Schlagwortarchiv für: Enttäuschung

Es gibt kaum etwas, das so schwer zu fin­den und so leicht wie­der zu ver­lie­ren ist wie Glück. In ihrem Leben ist Glück schon immer eine Sel­ten­heit gewe­sen und sie litt unter den Man­gel­er­schei­nun­gen, die die­ses Defi­zit an Glück in ihr bewirk­te. Sie war als Halb­wai­se auf­ge­wach­sen, allein mit ihrem Vater, da ihre Mut­ter kurz nach der Geburt gestor­ben war. Ihre nicht all­zu unbe­schwer­te Kind­heit war von ste­ti­ger Ent­beh­rung geprägt, unter deren alles über­schat­ten­dem Ein­fluss nicht nur ihre per­sön­li­che Ver­fas­sung, son­dern auch ihre schu­li­schen Leis­tun­gen haben lei­den müs­sen, also hat sie die Schu­le ver­las­sen, sobald die­se Mög­lich­keit in Sicht­wei­te gera­ten war, um Geld zu ver­die­nen für das, was sie Fami­lie nann­te. Ihr Ein­kom­men reich­te kaum zum Über­le­ben. Sie hat­te eine Arbeit, denn sie han­gel­te sich von Aus­hilfs­tä­tig­keit zu Aus­hilfs­tä­tig­keit, doch war die­ser Job nicht mehr als eine Über­gangs­lö­sung, ein schlecht bezahl­ter Lücken­fül­ler für Men­schen ohne Qua­li­fi­ka­ti­on, den sie, des­sen war sie sich bewusst, recht bald wie­der ver­lie­ren würde.

Zwar hat­ten ihre Eltern eini­ge Erspar­nis­se ange­sam­melt, die ihr Vater nun mehr schlecht als recht ver­wal­te­te, doch wur­den die­se klei­nen finan­zi­el­len Reser­ven haupt­säch­lich dadurch auf­ge­zehrt, die monat­li­chen Rech­nun­gen zu beglei­chen und das in die Jah­re gekom­me­ne Haus irgend­wie instand zu hal­ten, in wel­chem sie mit ihrem Vater wohn­te und in dem schon ihre Ur-Groß­el­tern vor ihr gewohnt hat­ten. Die­ses Fami­li­en­erb- und Bruch­stück trieb sie in den schlei­chen­den Ruin und so hat­te sie in der Ver­gan­gen­heit beacht­li­che Schul­den ange­häuft, die sie nicht mehr wür­de beglei­chen kön­nen, wenn das Erspar­te ein­mal auf­ge­braucht wäre. Zu ihren mate­ri­el­len Sor­gen gesell­ten sich zudem auch zwi­schen­mensch­li­che Wir­run­gen. Wäh­rend ihr Vater zunächst sie gepflegt und auf­ge­zo­gen hat­te, war es nun an ihr, ihren alters­schwa­chen Vater zu ver­sor­gen. Sie hat­ten kein beson­ders gutes Ver­hält­nis zuein­an­der, denn er schien von ihr ent­täuscht zu sein und ließ sie das jeden Tag deut­lich spü­ren, doch war er immer noch ihr Vater und sie fühl­te sich für ihn verantwortlich.

Auch ihr Bezie­hungs­le­ben konn­te sie nicht glück­lich machen. Traf sie ein­mal einen Mann, auf den es sich in ihren Augen ein­zu­las­sen lohn­te, was in ihrem Leben wirk­lich sel­ten geschah, dann waren all die­se Bezie­hun­gen doch nie von all­zu lan­ger Dau­er und lie­ßen sie in einem emo­tio­na­len Trüm­mer­hau­fen zurück, wenn sie schließ­lich wie ein Kar­ten­haus zer­fie­len. Kein eines Mal in ihrem Leben hat­te sie je so etwas wie völ­li­ge Zufrie­den­heit erlebt. Zwar hat­te sie ab und an das so genann­te Glück gefun­den, doch ver­ging es stets so schnell wie es gekom­men war. Falls sich tat­säch­lich so etwas wie Hoff­nung vor ihrer Nase befand, so konn­te sie es jeden­falls nicht sehen. Kurz gesagt, ihr Leben war eine Groß­bau­stel­le, deren Archi­tekt ein Zyni­ker und deren Vor­ar­bei­ter ein hoff­nungs­lo­ser Unglücks­ra­be war.

Als sie zu einem ihrer vie­len Bewer­bungs­ge­sprä­che ging, zu einem Vor­stel­lungs­ter­min in einem anony­men Glas­pa­last, bei dem sie wie­der ein­mal abge­lehnt wur­de, traf sie einen auf­ge­weck­ten jun­gen Mann. Bei­de teil­ten das glei­che Schick­sal, zumin­dest in Hin­blick auf die ent­täusch­te Hoff­nung, die die­ses Bewer­bungs­ge­spräch ihnen ein­ge­pflanzt hat­te, und bei­de führ­ten sie ein Leben, mit dem sie nicht zufrie­den sein konn­ten, selbst wenn sie es gewollt hät­ten. Anstatt nach Hau­se zu fah­ren, wo nichts auf sie gewar­tet hät­te außer ihrem miss­ge­laun­ten Vater, setz­te sie sich gemein­sam mit die­sem Mann in ein Café, bestell­te Kuchen, den sie sich nicht leis­ten konn­te, und ver­brach­te den gesam­ten Nach­mit­tag mit ange­reg­ter Unter­hal­tung, mit Lachen und gar mit so etwas wie Eupho­rie. Die Zeit ver­ging, als ob sie es nicht bes­ser wüsste.

Spät am Abend stand sie vor der Wahl, den Tag mit die­ser kur­zen Epi­so­de der Freu­de zu been­den oder aber auf sein Ange­bot ein­zu­ge­hen, denn er hat­te sie char­mant in sei­ne Woh­nung ein­ge­la­den. Schließ­lich ver­brach­te sie die Nacht mit die­sem Mann. Er war nicht ihre gro­ße Lie­be, dar­über mach­te sie sich kei­ne Illu­sio­nen, doch zum ers­ten Mal seit lan­ger Zeit fühl­te sie sich wie­der glück­lich. Es war nicht bloß ein bei­läu­fi­ges Glücks­ge­fühl, wie sie es ab und an ein­mal erleb­te, son­dern völ­lig und unbe­dingt in sei­ner Art. Ihr Glück ver­dräng­te jedes ande­re Gefühl in ihr, all die Sor­gen und Ängs­te, deren schwe­res Gewicht sie stän­dig mit sich her­um­zu­tra­gen hat­te, das sie her­un­ter­zog und an den Boden presste.

Als sie am nächs­ten Mor­gen nach Hau­se kam, tanz­te sie ganz unbe­schwert her­um, schweb­te lächelnd durch die Räu­me und summ­te lei­se vor sich hin, wäh­rend ihr Vater, der all das über­rascht zur Kennt­nis nahm, sie bloß jäh und rup­pig anblaff­te, ob sie denn dies­mal end­lich einen ernst­zu­neh­men­den Arbeits­platz gefun­den hät­te. Sie aber woll­te das nicht hören, sie moch­te in die­sem Augen­blick von alle­dem nichts wis­sen, denn sie war glück­lich und sie woll­te die­ses zer­brech­li­che Glück nicht wie­der zer­fal­len sehen. Sie woll­te die­sen glück­li­chen Moment so lan­ge kon­ser­vie­ren wie irgend mög­lich. Sie blick­te auf die Fotos frü­he­rer Tage, die in die­sem Haus an den Wän­den hin­gen, fest­ge­hal­te­ne Erin­ne­run­gen an eine trau­ri­ge Ver­gan­gen­heit. „Du wirst glück­lich sein“, sprach sie sanft zu einem die­ser Bil­der, zu die­ser unglück­li­chen jun­gen Frau, die bis­lang so wenig Hoff­nung für sich gese­hen hat­te. Dann schritt sie fröh­lich in das Arbeits­zim­mer ihres Vaters, öff­ne­te eine Schreib­tisch­schub­la­de, griff hin­ein, nahm die gela­de­ne Pis­to­le her­aus, die ihr Vater dar­in auf­be­wahr­te, steck­te sich den Lauf in den Mund und drück­te ab.

Weißt du, was mir das Herz zer­reißt, jeden Mor­gen, wenn ich auf­ste­he, und jeden Abend, wenn ich mich schla­fen lege? Ich füh­le mich, als hät­te mich ein Last­wa­gen ange­fah­ren, und nicht nur das, als sei der Fah­rer has­tig aus­ge­stie­gen, um sich das Unglück näher anzu­se­hen, hät­te sich wie­der hin­ters Lenk­rad bege­ben, kalt den Rück­wärts­gang gewählt und mich erbar­mungs­los zer­quetscht, womit er schließ­lich noch ganz sicher gehen will, dass ich von hier nie wie­der auf­ste­hen wür­de. Wäh­rend es mir das Herz zer­reißt, zer­reißt du nur mei­ne Brie­fe, als wären es längst begli­che­ne Schuld­schei­ne aus einer klam­me­ren Ver­gan­gen­heit. Über­haupt behan­delst du mich, als sei es eine rui­nö­se Quar­tals­ab­rech­nung, die du nun mit mir durch­füh­ren musst, eine emo­tio­na­le Insol­venz, die mit den Wor­ten endet: Wir müs­sen Sie lei­der ent­las­sen, aber neh­men Sie es bit­te nicht per­sön­lich. Ja, wie denn sonst?
Du konn­test so schnell Anschluss fin­den, nach­dem wir aus­ein­an­der bra­chen. Weni­ge Stun­den danach kehr­test du zurück zum unbe­schwer­ten Tages­ge­schäft, du trafst dich mit dei­nen Freun­din­nen und Freun­den, du konn­test lachen und du gingst abends fröh­lich aus, so als hät­te es die­se Ver­bin­dung zwi­schen uns nie­mals gege­ben. Mich hin­ge­gen warf es aus der Bahn, tage­lang aß ich nicht genug, wochen­lang schlief ich nicht sehr viel, mona­te­lang war ich eine ande­re Per­son und noch für Jah­re wirst du in Gedan­ken immer bei mir sein. Für dich aber war es, als wür­dest du umstei­gen. Du ver­ließt den Zug, mit dem du bis hier­her gekom­men warst, und wo die­ser Zug ohne dich dann hin­fah­ren wür­de, was wei­ter­hin mit ihm geschah, das war dir egal, denn du stiegst bloß in einen neu­en. Kein Blick zurück, für dich war jeder Zug so gut wie jeder ande­re, und falls der alte Zug ent­gleist, nach­dem du aus­ge­stie­gen bist, dann umso bes­ser, dass du ihn recht­zei­tig ver­las­sen hast. Es riss mir den Boden unter den Füßen weg, doch du standst da wie eine Wächter­sta­tue, gleich­mü­tig und uner­schüt­ter­lich. Tag um Tag starr­te ich für Stun­den auf das Post­fach mei­ner Mails, jede SMS, die ich bekam, ver­setz­te mei­nem Her­zen einen hoff­nungs­fro­hen Schock, und wenn es klin­gel­te, dann rann­te ich zur Tür. Ich wuss­te, ich war­te­te ver­ge­bens, denn du warst schon längst wei­ter­ge­zo­gen, und den­noch konn­te ich nicht auf­hö­ren, ver­ge­bens auf dich zu war­ten. Mei­ne Gefüh­le koch­ten über und du nahmst dei­ne unge­rührt vom Herd, du stell­test sie nicht ein­mal auf die Warm­hal­te­plat­te. Du sag­test zu mir mit nai­ver Ernst­haf­tig­keit in der Stim­me, ich sol­le mei­ne Gefüh­le für dich ganz ein­fach ver­ges­sen, und du konn­test und kannst noch immer nicht ver­ste­hen, wie ich, wie irgend­je­mand Gefüh­le hegen kann, die sich nicht ein­fach wie das Licht belie­big ein- und aus­schal­ten las­sen. Ein­fach, für dich war alles ein­fach. Wie machst du das und wie konn­test du je lie­ben, wenn du Emo­tio­nen so stark unter ratio­na­le Kon­trol­le zwingst?
In dei­nen Augen haben wir uns zu unver­söhn­li­chen Gegen­spie­lern ent­wi­ckelt. Was zwi­schen uns geschah, das ist für dich zu einer Übung in Logik ver­kom­men, ein Debat­tier­club zu zweit, in dem gewinnt, wer sei­nen Geg­ner argu­men­ta­tiv zu Boden wirft. Du bist dar­in ver­bis­sen uner­bitt­lich, weil du die Deu­tungs­ho­heit über das Gesche­he­ne ver­langst. Wir waren für den jeweils ande­ren zu tra­gen­den Wän­den sei­nes Lebens gewor­den, und wäh­rend mein Haus nun in den Trüm­mern des Ver­gan­ge­nen liegt, hast du sie ein­ge­ris­sen, als wären sie aus Papp­ma­ché. Mit rück­sichts­lo­ser Prä­zi­si­on plat­zier­test du Spreng­stoff an allen Brü­cken, die wir uns zuvor mit Mühe erbaut hat­ten, damit die Welt für uns begeh­bar war, und als sie am Ende hin­ter dir zer­fie­len, stand ich noch immer drauf. Du hät­test all das nie so ernst genom­men, sagst du heu­te kalt zu mir, weil es von Anfang an mir wich­ti­ger gewe­sen sei als dir, was wir uns bei­de dort errich­te­ten, und beken­ne ich dir dann, dass du für mich auf ewig unver­gleich­bar blei­ben wirst, erwi­derst du in knap­pem Ton, du seist doch bloß wie all die ande­ren. Hast du die Lie­be je verstanden?
Ich ver­krie­che mich in mir selbst, wäh­rend du so bei­läu­fig neue Kon­tak­te knüpfst, als wäre nichts gesche­hen, als wäre dir jeder belie­bi­ge Mensch genug, um mich ganz gleich­gül­tig zu erset­zen. Wäh­rend du für mich die eine Schnee­flo­cke bist, die ich kein zwei­tes Mal auf die­ser Erde fin­den wer­de, wur­de ich für dich zu einem aus­tausch­ba­ren Was­ser­trop­fen, der völ­lig unsicht­bar im Meer ver­geht. All die Eigen­hei­ten unse­rer Bezie­hung, die mir für uns so exklu­siv erschie­nen, die klei­ne Welt, die ein­mal unse­re eige­ne war, teilst du so unbe­küm­mert mit mir Unbe­kann­ten, als hät­te sie dir nie etwas bedeu­tet. Jene Magie, die ein­mal zwi­schen uns bestand und die noch immer in mir wirkt, ist nun für dich bloß fau­ler Zau­ber, an dem du dich mit einer Ver­ve ver­gehst, die mir zer­stö­re­risch erscheint. Was dir einst wich­tig war und mir stets ist, das ist für dich wie aus­ge­löscht. Du tust, als sei da kein Gefühl, und die­ser Part liegt dir so gut, dass ich mich manch­mal fra­ge, ob das nun wirk­lich Schau­spiel ist oder ob Lie­be denn für dich schon immer bloß die Rol­le war. Was mir das Herz zer­bricht, das ist, dass dei­nes kei­nen Krat­zer trägt.

Brod’s life was a slow rea­liza­ti­on that the world was not for her, and that for wha­te­ver reason, she would never be hap­py and honest at the same time. She felt as if she were brim­ming, always pro­du­cing and hoar­ding more love insi­de her. But the­re was no release. Table, ivo­ry ele­phant charm, rain­bow, oni­on, hair­do, mol­lusk, Shab­bos, vio­lence, cutic­le, melo­dra­ma, ditch, honey, doi­ly… None of it moved her. She addres­sed her world honest­ly, sear­ching for some­thing deser­ving of the volu­mes of love she knew she had within her, but to each she would have to say, I don’t love you. Bark-brown fence post: I don’t love you. Poem too long: I don’t love you. Lunch in a bowl: I don’t love you. Phy­sics, the idea of you, the laws of you: I don’t love you. Not­hing felt like any­thing more than what it actual­ly was. Ever­y­thing was just a thing, mired com­ple­te­ly in its thingness.
If we were to open a ran­dom page in her jour­nal – which she must have kept and kept with her at all times, not fea­ring that it would be lost, dis­co­ver­ed and read, but that she would one day stumb­le upon that thing which was final­ly worth wri­ting about and remem­be­ring, only to find that she had no place to wri­te it – we would find some ren­de­ring of the fol­lo­wing sen­ti­ment: I am not in love.
So she had to satis­fy hers­elf with the idea of love – loving the loving of things who­se exis­tence she did­n’t care at all about. Love its­elf beca­me the object of her love. She loved hers­elf in love, she loved loving love, as love loves loving, and was able, in that way, to recon­ci­le hers­elf with a world that fell so short of what she would have hoped for. It was not the world that was the gre­at and saving lie, but wil­ling­ness to make it beau­tiful and fair, to live a once-remo­ved life, in a world once-remo­ved from the one in which ever­yo­ne else see­med to exist.
(Jona­than Safran Foer – Ever­y­thing is Illuminated)

„Wie­so bist du hier?“

„Ich bin gekom­men, um end­lich das zu tun, wor­auf ich schon so lan­ge warte.“

„Du kannst mich nicht töten, das weißt du. Er wird es nicht zulas­sen. Du wur­dest ver­bannt, das ist nicht mehr dein Reich.“

„Er war glück­li­cher, bevor du kamst, und er fängt an, das zu begreifen.“

„Er war nicht glücklich.“

„Dei­ne gewohn­te Über­heb­lich­keit, mein Freund. Nein, er war nicht glück­lich, aber war nie so unglück­lich wie jetzt, nach alle­dem, was du ihm ange­tan hast.“

„Was ich ihm ange­tan habe? Du bist so selbst­ge­recht wie eh und je. Ich war für ihn Prometheus!“

„Du warst für ihn Pandora.“

„Ich gab ihm Hoffnung…“

„Ent­täuscht!“

„…ich gab ihm Zuversicht …“

„Ernüch­tert!“

„…ich gab ihm Glau­ben an das Gute.“

„Und was hat es gebracht? Was hat es ihm gebracht?“

„Er führt end­lich ein Leben, ein rich­ti­ges Leben. Was für ein Leben war es denn zuvor, bevor ich kam, als er noch füg­sam auf dich hör­te? Was waren dei­ne Leis­tun­gen für ihn, was hast du Gutes je für ihn getan? Du hast ihn mit dem Wahn infi­ziert, die Welt habe ihm nichts, aber auch gar nichts zu bie­ten, hast ihn ent­mu­tigt und ihn mit­lei­dig beschwo­ren, sich hin­ter einer Mau­er zu ver­ste­cken, die du bereit­wil­lig für ihn errich­tet hast. Alles, was er sah, das war für ihn nur schlecht, böse und es nicht wert, sich dar­auf einzulassen.“

„Bis du kamst, nicht wahr, und ihm gesagt hast, er brau­che nur in das Gute zu ver­trau­en, und das Gute wür­de gesche­hen. Oh, du Narr! Er war naiv genug, um dir zu glau­ben, doch was bekam er dann dafür? Ent­täu­schung, Wut, Ver­zweif­lung. Es hat sich nie gelohnt. Das Gute, das du ihm ver­sprachst, hat er bis heu­te nicht gesehen.“

„Er wird es sehen und das War­ten wird sich für ihn loh­nen, wenn er bloß jetzt nicht resi­gniert, wenn er sich Offen­heit bewahrt und nicht in sei­nem Gram ver­schließt. Bleib von ihm fern, und auf lan­ge Sicht wird alles gut.“

„Das War­ten, das War­ten, das War­ten. Wie lan­ge soll er denn noch war­ten? Schau ihn dir an, er hat genug vom War­ten. Wer kann es ihm ver­übeln? Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr ver­trös­test du ihn mit die­sem vor­lau­ten, hane­bü­che­nen Opti­mis­mus, er müs­se nur Geduld haben, und das Gute wer­de ihn erei­len. Nie hat er irgend­was davon gese­hen, bis heu­te wur­de es nicht wahr. Zum Teu­fel mit der Geduld! Zum Teu­fel mit der Offenheit!“

„Du wirst ihn nicht wie­der bekom­men. Er ist ein bes­se­rer geworden.“

„Ach ja? Wie war er denn, bevor du ihn ver­füh­ren kamst?“

„Zynisch. Er war ein Pes­si­mist, er hat­te kei­ner­lei Erwar­tun­gen an die Welt, denn da warst du und hast sie ihm genommen.“

„Aber du gabst ihm Erwar­tun­gen, Hoff­nun­gen und Vertrauen…?“

„Ganz recht, ich gab ihm Erwar­tun­gen, Hoff­nun­gen und Ver­trau­en, wäh­rend du ihm alles nahmst.“

„Du gabst ihm Luft­schlös­ser, Träu­me und Illu­sio­nen! Du hast ihm die ver­bo­te­ne Frucht prä­sen­tiert und er, er hat sie sich genom­men. Hat sich eine sei­ner Erwar­tung erfüllt, die du in ihm gesät hast? Irgend­ei­ne? Sein Unglück, das ihn nun so quält, was glaubst du wohl, woher es rührt? Jede ernst­haf­te Erwar­tung wur­de ent­täuscht, jede auf­rich­ti­ge Hoff­nung, jedes offe­ne Ver­trau­en. Wo du auf­trittst, endet es immer wie­der gleich. Quel­len der Pein sind alles, was du ihm gege­ben hast. Das ist sein Unglück! Ohne dich hät­te er all das Leid nie erfah­ren, und er leb­te gut so, bevor du anfingst, alles zu zerstören.“

„Ja, denn das war dei­ne Lösung für ihn: Lee­re. Natür­lich, er konn­te nicht ent­täuscht wer­den, wenn er kei­ner­lei Erwar­tun­gen heg­te, aber kann ein Mensch so je glück­lich wer­den? Er wird sein Glück nur fin­den kön­nen, wenn er das Risi­ko wagt, von Zeit zu Zeit ent­täuscht zu wer­den. Du aber hast ihm alles genom­men, für das es sich zu leben lohnt. Er hat­te kei­ner­lei Hoff­nung für die Zukunft. Es gab nie­man­den, dem er sein Ver­trau­en schenk­te. Kein Mensch war ihm wich­tig, die Welt für ihn ein schlech­ter Ort. Und du besitzt die Unver­schämt­heit, es zu wagen, das ein gutes Leben zu nen­nen, was er da führte?“

„Ein bes­se­res als du es ihm geschaf­fen hast. Zynis­mus hat ihn nie so hart ent­täuscht wie du. Frü­her war er stär­ker, frü­her hat­te er sein Boll­werk gegen die Welt. Doch dann kamst du, mein Freund, der edle Befrei­er, und du erst hast ihm ein­ge­re­det, er kön­ne so nicht leben, das mache ihn nicht glück­lich, er sol­le alle Tore sei­ner Fes­tung öff­nen, um das Gute in sein Leben zie­hen zu las­sen. Aber was kam wirk­lich durch die Tore? Sieh ihn dir an! Er ist unglück­li­cher als je zuvor.“

„Er kann nicht ein­fach wie­der zurück­ge­hen, nicht nach­dem er so weit gekom­men ist. Wenn er die Hoff­nung fah­ren lässt, ist er so gut wie tot, das siehst auch du. Ich zei­ge ihm das Leben, du zeigst ihm bloß Verzweiflung.“

„Ich zei­ge ihm, wie er Ver­zweif­lung aus dem Weg geht, die du erst in sein Leben gebracht hast. Er hat genug von dir. Sei­ne Geduld ist am Ende, des­we­gen bin ich hier. Er wird dich nicht län­ger beschüt­zen. Du hat­test dei­ne Chan­ce und du hast versagt.“

Wer mit Unge­heu­ern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Unge­heu­er wird, schreibt Nietz­sche, und wenn du lan­ge in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Men­schen sind über­all gleich. Ich kam in die­se Stadt und ich tat es ohne die gerings­ten Erwar­tun­gen. Es war etwas Neu­es für mich, eine unge­wohn­te Umge­bung, und die­se Stadt war so gut wie jede ande­re. Selbst wenn ich es mir zunächst nicht ein­ge­stand, war es für mich ein Ort der Hoff­nung, ein Ort der Träu­me, ein Ort der Illusionen.
Der ers­te Ein­druck über­rasch­te mich. Man nahm mich freund­lich auf, ein­fach so, ohne Bedin­gun­gen und ohne jede Umschwei­fe. Es war für die­se Men­schen nichts Unge­wöhn­li­ches, einen Neu­en, einen Frem­den in ihren Rei­hen zu begrü­ßen. Das unter­schied die­sen Ort von bei­na­he allem, was ich kann­te, denn wie schwer, wenigs­tens aber auf­wän­dig war es doch in der Regel, mit offe­nen Armen als Frem­der in eine bestehen­de Gemein­schaft auf­ge­nom­men zu wer­den. Nicht so hier. Ein­woh­ner kamen und gin­gen, und manch­mal blie­ben sie nur weni­ge Wochen. Es war eine Freund­lich­keit, eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, die mich begeis­ter­te. Den schma­len Grat zwi­schen kind­li­chem Ver­trau­en und unbarm­her­zi­ger Distanz pfleg­te ich stets mit einer Art von Grund­ver­trau­en zu beschrei­ten, das aus­glei­chend begrenzt wur­de durch eine über die Jah­re hin­weg gewach­se­ne Men­schen­kennt­nis, derer es bedarf, um nicht der blin­den Nai­vi­tät anheimzufallen.
Im All­ge­mei­nen ver­trau­te ich selbst völ­lig unbe­kann­ten Men­schen, solan­ge sie mir kei­nen Grund lie­fer­ten, dar­an zu zwei­feln. Was wäre die Alter­na­ti­ve gewe­sen. Gesun­des Miss­trau­en ist ein Wider­spruch in sich, so etwas gibt es nicht, und lie­ber woll­te ich bis­wei­len in mei­nem Ver­trau­en ent­täuscht wer­den, als mit para­no­ider Grund­hal­tung durch die Welt zu gehen, denn Miss­trau­en för­dert unab­läs­sig Misstrauen.
Ich fühl­te mich hier zuhau­se. Nie­man­den inter­es­sier­te, war­um ich gekom­men war. All die mensch­li­chen, nur all­zu mensch­li­chen Kate­go­rien, die bis­wei­len dafür sorg­ten, Kei­le zwi­schen die Indi­vi­du­en zu trei­ben, schie­nen hier ohne Bedeu­tung zu sein. Alter, Geschlecht, Her­kunft, Aus­se­hen oder Sta­tus, Erfolg, Bil­dungs­grad und noch die ver­rück­tes­ten Inter­es­sen waren für das Mit­ein­an­der die­ser Men­schen allem Anschein nach völ­lig neben­säch­lich, zumin­dest lie­ßen sie sich nicht im gerings­ten anmer­ken, dar­auf irgend­ei­nen Wert zu legen. Es war zu gut, um wahr zu sein. Es war nicht wahr – aber das konn­te ich zu die­sem Zeit­punkt noch nicht wis­sen. Ich hät­te es wis­sen müs­sen, aber ich tat es nicht, denn wer stellt schon Fra­gen, wenn ihm Ein­lass in das Para­dies gebo­ten wird.
Nun, da ich ihn ver­las­se, muss ich rück­bli­ckend auf die­sen Ort lei­der sagen, dass die Ent­täu­schung über­wiegt. Es gab sehr viel Freu­de, schö­ne Momen­te, gute Erfah­run­gen, aber letzt­lich auch ein Über­maß an Frus­tra­ti­on. Vie­le Mona­te habe ich hier damit ver­bracht, Hoff­nun­gen und Träu­men nach­zu­ja­gen, die am Ende fast alle ent­täuscht wur­den. Ich kom­me mir so dumm vor. Alles ließ ich ste­hen und lie­gen, sogar mei­ne Arbeit ver­nach­läs­sig­te ich in all der Zeit, weil es für mich nichts Wich­ti­ge­res gab auf der Welt als die­se Men­schen, auf die ich mei­ne Hoff­nun­gen setz­te. Und für was? Was dach­te ich zu sehen? Men­schen, die nicht so sind wie an jedem ande­ren Ort der Welt? Illu­sio­nen! Wie­so also soll­te ich bleiben.
Viel­leicht mag es auf den ers­ten Blick para­dox erschei­nen, mein Grund­ver­trau­en von einer gewis­sen Art Distanz beglei­ten zu las­sen, die aber gar kein Wider­spruch, son­dern eher Gegen­ge­wicht ist. Mit einem Groß­teil der Men­schen, die ich im Lau­fe mei­ner Tage ken­nen­ler­ne, kann ich, so schwer es mir das Leben auch manch­mal macht, in der Regel nur wenig anfan­gen, dar­um ver­mei­de ich all­zu nahen Kon­takt mit ihnen, wo ich das kann. Das gilt für die Ein­woh­ner die­ser Stadt wie für die Men­schen im Gesam­ten. Sie kön­nen nichts dafür, sie sind nicht bes­ser oder schlech­ter als ich, sie haben ein­fach nur eine ande­re Vor­stel­lung von der Welt, eine Vor­stel­lung, die ich nicht tei­le. Sie legen Ver­hal­tens­wei­sen an den Tag, die so nor­mal, so mensch­lich sind, und doch mei­de ich sie dafür. Sie ver­brei­ten Lügen und brin­gen Gerüch­te in Umlauf, sie het­zen sich gegen­ein­an­der auf, sie läs­tern über ihren Nächs­ten, sobald er nur für einen Moment außer Hör­wei­te gegan­gen ist. Sie ver­schwö­ren sich. Sie fra­gen nicht nach, wenn sie böses Geschwätz über einen ande­ren hören, ob es denn über­haupt stimmt, sie glau­ben es direkt. Sie kor­rum­pie­ren. Sie sind stän­dig am Kämp­fen, am Strei­ten, kon­kur­rie­ren um Macht, Pres­ti­ge, Aner­ken­nung und Bei­fall. Sie sind selbst­ver­liebt, arro­gant und Heuch­ler. Stän­dig heu­cheln sie. Sie sind freund­lich zu jedem, ja, doch was heißt das schon, was hilft das, wenn es nur gespiel­te Freund­lich­keit ist. Sie legen das Sti­lett nie aus der Hand. Am Vor­mit­tag kön­nen sie dir sagen, wie ger­ne sie dich haben und was sie an dir schät­zen, dich am Nach­mit­tag vor dei­nen Freun­den schlecht­re­den, um dann am Abend mit dir ein fröh­li­ches Gespräch zu füh­ren, wie ver­lo­gen alle ande­ren doch sei­en. Nichts davon tun sie aus Bos­haf­tig­keit, und das ist das wirk­lich Trau­ri­ge dar­an. Lernt man die Men­schen in die­ser Stadt ein wenig ken­nen, muss man fest­stel­len, dass die meis­ten von ihnen genau­so sind, genau­so nor­mal. Das macht sie nicht zu schlech­ten Men­schen, aber es macht sie zu Men­schen, denen ich aus dem Weg gehe. Vie­len gehe ich aus dem Weg.
Doch es gab Aus­nah­men, es gibt sie über­all, man muss sie bloß fin­den. Die­je­ni­gen, die anders sind. Men­schen, die sich die Tat­sa­che vor Augen füh­ren, auch selbst nicht immun gegen­über der­ar­ti­gen Ver­hal­tens­wei­sen zu sein, die aber ver­su­chen, sie auf ein Mini­mum zu redu­zie­ren; die ihr Ver­hal­ten kri­tisch reflek­tie­ren, die ein Mit­ein­an­der statt eines Gegen­ein­an­ders her­zu­stel­len bestrebt sind. Men­schen, die sich nicht andau­ernd in den Mit­tel­punkt zu stel­len ver­su­chen, die nicht her­um­schrei­en, um Lor­bee­ren noch für die kleins­ten Taten ern­ten zu wol­len. Men­schen, die so auf­rich­tig wie freund­lich sind und das nicht bloß spie­len, weil sie sich etwas davon erhoffen.
Vie­le derer, die auf den ers­ten Blick als sol­che Aus­nah­men erschei­nen, stel­len sich bei genaue­rer Betrach­tung als Schau­spie­ler her­aus, als Men­schen, die sich akku­rat insze­nie­ren, als wären sie zuvor­kom­men­de, freund­li­che, auf­rich­ti­ge Per­so­nen. Bohrt man etwas tie­fer, offen­bart sich aller­dings, es han­delt sich um Lüg­ner. Geschick­te Lüg­ner zwar, gute Schau­spie­ler zwei­fel­los, und den­noch Lüg­ner. Sie spie­len das alles und die­ses Spiel ist ihr Leben. Es sind Ego­zen­tri­ker, Gel­tungs­süch­ti­ge und Selbst­ver­lieb­te. Sie sind genau wie der Groß­teil derer, auf die sie aus ihrer Rol­le hin­aus ver­ächt­lich hin­ab­bli­cken, aber sie haben gelernt, das zu über­spie­len, und das machen sie teil­wei­se ver­dammt gut.
Die ech­ten Aus­nah­men aber, jene, die nicht bloß Schau­spiel betrei­ben, waren alle­samt net­te Men­schen und dar­über war ich froh. Sie waren auf­rich­tig und nett, und vie­le von ihnen ver­füg­ten über eine recht unkom­pli­zier­te, unver­bind­li­che Vor­stel­lung von Freund­schaft. Genau dies war jedoch gleich­zei­tig das Pro­blem, war mir Grund, wes­halb ich mich nicht mit ihnen anfreun­den woll­te. Ihre Vor­stel­lung von Freund­schaft ent­sprach nicht der mei­nen, einer Vor­stel­lung, die man­chem, den ich sah, viel­leicht fremd sein moch­te, weil er unzäh­li­ge Freund­schaf­ten pfleg­te – und wenn man bloß mit jeman­dem in einer Bar ein Bier trank, war er sofort ein Freund. Das moch­te für ande­re funk­tio­nie­ren, für mich aller­dings nicht.
Seit jeher nann­te ich nur weni­ge Men­schen wirk­lich Freun­de, doch für jene, die ich dazu erko­ren hat­te, war ich es von gan­zem Her­zen, mit all mei­ner Ener­gie. Die­se net­ten, unver­bind­li­chen Leu­te – soll­te ich auch sie alle­samt zu mei­nen Freun­den zäh­len? Wür­de das funk­tio­nie­ren? Und dann? Auch mei­ne Tage haben nur vier­und­zwan­zig Stun­den, auch ich ver­fü­ge nur über begrenz­te Ener­gie. Ich woll­te kei­ne net­ten, unver­bind­li­chen Leu­te ken­nen­ler­nen, die ich zu mei­nen Freun­den hät­te machen kön­nen, weil das nur bedeu­tet hät­te, das kost­ba­re Enga­ge­ment für jeden mei­ner Freun­de zu redu­zie­ren, redu­zie­ren zu müs­sen, brei­ter zu ver­tei­len, sodass am Ende jeder weni­ger davon bekä­me. Das woll­te ich nicht. Mach­te mich das in ihren Augen zu einem Son­der­ling? Ver­mut­lich. Behan­del­te ich die­se net­ten, unver­bind­li­chen Men­schen unge­recht? Viel­leicht. Aber lie­ber das, als dass ich sie zu Freun­den gemacht hät­te, die kei­ne waren, zu Freund­schaf­ten, die weder sie noch mich befrie­di­gen würden.
Aber es gab Aus­nah­men unter den Aus­nah­men, ganz beson­de­re Men­schen. Men­schen, für die sich jedes noch so gro­ße Enga­ge­ment lohn­te; die so unglaub­lich kost­bar waren, dass ich sie nie wie­der aus den Augen ver­lie­ren woll­te; die mich berühr­ten, nicht nur in Gedan­ken, son­dern tief im Inne­ren. Men­schen, die ken­nen­zu­ler­nen mir war, als wür­den sich Wel­ten ver­bin­den. Es war der ent­täu­schends­te Teil. Bei den meis­ten von ihnen han­del­te es sich um Frau­en, denn unglück­li­cher­wei­se fie­len die ver­meint­li­chen Aus­nah­men unter den Män­nern vor­wie­gend in die Kate­go­rie Schau­spie­ler, denen es am Ende doch nur um ihr Ego ging, um Macht und Gel­tungs­drang, auf die eine oder auf die ande­re Art. Lei­der. Mit ihnen wäre es einfacher.
Was war nun das Pro­blem mit die­sen Aus­nah­men unter den Aus­nah­men? Da gab es also jeman­den, der beson­ders erschien, zumin­dest für mich. Jeman­den, der kein Schau­spie­ler war. Jeman­den, der ein ähn­li­ches Ver­ständ­nis vom Leben und der Welt auf­wies. Jeman­den, der unbe­ding­tes Ver­trau­en ver­dien­te und jeman­den, mit dem das gegen­sei­ti­ge Ver­ste­hen so ein­fach erschien, mit Wor­ten oder auch ohne, weil wir uns schon seit ewi­ger Zeit zu ken­nen glaub­ten. All die Schutz­vor­rich­tun­gen, die man sich im Lau­fe eines Lebens so müh­sam erbaut, um ande­re Men­schen auf ange­brach­ter Distanz zu hal­ten, um sich nicht zu ver­aus­ga­ben, um all­zu schwe­re Ver­let­zun­gen zu ver­mei­den, bau­te ich ab. Plötz­lich stand da ein Geschenk vor den Toren mei­ner Fes­tung, ein höl­zer­nes Pferd, und ich hol­te es bereit­wil­lig herein.
Irgend­wann aber über­tra­ten wir eine Gren­ze, eine unsicht­ba­re Linie, und es wuch­sen Gefüh­le in einem von uns. Anstatt in Unend­lich­keit zu enden, ken­ter­te das Mit­ein­an­der durch die­ses ungleich ver­teil­te Gewicht. Es war Him­mel und Höl­le zugleich, es mach­te alles kom­pli­ziert und vie­les kaputt, das so wun­der­bar begon­nen hat­te. Stell dir vor, du wärst Archäo­lo­ge und wür­dest an dem einen Fund arbei­ten, den du schon dein gan­zes Leben lang gesucht hast, auf den du ent­ge­gen aller Wahr­schein­lich­keit unter all den ver­ber­gen­den Schich­ten erst ein­mal sto­ßen muss­test, doch plötz­lich ist da ein nicht zu unter­drü­cken­des Krib­beln in dei­ner Nase, du musst nie­sen, ein ganz nor­ma­les mensch­li­ches Regen, du rutschst mit dem Werk­zeug ab und alles ist rui­niert. So kam ich mir vor. Nichts ver­mag je zu erset­zen, was dadurch ver­lo­ren ging, das wirk­lich Begehr­te, das über­aus Sel­te­ne, das unbe­dingt Kost­ba­re. Jene Men­schen, die für immer im Gedächt­nis blei­ben, die für immer ein Teil des eige­nen Lebens sein wer­den, ob sie nun anwe­send sind oder nicht.
Momen­tan fühlt es sich so an, als steck­te ich im Treib­sand. Je mehr ich mich bewe­ge, des­to trost­lo­ser wird die Situa­ti­on. Viel­leicht ist es also am bes­ten, sich erst ein­mal gar nicht zu bewe­gen. Das gesam­te letz­te Jahr ver­brach­te ich in die­ser Stadt mit dem unheil­vol­len Ver­such, Träu­men, Hoff­nun­gen und letzt­lich Illu­sio­nen hin­ter­her­zu­ja­gen, die sich am Ende alle­samt in Luft auf­lös­ten. Mei­ne gesam­te Ener­gie, emo­tio­nal wie auch psy­chisch, steck­te ich in die­se Men­schen, nur um alles, was ich auf­ge­baut hat­te, schließ­lich zer­stört vor­zu­fin­den, ent­we­der durch sie, weil sie nicht waren, was sie zu sein schie­nen, oder durch den Makel der Emo­ti­on. Es ende­te immer wie­der gleich, auch wenn es nie ende­te. Heu­te bin ich leer, ent­täuscht, von ande­ren und von mir selbst, erschöpft und emo­tio­nal am Boden. Die­se Stadt hat mich aus­ge­laugt, ich kann nicht mehr. Jeden­falls nicht hier. Wie ein hava­rier­tes Raum­schiff schwe­be ich manö­vrier­un­fä­hig irgend­wo in der Lee­re des Uni­ver­sums. Nur die Lebens­er­hal­tungs­sys­te­me sind noch in Betrieb, doch viel­leicht bekom­me ich dem­nächst auch wie­der Ener­gie für den Antrieb. Man sagt, es wür­de alles bes­ser, wenn Gras über eine Sache gewach­sen sei. Hier jedoch wächst kein Gras, der Boden ist aus­ge­laugt. Noch weni­ger als zuvor weiß ich, wann es sich lohnt, auf Men­schen ein­zu­ge­hen, denn ich mag sie ent­we­der gar nicht oder zu sehr, doch ich weiß, dass es nicht mein Ver­trau­en war, das mich enttäuschte.
Men­schen sind über­all gleich. Ent­zau­bert, ohne Hoff­nung und mit ver­blass­ten Träu­men ver­las­se ich die­se Stadt so lei­se, wie ich sie betrat. Sie war für mich ein Ort der Hoff­nung, ein Ort der Träu­me, ein Ort der Illu­sio­nen. Nach all die­sen Erfah­run­gen kom­me ich mir vor wie ein Außer­ir­di­scher, der mit der hoff­nungs­vol­len Mis­si­on an die­sen Ort geschickt wur­de, so viel wie mög­lich über die domi­nan­te Spe­zi­es auf die­sem Pla­ne­ten her­aus­zu­fin­den, um alles mit ihnen zu tei­len, und der nun mit der Bot­schaft zurück­keh­ren muss, dass es sich nicht lohnt, mit die­sen Wesen Kon­takt auf­zu­neh­men. Nicht mit deak­ti­vier­tem Schutzschild.

„Ich mag dich sehr“, sag­te sie zu ihm, als sich die U‑Bahn-Türen zwi­schen ihnen lang­sam schlos­sen und er allei­ne auf dem Bahn­steig zurück­blieb, ohne jede Mög­lich­keit, dar­auf irgend­wie zu antworten.

Nun war sie zuhau­se, lag auf ihrem Bett und zer­brach sich den Kopf. Sie kam sich so dumm vor. Da wur­de sie ein­mal für einen absurd kur­zen Augen­blick von ihren Gefüh­len über­mannt und brach­te in die­sem Zustand dann gleich einen der­ar­ti­gen Satz her­vor, eine ent­lar­ven­de Aus­sa­ge, ein Geständ­nis. Sie wuss­te, er wür­de nie das glei­che für sie emp­fin­den, das sie für ihn emp­fand. Dar­an gab es für sie kei­nen Zwei­fel. Wie­so also muss­te sie sich unbe­dingt mit einem sol­chen Satz bla­mie­ren, der das Ver­hält­nis zwi­schen ihnen unbarm­her­zig ver­än­dern wür­de. Alles wür­de kom­pli­zier­ter wer­den. Er wür­de auf Distanz gehen, er wür­de Abstand zwi­schen sie bei­de brin­gen, ob sie das woll­te oder nicht, dabei war das doch genau das, was sie am wenigs­ten ver­kraf­ten wür­de. Sie schlug mit der Faust auf ihr Bett. So ein klei­ner, unwich­ti­ger, abso­lut lächer­li­cher Satz soll­te alles ruinieren.

Aber nein. Was genau habe ich denn wirk­lich gesagt, dach­te sie. Es war doch bloß: „Ich mag dich sehr“. Das war kein Geständ­nis. Das war nicht ein­mal eine Andeu­tung, wenn man es genau nimmt. „Ich mag dich sehr“ lässt Raum für Inter­pre­ta­tio­nen. Inter­pre­ta­tio­nen erlau­ben Frei­heit, Inter­pre­ta­tio­nen erlau­ben Hin­ter­tü­ren. Zwar war sie gewöhn­lich sehr dar­auf bedacht, eine prä­zi­se Aus­drucks­wei­se an den Tag zu legen, doch in Situa­tio­nen wie die­sen hat­te sie sich ange­wöhnt, sich mög­lichst vage aus­zu­drü­cken. Vage Aus­sa­gen eröff­nen Hand­lungs­spiel­raum; man tän­zelt und laviert um das Feu­er her­um. Bloß nicht fest­le­gen. Bloß nicht fest­le­gen las­sen. Prä­zi­si­on der Spra­che war ihr uner­wünscht, zumin­dest in Sach­la­gen die­ser Art, sobald Emo­tio­nen ins Spiel kamen. Man kann etwas sagen und völ­lig offen las­sen, was damit gemeint ist. Es bleibt die Inter­pre­ta­ti­on; ein Schild, ein Schutz­wall, ein Not­aus­gang. Der ande­re soll sagen, was er dar­un­ter ver­steht, was er in das Gesag­te hin­ein­in­ter­pre­tiert. Ist es das Fal­sche, kann man sich bequem hin­ter das Schutz­schild sprach­li­cher Unschär­fe zurück­zie­hen und behaup­ten, man habe nie gemeint, was man gemeint hat.

Was also hat­te sie wirk­lich zu ihm gesagt? „Ich mag dich sehr“ – das konn­te alles hei­ßen! Von „Du bist ein guter Freund“ über „Dei­ne Art gefällt mir“ oder „Ich lie­be dich“ bis hin zu „Ich möch­te mit dir schla­fen“ war doch alles und nichts, waren gan­ze Bedeu­tungs­uni­ver­sen in die­sem Satz ent­hal­ten, der so vage war, dass es sie freu­te. Er konn­te sie nicht damit fest­na­geln. Was er in die­sem Satz las, ent­schied ein­zig und allein sei­ne Inter­pre­ta­ti­on. Ver­mut­lich dach­te er, sie sei in ihn ver­liebt. Das war die Wahr­heit, aber es war eben eine Wahr­heit, die sie ihn nicht wis­sen las­sen woll­te, denn er, er war doch nicht in sie ver­liebt, das war ihr klar.

Seit Mona­ten bereits heg­te sie Gefüh­le für ihn. Sie freu­te sich, wenn er ihre Bücher las, wenn er die Musik hör­te, die sie ihm emp­fahl, wenn er Zeit mit ihr ver­brach­te, wenn er ihr Brie­fe schrieb oder sie ein­fach bloß anschau­te, mit sei­nen bezau­bern­den blau­en Augen. Sie hat­te ver­sucht, sein Ver­hal­ten zu deu­ten, hat­te her­aus­be­kom­men wol­len, ob er sei­ner­seits Gefüh­le für sie heg­te, doch ein­deu­tig sagen ließ sich das nicht. Es blieb die Inter­pre­ta­ti­on. Nach eini­gen Wochen war sie zu dem Schluss gelangt, dass er offen­bar nichts für sie emp­fand. Das war scha­de, doch sie fand sich damit ab und sei­ne Gesell­schaft war ihr wei­ter­hin das Paradies.

Den Kon­takt zu ihm jetzt zu ver­lie­ren, nur weil ihr in einem unkon­trol­lier­ten Moment eine Rei­he lächer­li­cher Wör­ter über die Lip­pen gekom­men war, wäre für sie uner­träg­lich gewe­sen. Wie also wür­de er nun reagie­ren auf die­sen törich­ten Satz, frag­te sie sich, den sie so unbe­hol­fen in die Welt hin­aus geflüs­tert hat­te. Sie wuss­te es. Er wür­de sagen: „Ich mag dich auch, aber…“ und dabei ver­su­chen, sie nicht zu ver­let­zen, wäh­rend er in Gedan­ken bereits das Ende ihrer Freund­schaft kon­stru­ier­te. Sie jedoch wür­de sich erho­be­nen Haup­tes hin­ter ihr sprach­li­ches Schutz­schild zurück­zie­hen, hin­ter den Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum ihrer vagen Wor­te. Sie wür­de lachen und sagen: „So habe ich das doch gar nicht gemeint“. Sie wür­de klar­stel­len, dass sie die­sen Satz rein freund­schaft­lich begrif­fen hat­te. Dann wür­den sie gemein­sam lachen, bei­de wären erleich­tert, und alles blie­be so wie immer. Das war ihr Plan. Sie war stolz auf sich, auf die­ses sprach­li­che Hin­ter­tür­chen, das alles letzt­lich ret­ten und damit ihr Gesicht wah­ren würde.

Plötz­lich brumm­te es lei­se. Sie stand vom Bett auf, sah nach und erschrak. Er hat­te ihr geschrie­ben; eine SMS war­te­te dar­auf, von ihr gele­sen zu wer­den. Doch was wür­de er schon schrei­ben, dach­te sie. „Ich mag dich auch, aber…“ wür­de dort ste­hen, wie sie es erwar­te­te, und sie wür­de sich ent­täuscht durch ihr Hin­ter­tür­chen davon­ma­chen, wür­de sich nichts anmer­ken las­sen, wür­de ihm ant­wor­ten, es sei nur ein Miss­ver­ständ­nis und dass er den Satz bloß ungüns­tig inter­pre­tie­re. Es bleibt die Interpretation.

Sie muss­te sich regel­recht dazu über­win­den, das Han­dy nicht ein­fach bei­sei­te­zu­le­gen, und so sah sie schließ­lich nach, was er ihr geschrie­ben hat­te. „Ich mag dich auch sehr“, stand dort, „das woll­te ich dir schon lan­ge sagen, aber ich hab mich nicht getraut. Ich hof­fe, wir sehen uns bald wieder.“

Das über­rasch­te sie. Es war eine Reak­ti­on, die sie in ihrem Plan nicht bedacht hat­te, denn sie war so unwahr­schein­lich, so unmög­lich. Damit hat­te sie nicht gerech­net, dar­auf war sie nicht vor­be­rei­tet. Sie hat­te sich so sehr mit der bevor­ste­hen­den Ent­täu­schung abge­fun­den, ja sogar ange­freun­det, dass sei­ne Ant­wort sie nun bei­na­he wütend mach­te, denn jetzt ent­täusch­te er sie mit dem Aus­blei­ben die­ser nur all­zu vor­her­seh­ba­ren, all­zu erwar­te­ten Enttäuschung.

Panik stieg in ihr auf. Und wenn sie nun ein­fach zugab, dass sie es genau­so gemeint, wie er es auch ver­stan­den hat­te? Mit einer der­ar­ti­gen Situa­ti­on hat­te sie kei­ner­lei Erfah­rung. Ent­täu­schun­gen war sie gewohnt, mit Ent­täu­schun­gen konn­te sie umge­hen, muss­te sie umge­hen, denn sie war zu oft ent­täuscht wor­den, doch das hier über­for­der­te sie. Was war das?

„Du … inter­pre­tier da nicht zu viel hin­ein. Du bist ein sehr guter Freund“, ant­wor­te­te sie ihm und warf sich wei­nend auf ihr Bett, über­wäl­tigt von dem trau­ri­gen Gefühl, ein­mal mehr ent­täuscht wor­den zu sein.

„Was willst du über­haupt?“ raun­te er genervt durch die Gegen­sprech­an­la­ge. Erst nach dem drit­ten Klin­geln hat­te er reagiert, und es ver­gin­gen wei­te­re fünf Minu­ten, bis er ihr end­lich die Tür öff­ne­te. Sie war zu ihm gefah­ren, am Vor­mit­tag vor dem Abflug in den gemein­sa­men Urlaub mit ihrem Ver­lob­ten, um etwas mit ihm zu bere­den, das sie bedrück­te, das sie in den Urlaub ver­folgt hät­te, wenn sie es nun nicht ansprach.
Seit Mona­ten ver­hielt er sich anders, irgend­wie fremd, unge­wohnt und merk­wür­dig. Ihr war es von all sei­nen Freun­den als ers­te auf­ge­fal­len. Anfangs dach­te sie, sie bil­de sich das alles bloß ein, doch mit der Zeit wur­den die Zei­chen sei­ner Ver­än­de­rung deut­li­cher und für alle offen­sicht­lich. Er ging nicht mehr ans Tele­fon. Als er damit ange­fan­gen hat­te, sprach sie ihm kur­ze Nach­rich­ten auf den Anruf­be­ant­wor­ter und bat ihn um Rück­ruf. Die Rück­ru­fe wur­den immer sel­te­ner. Mit der Zeit kamen sie nur noch, wenn sie ver­si­cher­te, es han­de­le sich um einen Not­fall. Die Not­fäl­le wur­den immer zahl­rei­cher und er durch­schau­te, was sie tat. Er rief sie gar nicht mehr zurück. Es war nicht nur sie, zu der er den Kon­takt auf die­se Art schlei­fen ließ. Sogar ihr Ver­lob­ter bemerk­te sei­ne Ver­än­de­rung, obwohl die bei­den, seit sie sich kann­ten, nur wenig Kon­takt mit­ein­an­der gehabt hat­ten. Schließ­lich fiel es auch ihren gemein­sa­men Freun­den auf. Er rief nie­man­den zurück, er woll­te nie­man­den sehen.
Man schrieb ihm SMS, die er per Email beant­wor­te­te, halb­her­zig und mit eini­gen Tagen Ver­spä­tung. Ihr regel­mä­ßi­ger Kon­takt, den er und sie einst glei­cher­ma­ßen schätz­ten, wur­de zäh. Zwar erwi­der­te er noch immer jede Email, die sie ihm schrieb, aber auch dies erst Tage spä­ter und mit For­mu­lie­run­gen, so knapp wie Noti­zen, die jeg­li­che Aus­schwei­fun­gen oder Details ver­mis­sen lie­ßen. Wie gern hat­te er immer Geschich­ten erzählt, stun­den­lang, die sei­ne Freun­de an ihm lieb­ten. Er konn­te Erleb­nis­se beschrei­ben wie kein Zwei­ter, sie aus­ma­len, sie dich­ten. Er hat­te Pro­ble­men gelauscht und Rat­schlä­ge erteilt oder bei einem Bier über die Welt phi­lo­so­phiert. Das alles war vor­bei und nie­mand wuss­te den Grund. Sei­ne Reak­tio­nen hat­ten den Cha­rak­ter eines Inter­views ange­nom­men, nur auf direk­te Fra­gen ant­wor­te­te er über­haupt noch, und auch das tat er nicht immer. Die­je­ni­gen sei­ner Freun­de, die ihn nicht auf­ga­ben, ver­such­ten sei­ner trü­ben Lau­ne auf den Grund zu gehen. Wäh­rend die einen ihm ihr Mit­ge­fühl zeig­ten, um es ihm leich­ter zu machen, sich zu öff­nen, stell­ten ihn ande­re direkt zur Rede. Er ant­wor­te­te ihnen allen, es gin­ge ihm gut und sie bräuch­ten sich sei­net­we­gen wirk­lich kei­ne Sor­gen zu machen. Die­se Ant­wort aller­dings beun­ru­hig­te sei­ne Freun­de noch mehr, denn es war so offen­sicht­lich gelo­gen. Er hat­te nicht nur den Kon­takt zu ande­ren Men­schen redu­ziert, auch kör­per­lich ging es ihm schlecht. Sein Gesicht war ein­ge­fal­len, das Resul­tat sei­ner andau­ern­den Abma­ge­rung. Wenn er sich über­haupt noch mit sei­nen Freun­den traf, war er wort­karg und hat­te eine Lau­ne, als käme er von einer Beer­di­gung. Dun­kels­te Augen­rin­ge präg­ten sein Gesicht, Hus­ten unter­brach fast jeden sei­ner Sät­ze. Schlaf fand er kaum. Die weni­gen rich­tig guten Freun­de, die er noch hat­te, waren rat­los. Nie­mand kam an ihn her­an. So stand nun also sie, sei­ne bes­te Freun­din, vor sei­ner Tür. Sie wür­de blei­ben, bis er ihr end­lich gesagt hät­te, was mit ihm los sei.
Wider­wil­lig bat er sie her­ein und bot ihr pflicht­schul­dig etwas Bier an, das sie freund­lich ablehn­te. Sie sag­te, sie wol­le gleich auf den Punkt kom­men. Er habe sich ver­än­dert. Nie­mand wis­se, was mit ihm los sei, aber man mache sich gro­ße Sor­gen. Sei­ne Freun­de mach­ten sich gro­ße Sor­gen. Sie ver­si­cher­te ihm, er habe noch immer Freun­de, die ihm bereit­wil­lig hel­fen wür­den, soll­te er Pro­ble­me irgend­ei­ner Art zu bewäl­ti­gen haben. Soll­te es um finan­zi­el­le Din­ge gehen, wäre das schnell aus der Welt zu schaf­fen, ermu­tig­te sie ihn. Er wink­te ab und schüt­tel­te den Kopf. Kei­ne finan­zi­el­len Pro­ble­me. Er dank­te für das Ange­bot. Auch sonst gäbe es kei­ne Pro­ble­me, bei denen sei­ne Freun­de ihm behilf­lich sein könn­ten. Aber sein Ver­hal­ten sei doch nicht nor­mal, beharr­te sie. Irgend­et­was müs­se doch sein. Er wie­gel­te ab. Es gin­ge ihm gut, sie sol­le sich sei­net­we­gen kei­ne Sor­gen machen. Das war ihr zu viel. Sie blaff­te ihn an, er kön­ne viel­leicht ande­re belü­gen, dass sie als sei­ne bes­te Freun­din aber etwas mehr Ehr­lich­keit von ihm erwar­te. Immer­hin sei sie mit den bes­ten Absich­ten zu ihm gefah­ren, noch dazu so kurz vor ihrem Urlaub mit ihrem Verlobten.
Sie ent­schul­dig­te sich bei ihm, nicht schon frü­her das Gespräch gesucht zu haben. Als er ange­fan­gen hat­te, sich zu ver­än­dern, war sie bis zur Erschöp­fung mit der eige­nen Ver­än­de­rung ihres Lebens beschäf­tigt gewe­sen und hat­te kei­ne pas­sen­de Gele­gen­heit gefun­den, um ein­mal in Ruhe mit ihm zu reden. Gewollt hät­te sie, aber ihr fehl­te die Zeit. Sie wuss­te, die meis­ten sag­ten das als Aus­re­de, weil man für sol­che Ange­le­gen­hei­ten eigent­lich immer Zeit hat­te, man konn­te sie sich neh­men, gera­de für gute Freun­de. Aber sie war wirk­lich nicht dazu gekom­men. Gemein­sam mit ihrem Freund hat­te sie ein bau­fäl­li­ges Haus gekauft, kün­dig­te ihre alte Woh­nung, muss­te umzie­hen, reno­vie­ren. Als das Haus in einem eini­ger­ma­ßen guten Zustand war und der gröbs­te Stress all­mäh­lich nach­ließ, hielt ihr Freund, dann ihr Ver­lob­ter, um ihre Hand an. Nun hat­te sie eine Hoch­zeit zu planen.
Er aber sag­te bloß ver­ständ­nis­voll, er wis­se ja, dass sie mit Umzug und Hoch­zeits­vor­be­rei­tun­gen in letz­ter Zeit sicher schwer beschäf­tigt gewe­sen sein muss­te, er kön­ne das ver­ste­hen. Über­haupt sei es nicht so wich­tig, sei er nicht so wich­tig, er neh­me es ihr nicht übel. Sie frag­te ihn, was er mit ‚nicht so wich­tig‘ eigent­lich mei­ne. Ihm sei gar nichts mehr wich­tig, so ihr Ein­druck, gestand sie ihm, nicht ein­mal der Kon­takt zu ihr, den er doch stets mit Freu­de gepfleg­te hat­te. Als er dar­auf­hin ver­schämt den Blick senk­te, tat er ihr leid und sie hät­te sich am liebs­ten geohr­feigt, ihm nun auch noch einen Vor­wurf dar­aus zu machen. Aber viel­leicht war das ja ein Weg, ihn aus der Reser­ve zu locken. Sie ließ es dar­auf ankom­men. Wenn alles in Ord­nung sei, bohr­te sie, wes­halb kom­me er dann kaum noch aus sei­ner Woh­nung. Wes­halb ver­wei­ge­re er bei­na­he jeg­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on. Wes­halb ver­nach­läs­si­ge er sich selbst, sei­ne Freun­de, sogar sie, die ihm immer wich­tig gewe­sen sei. So etwas kön­ne er nicht machen. Er kön­ne nicht ein­fach alle Brü­cken abbren­nen und erwar­ten, nie­mand wür­de sich um ihn sor­gen. Und dann auch noch sein Job! In der Fir­ma, für die er arbei­te­te, war auch ihr Ver­lob­ter beschäf­tigt und hat­te ihr erzählt, er käme nur noch sehr spo­ra­disch sei­ner Arbeit nach. In letz­ter Zeit kom­me er so sel­ten und mit faden­schei­ni­gen Aus­re­den, dass er kurz davor stün­de, gefeu­ert zu wer­den und sein Ein­kom­men zu ver­lie­ren. Er sag­te bloß, das sei ihm egal. Sie wur­de laut. Wie kön­ne ihm das egal sein. Der Job sei sei­ne exis­ten­ti­el­le Grund­la­ge, ohne ihn kön­ne er ein­pa­cken. Er zuck­te die Schul­tern. Es wur­de ihr zu viel. Wie kön­ne er ein­fach so dasit­zen, alles scheiß­egal fin­den, sei­nen Job, sei­ne Freun­de, die sich Sor­gen um ihn mach­ten, sogar sie. Er kam nicht aus der Reser­ve. Sie seufz­te, war wütend, ent­täuscht, sag­te zu ihm, sie ver­mis­se ihre gemein­sa­men Gesprä­che, die regel­mä­ßi­gen Tele­fo­na­te, die Emails, aber das sei ihm wahr­schein­lich auch egal. Er sähe aus, als wäre er kurz vorm Ster­ben, erklär­te sie, er gehe kaum noch raus, und dann erzäh­le er allen, es gin­ge ihm gut. Für wie dumm hal­te er sie denn, alle woll­ten ihm doch bloß hel­fen, beson­ders sie. Die Käl­te in sei­ner Stim­me traf sie am meis­ten, als er ihr ins Gesicht sag­te, ihre Hil­fe kön­ne sie sich spa­ren. Wenn das so ist, kön­ne er sie ein­mal kreuz­wei­se, ent­geg­ne­te sie ver­letzt, denn eigent­lich müs­se sie ja Kof­fer packen, doch statt­des­sen sei sie hier­her gefah­ren, zu ihm, um mit ihm zu spre­chen, und er beneh­me sich wie ein Arsch­loch und lüge sie an. Dar­auf­hin schmiss er sie raus. Er habe sie nicht dar­um gebe­ten, hier­her zu kom­men, sie sol­le mit ihrem tol­len Ver­lob­ten in ihren blö­den Urlaub fah­ren und ein­fach ver­schwin­den. Sie fing an zu wei­nen, sie brüll­te ihn beim Raus­ge­hen an, was sein ver­damm­tes Pro­blem sei und was er über­haupt wol­le. Er mur­mel­te einen letz­ten Satz und schloss hin­ter ihr die Tür: „Alles, was ich woll­te, warst du.“

Es gibt aller­lei Arten, einen Men­schen zu mor­den oder wenigs­tens sei­ne See­le, und das merkt kei­ne Poli­zei der Welt. Dazu genügt ein Wort, eine Offen­heit im rech­ten Augen­blick. Dazu genügt ein Lächeln. Ich möch­te den Men­schen sehen, der nicht durch Lächeln umzu­brin­gen ist oder durch Schwei­gen. Alle die­se Mor­de, ver­steht sich, voll­zie­hen sich lang­sam. Haben Sie sich nie über­legt (…), war­um die aller­meis­ten Leu­te so viel Inter­es­se haben an einem rich­ti­gen Mord, an einem sicht­ba­ren und nach­weis­ba­ren Mord? Das ist doch ganz klar: weil wir für gewöhn­lich unse­re täg­li­chen Mor­de nicht sehen. Da ist es doch eine Erleich­te­rung, wenn es ein­mal knallt, wenn Blut rinnt oder wenn einer an rich­ti­gem Gift ver­en­det, nicht bloß am Schwei­gen sei­ner Frau. Das ist ja das Groß­ar­ti­ge an frü­he­ren Zeit­al­tern, bei­spiels­wei­se an der Renais­sance, daß die mensch­li­chen Cha­rak­te­re sich noch in Hand­lung offen­bar­ten; heut­zu­ta­ge ist alles verinnerlicht…
(Max Frisch – Stiller)

Sie hat­te jetzt Arbeit, sie hat­te eine Woh­nung, sie hat­te, in gewis­ser Wei­se, ein Leben. Sie hat­te sich ein Leben für sich ent­wor­fen. Zwar war es nicht so, wie sie es sich ein­mal vor­ge­stellt hat­te. Als sie auf ihren Abschluss hin­ar­bei­te­te an der tol­len Uni­ver­si­tät, die jede als zukünf­ti­ge Welt­herr­sche­rin ver­las­sen woll­te, hät­te sie sich nie träu­men las­sen, dass sie ein­mal so enden wür­de (…). Aber ver­mut­lich ent­wi­ckelt sich das Leben nie so, wie man es geplant hat; ver­mut­lich sieht man des­halb auf den Stra­ßen von Groß­städ­ten so vie­le Leu­te mit die­sem ver­wirr­ten und ver­är­ger­ten Gesichts­aus­druck, als woll­ten sie sagen: Wer hät­te gedacht, dass mir das pas­sie­ren wür­de? All die Bal­lett-Tän­ze­rin­nen, die in der Ver­wal­tung lan­de­ten, die Feu­er­wehr­män­ner, die Per­so­nal­chefs wur­den, die Ent­de­cker, die in Call-Cen­tern saßen, die Mode­schöp­fe­rin­nen und Opern­sän­ge­rin­nen, Gitar­ris­ten, Büh­nen-Lieb­lin­ge und Sze­ne-Diven, die am Ende von der gro­ßen Tret­müh­le zer­malmt wur­den. All das spricht aus die­sen Bli­cken: Wie bin ich bloß hier gelandet?
(Tania Kin­ders­ley – Und mor­gen geht das Leben weiter)