal­len mögen«.

#1: Nun, das ist eben Risi­ko. Ich glau­be, risi­ko­be­wuss­te Men­schen sit­zen oben, anstatt unten in der Mas­se unterzugehen.

#2: Aber man braucht die da unten, um sich hier oben bes­ser füh­len zu können.

PAU­SE

#1: Ich mag die Aus­sicht hier oben. Man sieht so weit. Unten sieht man nur Büsche.

#2: Man sieht viel­leicht mehr, aber sieht man auch besser?

#1: Ich den­ke schon. Man kann ande­ren bes­ser hel­fen, wenn man oben ist. Man hat mehr Mög­lich­kei­ten und einen bes­se­ren Überblick.

#2: Da habe ich ande­re Erfah­run­gen: Oben sieht man über alles hin­weg. Solan­ge die von unten nicht nach oben kom­men, nimmt man sie nicht wahr.

#1: Da hast du Recht. Aber es scheint, die haben sich mit ihrem Platz da unten abgefunden.

#2: Viel­leicht weil sie noch nie oben waren.

#1: Das kann sein.

Fazit: So ein­fach kann man die Gesell­schaft grob zusam­men­fas­sen. Wäh­rend ges­tern noch vom so genann­ten Fahr­stuhl­ef­fekt gespro­chen wur­de, kommt es nun durch Auf­lö­sung der Mit­tel­schicht zur Doppelstockwagen-Gesellschaft.