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Sie war eine Weitsichtige: Was noch fern war oder schon wieder verabschiedet, das sah sie scharf. Was aber nah war, was sie unmittelbar umgab, das konnte sie nicht genau erkennen und hüllte es deshalb in Stereotype. Ihre Rhetorik war leidenschaftlich in der Erwartung und im Abschied, also bei den Dingen, die noch nicht sind, und bei jenen, die nicht mehr waren. Was tun mit uns? Zunächst reisten wir aufeinander zu, um die Nähe, die wir in der Ferne empfunden hatten, mit körperlicher Gegenwart zu beleben, aber allmählich wuchs der Verdacht, dass wir am Ende einen Platz leer finden würden. Ja, wir reisten voller Verlangen, doch verlegen, weil jetzt ein Körper saß, wo ein Phantom gewesen war. (…) Von außen waren wir ein Paar, von innen ein Arrangement.
(Roger Willemsen – Die Enden der Welt)

Jedes Mal, wenn sich ein Jahr seinem Ende entgegenneigt, machen sich unzählige Menschen gut gemeinte Gedanken zum Ablauf des bald darauf anbrechenden Jahres und nennen ihre Pläne, die daraus hervorgehen, gute Vorsätze. Raucher wollen Nichtraucher werden, Sportmuffel zu Freizeitathleten, Faulenzer zu Arbeitstieren. Diese guten Vorsätze sind in der Regel noch vor Februar wieder vergessen.

Wenn es etwas gab, das sie in dieser Zeit des Jahres am meisten hasste, dann waren es die guten Vorsätze anderer Menschen und deren aufdringliche Art, diese Vorsätze jedem Interessierten und Desinteressierten gleichermaßen unter die Nase zu reiben. Auch sie hatte sich Gedanken zum Ablauf des kommenden Jahres gemacht, war dabei allerdings auf eine andere Idee gekommen, die ihr wesentlich sympathischer erschien. Sie hatte sich vorgenommen, ab Neujahr täglich in einem kleinen schwarzen Büchlein zu notieren, was ihr an jedem einzelnen Tag Schönes widerfahren würde. Es musste nichts Großes sein, nichts Überwältigendes, einfach etwas Schönes, etwas Gutes, etwas Positives, das ihr den Tag und damit auch das Leben ein wenig aufgeheitert oder erhellt, das ihr vielleicht sogar einen Blick auf dieses so genannte Glück ermöglicht hatte.

Das alles begann vor einem Jahr. Nun, dreihundertzweiundsechzig Tage später, saß sie bei Nacht in ihrem Zimmer und blätterte durch das Notizbuch, das sie mit ihren Erlebnissen gefüttert hatte, um sich so kurz vor Silvester die vergangenen zwölf Monate noch einmal Tag für Tag durch den Kopf gehen zu lassen, die angenehmen wie die bedrückenden Zeiten. Sie hatte ein gutes Gefühl dabei, denn das letzte Jahr war schnell vergangen, fast schon zu schnell, und wenn etwas schnell vergeht, ja zu schnell gar, dann ist das in der Regel doch ein Zeichen dafür, dass man eine gute Zeit verbracht hatte. Die guten Zeiten vergehen immer wie im Flug, das ist das Traurige an ihnen und der Grund, weshalb sie so selten das Gewicht der schweren Zeiten aufwiegen können, die sich ihrerseits wie Fußketten an das Leben binden, sodass man sich fühlt, als würde man durch ein Moor waten und nicht vorankommen. Zwar waren in diesem Jahr nicht alle ihre Wünsche in Erfüllung gegangen, aber wer konnte das schon von sich behaupten.

Als sie anfing, die ersten Seiten durchzublättern und dabei die täglichen Einträge zu studieren, musste sie schmunzeln. Sie ging in die Küche, öffnete sich eine Flasche Wein und widmete sich der weiteren Lektüre. Was sie las, stimmte sie zufrieden. Es waren Kleinigkeiten, aber es waren teils süße, teils herzerwärmende, teils völlig in Vergessenheit geratene Geschehnisse, die sie dort sah, und es waren Dinge, die sie auch heute noch fröhlich gemacht hätten, würden sie ihr erneut passieren. Sie las die Einträge des gesamten Januars und dann die Notizen des folgenden Februars. Ihr fiel auf, dass sich einige Erlebnisse bereits wiederholten, doch das störte sie nicht weiter. Ganz im Gegenteil, entwickelte sich beim Lesen eine gewisse Spannung, denn da Januar und Februar recht ruhig verlaufen waren, fieberte sie innerlich dem ersten außergewöhnlichen, dem ersten auffälligen, dem ersten bedeutenden Eintrag entgegen, was nun wiederum nicht hieß, dass die bisherigen Einträge für sie unbedeutend gewesen wären, nur waren es Banalitäten, alltägliche Geschehnisse, die sicherlich jedem zuteilwurden und sich jederzeit wieder ereignen könnten, wenn sie einfach nur einen völlig normalen Tag verbringen oder durch die Fußgängerzone schlendern würde.

Sie setzte ihre Hoffnungen in den März, denn endlich, ja endlich musste doch etwas Aufregendes geschehen sein. Beim Lesen offenbarte sich ihr dann allerdings das gewohnte Bild, das Januar und Februar ihr bereits zur Genüge präsentiert hatten. Langsam wurde sie ungeduldig. Vielleicht ist es doch eine blöde Idee gewesen, dieses Büchlein zu führen, dachte sie sich und blätterte nun ganz zufällig durch die Seiten, bis sie einen Tag im Juni aufschlug, immer noch auf der Suche nach spannenden, irgendwie berührenden Ereignissen. „Fünf Euro auf dem Weg zur Arbeit gefunden“ las sie da und lachte. Nein, das war nun wirklich weder spannend noch berührend. Der folgende Tag war demgegenüber schon etwas besser, denn dort hatte sie notiert: „Im Regen spazieren gegangen“. Sie liebte es, im Regen durch die Straßen der Stadt spazieren zu gehen, insofern war dies nun für sie zwar ein irgendwie berührender, aber kein sonderlich hervorstechender, kein außergewöhnlicher, kein befriedigender Eintrag. Sie blätterte weiterhin wahllos im Juni herum, las „Von einem Kollegen ein Stück Kuchen bekommen“ oder „Jemandem den Weg erklärt“, fand „Eine Frau hat mir lächelnd die Tür der Straßenbahn aufgehalten“ und „Himmlisch geschlafen“, aber rein gar nichts, von dem sie sagen konnte, es sei etwas Besonderes gewesen, das ihr ein Stück vom Glück dargeboten hätte. Das müssen ziemlich schlechte Tage gewesen sein, dachte sie und blätterte weiter, doch was sie auf den Seiten der darauffolgenden Wochen lesen konnte, kam ihr noch banaler, noch unwichtiger, jedenfalls keineswegs erfüllend oder einfach bloß gut vor, sondern irgendwie leer. Sie fühlte sich wie jemand, der in der Lotterie gewinnt und dann aber feststellen muss, dass alle anderen ebenfalls gewonnen haben. Nun, dann sind es eben keine schlechten Tage gewesen, schlechte Wochen müssen es gewesen sein. Sie suchte weiter. Es waren keine schlechten Tage gewesen, musste sie feststellen, auch keine schlechten Wochen, es waren die besten Tage im ganzen Monat gewesen, sogar in zwei Monaten, und der Rest des Jahres war, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht viel besser.

Konnte das wirklich die Wahrheit sein? Sie hatte für jeden Tag des Jahres jeweils nur das eine, das allerbeste Erlebnis notiert, das ihr widerfahren war, die beste Handlung, die sie vollbracht, oder das schönste Gefühl, das sie an diesem Tag empfunden hatte – und diese Dinge, die sie da lesen musste, diese Banalitäten, diese Nichtigkeiten, diese lieblosen leeren Worte, die sie kaum zu lesen wagte, die waren genau das, alles erschöpfte sich in diesen Belanglosigkeiten? Diese Einträge voller unbedeutender Alltäglichkeiten waren alles, was ihr Leben in diesem einen Jahr ausgemacht hatte? Das war das Beste, was die Welt ihr in diesen Wochen und Monaten geboten hatte? Mehr war da nicht?

Was sie außerdem beunruhigte, waren Einträge wie der folgende: „Netter Kassierer hat mir zugezwinkert“. Das ganze letzte Jahr hatte sie allein verbracht, genau wie auch das Jahr zuvor. Sie fand viele weitere Einträge, die Ähnliches festgehalten hatten, ob es sich dabei nun um Kassierer, Jogger, U-Bahn-Fahrgäste oder irgendwelche Callcenter-Mitarbeiter gehandelt hatte. Sie las diese Einträge und sah darin den Unterton, mit dem sie sie wahrscheinlich auch geschrieben hatte: Jemand findet mich gut, jemand mag mich, ich bin etwas wert. War sie so verzweifelt nach menschlicher Nähe, nach dem Gefühl, jemandem – irgendjemandem – zu gefallen? Ihre Zufriedenheit begann zu bröckeln.

Sie nannte es ein Leben, was sie da geführt hatte, nun aber fragte sie sich, ob es denn wirklich mehr war als eine unbedeutende Existenz. Verzweifelt suchte sie nach einem Eintrag, der herausstach, der besonders war, der es wert war, das Beste eines Tages, eines Monats, eines Jahres zu sein. Sie fand absolut nichts, was sie überzeugt, was sie beeindruckt oder was ihr das Gefühl gegeben hätte, ein gutes Jahr hinter sich zu haben. Sie vermisste das große Glück.

Eines Tages blickt man in den Spiegel und begreift, dass man niemals mehr sein wird als das, was man dort sieht. Mit dieser Erkenntnis kann man weiterleben und sie akzeptieren, man kann sich umbringen, um allem zu entgehen, oder man blickt nie wieder in einen Spiegel.

Es war wenige Tage vor Silvester, als sie zum letzten Mal eine leere Seite in ihrem schwarzen Büchlein aufschlug und mit zittrigen Fingern lediglich das Wort „Ende“ hineinschrieb.

Though ordinary terrorists may occasionally force concessions from governments by blowing up buildings or schoolchildren, romantic terrorists are doomed to disappointment because of a fundamental inconsistency in their approach. You must love me, says the romantic terrorist; I will force you to love me by sulking at you or making you feel jealous. But then comes the paradox, for if love is returned, it is at once considered tainted, and the romantic terrorist must complain, If I have only forced you to love me, then I cannot accept this love, for it was not spontaneously given. Romantic terrorism is a demand that negates itself in the process of its resolution.
(Alain de Botton – On Love)

Mir geht’s so gut,
ich kann ja gar nichts sagen.
Mir geht’s so gut,
ich darf mich nicht beschwern.
Mir geht’s so gut,
manch andrer wäre froh.
Mir geht’s so schlecht,
weil’s mir so gut gehn muss.

(2010)

„Wieso bist du hier?“

„Ich bin gekommen, um endlich das zu tun, worauf ich schon so lange warte.“

„Du kannst mich nicht töten, das weißt du. Er wird es nicht zulassen. Du wurdest verbannt, das ist nicht mehr dein Reich.“

„Er war glücklicher, bevor du kamst, und er fängt an, das zu begreifen.“

„Er war nicht glücklich.“

„Deine gewohnte Überheblichkeit, mein Freund. Nein, er war nicht glücklich, aber war nie so unglücklich wie jetzt, nach alledem, was du ihm angetan hast.“

„Was ich ihm angetan habe? Du bist so selbstgerecht wie eh und je. Ich war für ihn Prometheus!“

„Du warst für ihn Pandora.“

„Ich gab ihm Hoffnung…“

„Enttäuscht!“

„…ich gab ihm Zuversicht …“

„Ernüchtert!“

„…ich gab ihm Glauben an das Gute.“

„Und was hat es gebracht? Was hat es ihm gebracht?“

„Er führt endlich ein Leben, ein richtiges Leben. Was für ein Leben war es denn zuvor, bevor ich kam, als er noch fügsam auf dich hörte? Was waren deine Leistungen für ihn, was hast du Gutes je für ihn getan? Du hast ihn mit dem Wahn infiziert, die Welt habe ihm nichts, aber auch gar nichts zu bieten, hast ihn entmutigt und ihn mitleidig beschworen, sich hinter einer Mauer zu verstecken, die du bereitwillig für ihn errichtet hast. Alles, was er sah, das war für ihn nur schlecht, böse und es nicht wert, sich darauf einzulassen.“

„Bis du kamst, nicht wahr, und ihm gesagt hast, er brauche nur in das Gute zu vertrauen, und das Gute würde geschehen. Oh, du Narr! Er war naiv genug, um dir zu glauben, doch was bekam er dann dafür? Enttäuschung, Wut, Verzweiflung. Es hat sich nie gelohnt. Das Gute, das du ihm versprachst, hat er bis heute nicht gesehen.“

„Er wird es sehen und das Warten wird sich für ihn lohnen, wenn er bloß jetzt nicht resigniert, wenn er sich Offenheit bewahrt und nicht in seinem Gram verschließt. Bleib von ihm fern, und auf lange Sicht wird alles gut.“

„Das Warten, das Warten, das Warten. Wie lange soll er denn noch warten? Schau ihn dir an, er hat genug vom Warten. Wer kann es ihm verübeln? Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr vertröstest du ihn mit diesem vorlauten, hanebüchenen Optimismus, er müsse nur Geduld haben, und das Gute werde ihn ereilen. Nie hat er irgendwas davon gesehen, bis heute wurde es nicht wahr. Zum Teufel mit der Geduld! Zum Teufel mit der Offenheit!“

„Du wirst ihn nicht wieder bekommen. Er ist ein besserer geworden.“

„Ach ja? Wie war er denn, bevor du ihn verführen kamst?“

„Zynisch. Er war ein Pessimist, er hatte keinerlei Erwartungen an die Welt, denn da warst du und hast sie ihm genommen.“

„Aber du gabst ihm Erwartungen, Hoffnungen und Vertrauen…?“

„Ganz recht, ich gab ihm Erwartungen, Hoffnungen und Vertrauen, während du ihm alles nahmst.“

„Du gabst ihm Luftschlösser, Träume und Illusionen! Du hast ihm die verbotene Frucht präsentiert und er, er hat sie sich genommen. Hat sich eine seiner Erwartung erfüllt, die du in ihm gesät hast? Irgendeine? Sein Unglück, das ihn nun so quält, was glaubst du wohl, woher es rührt? Jede ernsthafte Erwartung wurde enttäuscht, jede aufrichtige Hoffnung, jedes offene Vertrauen. Wo du auftrittst, endet es immer wieder gleich. Quellen der Pein sind alles, was du ihm gegeben hast. Das ist sein Unglück! Ohne dich hätte er all das Leid nie erfahren, und er lebte gut so, bevor du anfingst, alles zu zerstören.“

„Ja, denn das war deine Lösung für ihn: Leere. Natürlich, er konnte nicht enttäuscht werden, wenn er keinerlei Erwartungen hegte, aber kann ein Mensch so je glücklich werden? Er wird sein Glück nur finden können, wenn er das Risiko wagt, von Zeit zu Zeit enttäuscht zu werden. Du aber hast ihm alles genommen, für das es sich zu leben lohnt. Er hatte keinerlei Hoffnung für die Zukunft. Es gab niemanden, dem er sein Vertrauen schenkte. Kein Mensch war ihm wichtig, die Welt für ihn ein schlechter Ort. Und du besitzt die Unverschämtheit, es zu wagen, das ein gutes Leben zu nennen, was er da führte?“

„Ein besseres als du es ihm geschaffen hast. Zynismus hat ihn nie so hart enttäuscht wie du. Früher war er stärker, früher hatte er sein Bollwerk gegen die Welt. Doch dann kamst du, mein Freund, der edle Befreier, und du erst hast ihm eingeredet, er könne so nicht leben, das mache ihn nicht glücklich, er solle alle Tore seiner Festung öffnen, um das Gute in sein Leben ziehen zu lassen. Aber was kam wirklich durch die Tore? Sieh ihn dir an! Er ist unglücklicher als je zuvor.“

„Er kann nicht einfach wieder zurückgehen, nicht nachdem er so weit gekommen ist. Wenn er die Hoffnung fahren lässt, ist er so gut wie tot, das siehst auch du. Ich zeige ihm das Leben, du zeigst ihm bloß Verzweiflung.“

„Ich zeige ihm, wie er Verzweiflung aus dem Weg geht, die du erst in sein Leben gebracht hast. Er hat genug von dir. Seine Geduld ist am Ende, deswegen bin ich hier. Er wird dich nicht länger beschützen. Du hattest deine Chance und du hast versagt.“

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird, schreibt Nietzsche, und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Menschen sind überall gleich. Ich kam in diese Stadt und ich tat es ohne die geringsten Erwartungen. Es war etwas Neues für mich, eine ungewohnte Umgebung, und diese Stadt war so gut wie jede andere. Selbst wenn ich es mir zunächst nicht eingestand, war es für mich ein Ort der Hoffnung, ein Ort der Träume, ein Ort der Illusionen.
Der erste Eindruck überraschte mich. Man nahm mich freundlich auf, einfach so, ohne Bedingungen und ohne jede Umschweife. Es war für diese Menschen nichts Ungewöhnliches, einen Neuen, einen Fremden in ihren Reihen zu begrüßen. Das unterschied diesen Ort von beinahe allem, was ich kannte, denn wie schwer, wenigstens aber aufwändig war es doch in der Regel, mit offenen Armen als Fremder in eine bestehende Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Nicht so hier. Einwohner kamen und gingen, und manchmal blieben sie nur wenige Wochen. Es war eine Freundlichkeit, eine Selbstverständlichkeit, die mich begeisterte. Den schmalen Grat zwischen kindlichem Vertrauen und unbarmherziger Distanz pflegte ich stets mit einer Art von Grundvertrauen zu beschreiten, das ausgleichend begrenzt wurde durch eine über die Jahre hinweg gewachsene Menschenkenntnis, derer es bedarf, um nicht der blinden Naivität anheimzufallen.
Im Allgemeinen vertraute ich selbst völlig unbekannten Menschen, solange sie mir keinen Grund lieferten, daran zu zweifeln. Was wäre die Alternative gewesen. Gesundes Misstrauen ist ein Widerspruch in sich, so etwas gibt es nicht, und lieber wollte ich bisweilen in meinem Vertrauen enttäuscht werden, als mit paranoider Grundhaltung durch die Welt zu gehen, denn Misstrauen fördert unablässig Misstrauen.
Ich fühlte mich hier zuhause. Niemanden interessierte, warum ich gekommen war. All die menschlichen, nur allzu menschlichen Kategorien, die bisweilen dafür sorgten, Keile zwischen die Individuen zu treiben, schienen hier ohne Bedeutung zu sein. Alter, Geschlecht, Herkunft, Aussehen oder Status, Erfolg, Bildungsgrad und noch die verrücktesten Interessen waren für das Miteinander dieser Menschen allem Anschein nach völlig nebensächlich, zumindest ließen sie sich nicht im geringsten anmerken, darauf irgendeinen Wert zu legen. Es war zu gut, um wahr zu sein. Es war nicht wahr – aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Ich hätte es wissen müssen, aber ich tat es nicht, denn wer stellt schon Fragen, wenn ihm Einlass in das Paradies geboten wird.
Nun, da ich ihn verlasse, muss ich rückblickend auf diesen Ort leider sagen, dass die Enttäuschung überwiegt. Es gab sehr viel Freude, schöne Momente, gute Erfahrungen, aber letztlich auch ein Übermaß an Frustration. Viele Monate habe ich hier damit verbracht, Hoffnungen und Träumen nachzujagen, die am Ende fast alle enttäuscht wurden. Ich komme mir so dumm vor. Alles ließ ich stehen und liegen, sogar meine Arbeit vernachlässigte ich in all der Zeit, weil es für mich nichts Wichtigeres gab auf der Welt als diese Menschen, auf die ich meine Hoffnungen setzte. Und für was? Was dachte ich zu sehen? Menschen, die nicht so sind wie an jedem anderen Ort der Welt? Illusionen! Wieso also sollte ich bleiben.
Vielleicht mag es auf den ersten Blick paradox erscheinen, mein Grundvertrauen von einer gewissen Art Distanz begleiten zu lassen, die aber gar kein Widerspruch, sondern eher Gegengewicht ist. Mit einem Großteil der Menschen, die ich im Laufe meiner Tage kennenlerne, kann ich, so schwer es mir das Leben auch manchmal macht, in der Regel nur wenig anfangen, darum vermeide ich allzu nahen Kontakt mit ihnen, wo ich das kann. Das gilt für die Einwohner dieser Stadt wie für die Menschen im Gesamten. Sie können nichts dafür, sie sind nicht besser oder schlechter als ich, sie haben einfach nur eine andere Vorstellung von der Welt, eine Vorstellung, die ich nicht teile. Sie legen Verhaltensweisen an den Tag, die so normal, so menschlich sind, und doch meide ich sie dafür. Sie verbreiten Lügen und bringen Gerüchte in Umlauf, sie hetzen sich gegeneinander auf, sie lästern über ihren Nächsten, sobald er nur für einen Moment außer Hörweite gegangen ist. Sie verschwören sich. Sie fragen nicht nach, wenn sie böses Geschwätz über einen anderen hören, ob es denn überhaupt stimmt, sie glauben es direkt. Sie korrumpieren. Sie sind ständig am Kämpfen, am Streiten, konkurrieren um Macht, Prestige, Anerkennung und Beifall. Sie sind selbstverliebt, arrogant und Heuchler. Ständig heucheln sie. Sie sind freundlich zu jedem, ja, doch was heißt das schon, was hilft das, wenn es nur gespielte Freundlichkeit ist. Sie legen das Stilett nie aus der Hand. Am Vormittag können sie dir sagen, wie gerne sie dich haben und was sie an dir schätzen, dich am Nachmittag vor deinen Freunden schlechtreden, um dann am Abend mit dir ein fröhliches Gespräch zu führen, wie verlogen alle anderen doch seien. Nichts davon tun sie aus Boshaftigkeit, und das ist das wirklich Traurige daran. Lernt man die Menschen in dieser Stadt ein wenig kennen, muss man feststellen, dass die meisten von ihnen genauso sind, genauso normal. Das macht sie nicht zu schlechten Menschen, aber es macht sie zu Menschen, denen ich aus dem Weg gehe. Vielen gehe ich aus dem Weg.
Doch es gab Ausnahmen, es gibt sie überall, man muss sie bloß finden. Diejenigen, die anders sind. Menschen, die sich die Tatsache vor Augen führen, auch selbst nicht immun gegenüber derartigen Verhaltensweisen zu sein, die aber versuchen, sie auf ein Minimum zu reduzieren; die ihr Verhalten kritisch reflektieren, die ein Miteinander statt eines Gegeneinanders herzustellen bestrebt sind. Menschen, die sich nicht andauernd in den Mittelpunkt zu stellen versuchen, die nicht herumschreien, um Lorbeeren noch für die kleinsten Taten ernten zu wollen. Menschen, die so aufrichtig wie freundlich sind und das nicht bloß spielen, weil sie sich etwas davon erhoffen.
Viele derer, die auf den ersten Blick als solche Ausnahmen erscheinen, stellen sich bei genauerer Betrachtung als Schauspieler heraus, als Menschen, die sich akkurat inszenieren, als wären sie zuvorkommende, freundliche, aufrichtige Personen. Bohrt man etwas tiefer, offenbart sich allerdings, es handelt sich um Lügner. Geschickte Lügner zwar, gute Schauspieler zweifellos, und dennoch Lügner. Sie spielen das alles und dieses Spiel ist ihr Leben. Es sind Egozentriker, Geltungssüchtige und Selbstverliebte. Sie sind genau wie der Großteil derer, auf die sie aus ihrer Rolle hinaus verächtlich hinabblicken, aber sie haben gelernt, das zu überspielen, und das machen sie teilweise verdammt gut.
Die echten Ausnahmen aber, jene, die nicht bloß Schauspiel betreiben, waren allesamt nette Menschen und darüber war ich froh. Sie waren aufrichtig und nett, und viele von ihnen verfügten über eine recht unkomplizierte, unverbindliche Vorstellung von Freundschaft. Genau dies war jedoch gleichzeitig das Problem, war mir Grund, weshalb ich mich nicht mit ihnen anfreunden wollte. Ihre Vorstellung von Freundschaft entsprach nicht der meinen, einer Vorstellung, die manchem, den ich sah, vielleicht fremd sein mochte, weil er unzählige Freundschaften pflegte – und wenn man bloß mit jemandem in einer Bar ein Bier trank, war er sofort ein Freund. Das mochte für andere funktionieren, für mich allerdings nicht.
Seit jeher nannte ich nur wenige Menschen wirklich Freunde, doch für jene, die ich dazu erkoren hatte, war ich es von ganzem Herzen, mit all meiner Energie. Diese netten, unverbindlichen Leute – sollte ich auch sie allesamt zu meinen Freunden zählen? Würde das funktionieren? Und dann? Auch meine Tage haben nur vierundzwanzig Stunden, auch ich verfüge nur über begrenzte Energie. Ich wollte keine netten, unverbindlichen Leute kennenlernen, die ich zu meinen Freunden hätte machen können, weil das nur bedeutet hätte, das kostbare Engagement für jeden meiner Freunde zu reduzieren, reduzieren zu müssen, breiter zu verteilen, sodass am Ende jeder weniger davon bekäme. Das wollte ich nicht. Machte mich das in ihren Augen zu einem Sonderling? Vermutlich. Behandelte ich diese netten, unverbindlichen Menschen ungerecht? Vielleicht. Aber lieber das, als dass ich sie zu Freunden gemacht hätte, die keine waren, zu Freundschaften, die weder sie noch mich befriedigen würden.
Aber es gab Ausnahmen unter den Ausnahmen, ganz besondere Menschen. Menschen, für die sich jedes noch so große Engagement lohnte; die so unglaublich kostbar waren, dass ich sie nie wieder aus den Augen verlieren wollte; die mich berührten, nicht nur in Gedanken, sondern tief im Inneren. Menschen, die kennenzulernen mir war, als würden sich Welten verbinden. Es war der enttäuschendste Teil. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Frauen, denn unglücklicherweise fielen die vermeintlichen Ausnahmen unter den Männern vorwiegend in die Kategorie Schauspieler, denen es am Ende doch nur um ihr Ego ging, um Macht und Geltungsdrang, auf die eine oder auf die andere Art. Leider. Mit ihnen wäre es einfacher.
Was war nun das Problem mit diesen Ausnahmen unter den Ausnahmen? Da gab es also jemanden, der besonders erschien, zumindest für mich. Jemanden, der kein Schauspieler war. Jemanden, der ein ähnliches Verständnis vom Leben und der Welt aufwies. Jemanden, der unbedingtes Vertrauen verdiente und jemanden, mit dem das gegenseitige Verstehen so einfach erschien, mit Worten oder auch ohne, weil wir uns schon seit ewiger Zeit zu kennen glaubten. All die Schutzvorrichtungen, die man sich im Laufe eines Lebens so mühsam erbaut, um andere Menschen auf angebrachter Distanz zu halten, um sich nicht zu verausgaben, um allzu schwere Verletzungen zu vermeiden, baute ich ab. Plötzlich stand da ein Geschenk vor den Toren meiner Festung, ein hölzernes Pferd, und ich holte es bereitwillig herein.
Irgendwann aber übertraten wir eine Grenze, eine unsichtbare Linie, und es wuchsen Gefühle in einem von uns. Anstatt in Unendlichkeit zu enden, kenterte das Miteinander durch dieses ungleich verteilte Gewicht. Es war Himmel und Hölle zugleich, es machte alles kompliziert und vieles kaputt, das so wunderbar begonnen hatte. Stell dir vor, du wärst Archäologe und würdest an dem einen Fund arbeiten, den du schon dein ganzes Leben lang gesucht hast, auf den du entgegen aller Wahrscheinlichkeit unter all den verbergenden Schichten erst einmal stoßen musstest, doch plötzlich ist da ein nicht zu unterdrückendes Kribbeln in deiner Nase, du musst niesen, ein ganz normales menschliches Regen, du rutschst mit dem Werkzeug ab und alles ist ruiniert. So kam ich mir vor. Nichts vermag je zu ersetzen, was dadurch verloren ging, das wirklich Begehrte, das überaus Seltene, das unbedingt Kostbare. Jene Menschen, die für immer im Gedächtnis bleiben, die für immer ein Teil des eigenen Lebens sein werden, ob sie nun anwesend sind oder nicht.
Momentan fühlt es sich so an, als steckte ich im Treibsand. Je mehr ich mich bewege, desto trostloser wird die Situation. Vielleicht ist es also am besten, sich erst einmal gar nicht zu bewegen. Das gesamte letzte Jahr verbrachte ich in dieser Stadt mit dem unheilvollen Versuch, Träumen, Hoffnungen und letztlich Illusionen hinterherzujagen, die sich am Ende allesamt in Luft auflösten. Meine gesamte Energie, emotional wie auch psychisch, steckte ich in diese Menschen, nur um alles, was ich aufgebaut hatte, schließlich zerstört vorzufinden, entweder durch sie, weil sie nicht waren, was sie zu sein schienen, oder durch den Makel der Emotion. Es endete immer wieder gleich, auch wenn es nie endete. Heute bin ich leer, enttäuscht, von anderen und von mir selbst, erschöpft und emotional am Boden. Diese Stadt hat mich ausgelaugt, ich kann nicht mehr. Jedenfalls nicht hier. Wie ein havariertes Raumschiff schwebe ich manövrierunfähig irgendwo in der Leere des Universums. Nur die Lebenserhaltungssysteme sind noch in Betrieb, doch vielleicht bekomme ich demnächst auch wieder Energie für den Antrieb. Man sagt, es würde alles besser, wenn Gras über eine Sache gewachsen sei. Hier jedoch wächst kein Gras, der Boden ist ausgelaugt. Noch weniger als zuvor weiß ich, wann es sich lohnt, auf Menschen einzugehen, denn ich mag sie entweder gar nicht oder zu sehr, doch ich weiß, dass es nicht mein Vertrauen war, das mich enttäuschte.
Menschen sind überall gleich. Entzaubert, ohne Hoffnung und mit verblassten Träumen verlasse ich diese Stadt so leise, wie ich sie betrat. Sie war für mich ein Ort der Hoffnung, ein Ort der Träume, ein Ort der Illusionen. Nach all diesen Erfahrungen komme ich mir vor wie ein Außerirdischer, der mit der hoffnungsvollen Mission an diesen Ort geschickt wurde, so viel wie möglich über die dominante Spezies auf diesem Planeten herauszufinden, um alles mit ihnen zu teilen, und der nun mit der Botschaft zurückkehren muss, dass es sich nicht lohnt, mit diesen Wesen Kontakt aufzunehmen. Nicht mit deaktiviertem Schutzschild.

„Ich mag dich sehr“, sagte sie zu ihm, als sich die U-Bahn-Türen zwischen ihnen langsam schlossen und er alleine auf dem Bahnsteig zurückblieb, ohne jede Möglichkeit, darauf irgendwie zu antworten.

Nun war sie zuhause, lag auf ihrem Bett und zerbrach sich den Kopf. Sie kam sich so dumm vor. Da wurde sie einmal für einen absurd kurzen Augenblick von ihren Gefühlen übermannt und brachte in diesem Zustand dann gleich einen derartigen Satz hervor, eine entlarvende Aussage, ein Geständnis. Sie wusste, er würde nie das gleiche für sie empfinden, das sie für ihn empfand. Daran gab es für sie keinen Zweifel. Wieso also musste sie sich unbedingt mit einem solchen Satz blamieren, der das Verhältnis zwischen ihnen unbarmherzig verändern würde. Alles würde komplizierter werden. Er würde auf Distanz gehen, er würde Abstand zwischen sie beide bringen, ob sie das wollte oder nicht, dabei war das doch genau das, was sie am wenigsten verkraften würde. Sie schlug mit der Faust auf ihr Bett. So ein kleiner, unwichtiger, absolut lächerlicher Satz sollte alles ruinieren.

Aber nein. Was genau habe ich denn wirklich gesagt, dachte sie. Es war doch bloß: „Ich mag dich sehr“. Das war kein Geständnis. Das war nicht einmal eine Andeutung, wenn man es genau nimmt. „Ich mag dich sehr“ lässt Raum für Interpretationen. Interpretationen erlauben Freiheit, Interpretationen erlauben Hintertüren. Zwar war sie gewöhnlich sehr darauf bedacht, eine präzise Ausdrucksweise an den Tag zu legen, doch in Situationen wie diesen hatte sie sich angewöhnt, sich möglichst vage auszudrücken. Vage Aussagen eröffnen Handlungsspielraum; man tänzelt und laviert um das Feuer herum. Bloß nicht festlegen. Bloß nicht festlegen lassen. Präzision der Sprache war ihr unerwünscht, zumindest in Sachlagen dieser Art, sobald Emotionen ins Spiel kamen. Man kann etwas sagen und völlig offen lassen, was damit gemeint ist. Es bleibt die Interpretation; ein Schild, ein Schutzwall, ein Notausgang. Der andere soll sagen, was er darunter versteht, was er in das Gesagte hineininterpretiert. Ist es das Falsche, kann man sich bequem hinter das Schutzschild sprachlicher Unschärfe zurückziehen und behaupten, man habe nie gemeint, was man gemeint hat.

Was also hatte sie wirklich zu ihm gesagt? „Ich mag dich sehr“ – das konnte alles heißen! Von „Du bist ein guter Freund“ über „Deine Art gefällt mir“ oder „Ich liebe dich“ bis hin zu „Ich möchte mit dir schlafen“ war doch alles und nichts, waren ganze Bedeutungsuniversen in diesem Satz enthalten, der so vage war, dass es sie freute. Er konnte sie nicht damit festnageln. Was er in diesem Satz las, entschied einzig und allein seine Interpretation. Vermutlich dachte er, sie sei in ihn verliebt. Das war die Wahrheit, aber es war eben eine Wahrheit, die sie ihn nicht wissen lassen wollte, denn er, er war doch nicht in sie verliebt, das war ihr klar.

Seit Monaten bereits hegte sie Gefühle für ihn. Sie freute sich, wenn er ihre Bücher las, wenn er die Musik hörte, die sie ihm empfahl, wenn er Zeit mit ihr verbrachte, wenn er ihr Briefe schrieb oder sie einfach bloß anschaute, mit seinen bezaubernden blauen Augen. Sie hatte versucht, sein Verhalten zu deuten, hatte herausbekommen wollen, ob er seinerseits Gefühle für sie hegte, doch eindeutig sagen ließ sich das nicht. Es blieb die Interpretation. Nach einigen Wochen war sie zu dem Schluss gelangt, dass er offenbar nichts für sie empfand. Das war schade, doch sie fand sich damit ab und seine Gesellschaft war ihr weiterhin das Paradies.

Den Kontakt zu ihm jetzt zu verlieren, nur weil ihr in einem unkontrollierten Moment eine Reihe lächerlicher Wörter über die Lippen gekommen war, wäre für sie unerträglich gewesen. Wie also würde er nun reagieren auf diesen törichten Satz, fragte sie sich, den sie so unbeholfen in die Welt hinaus geflüstert hatte. Sie wusste es. Er würde sagen: „Ich mag dich auch, aber…“ und dabei versuchen, sie nicht zu verletzen, während er in Gedanken bereits das Ende ihrer Freundschaft konstruierte. Sie jedoch würde sich erhobenen Hauptes hinter ihr sprachliches Schutzschild zurückziehen, hinter den Interpretationsspielraum ihrer vagen Worte. Sie würde lachen und sagen: „So habe ich das doch gar nicht gemeint“. Sie würde klarstellen, dass sie diesen Satz rein freundschaftlich begriffen hatte. Dann würden sie gemeinsam lachen, beide wären erleichtert, und alles bliebe so wie immer. Das war ihr Plan. Sie war stolz auf sich, auf dieses sprachliche Hintertürchen, das alles letztlich retten und damit ihr Gesicht wahren würde.

Plötzlich brummte es leise. Sie stand vom Bett auf, sah nach und erschrak. Er hatte ihr geschrieben; eine SMS wartete darauf, von ihr gelesen zu werden. Doch was würde er schon schreiben, dachte sie. „Ich mag dich auch, aber…“ würde dort stehen, wie sie es erwartete, und sie würde sich enttäuscht durch ihr Hintertürchen davonmachen, würde sich nichts anmerken lassen, würde ihm antworten, es sei nur ein Missverständnis und dass er den Satz bloß ungünstig interpretiere. Es bleibt die Interpretation.

Sie musste sich regelrecht dazu überwinden, das Handy nicht einfach beiseitezulegen, und so sah sie schließlich nach, was er ihr geschrieben hatte. „Ich mag dich auch sehr“, stand dort, „das wollte ich dir schon lange sagen, aber ich hab mich nicht getraut. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“

Das überraschte sie. Es war eine Reaktion, die sie in ihrem Plan nicht bedacht hatte, denn sie war so unwahrscheinlich, so unmöglich. Damit hatte sie nicht gerechnet, darauf war sie nicht vorbereitet. Sie hatte sich so sehr mit der bevorstehenden Enttäuschung abgefunden, ja sogar angefreundet, dass seine Antwort sie nun beinahe wütend machte, denn jetzt enttäuschte er sie mit dem Ausbleiben dieser nur allzu vorhersehbaren, allzu erwarteten Enttäuschung.

Panik stieg in ihr auf. Und wenn sie nun einfach zugab, dass sie es genauso gemeint, wie er es auch verstanden hatte? Mit einer derartigen Situation hatte sie keinerlei Erfahrung. Enttäuschungen war sie gewohnt, mit Enttäuschungen konnte sie umgehen, musste sie umgehen, denn sie war zu oft enttäuscht worden, doch das hier überforderte sie. Was war das?

„Du … interpretier da nicht zu viel hinein. Du bist ein sehr guter Freund“, antwortete sie ihm und warf sich weinend auf ihr Bett, überwältigt von dem traurigen Gefühl, einmal mehr enttäuscht worden zu sein.

Liebe soll bekanntlich Berge versetzen können, doch manchmal scheitert sie bereits an einem Kieselstein. Seit knapp sechs Monaten waren sie ein Paar. Sie hatten sich in einem Bistro kennengelernt, die Nummern getauscht und bald darauf einige Dates gehabt. Es war ihr Lachen, in das er sich zuerst verliebt hat, und ihr gefiel, wie er sich gab. An einem kühlen Dienstag im Dezember, kurz vor ihrem halbjährigen Jubiläum, sagte er zu ihr: „Du bist die, nach der ich gesucht habe“. Dann ging er zur Arbeit. Auf dem Nachhauseweg würde er ihr Blumen mitbringen, einfach so, weil er wusste, wie sehr sie sich doch jedes Mal darüber freute. Sie war die Frau, mit der er alt werden, eine Familie gründen wollte, und er liebte sie von ganzem Herzen.

Sie hingegen saß noch eine Weile am Küchentisch seiner Wohnung, in der sie übernachtet hatte, und dachte über seine Worte nach. Was wollte er ihr damit sagen? Er hatte sie gesucht. Woher wollte er das wissen? Wenn sie beide in einem Jahr nicht mehr zusammen wären, so wäre sie für ihn wohl nicht mehr die Gesuchte. Nie gewesen. Dann wäre es eine neue. Suchte er also immer, was er gerade gefunden hatte? Was für eine bequeme Lebensphilosophie! Sucht man nach Gold und findet bloß Eisen, so deklariert man diese Suche einfach um. Schon immer habe man nach Eisen gesucht, sagt man dann. Etwas anderes als Eisen wolle man gar nicht haben, behauptet man mit ernster Miene. Das Eisen würde sich geschmeichelt fühlen, wäre es zu Emotionen in der Lage, und es würde nie infrage stellen, ob die Suche wirklich ihm galt. Eine angenehme Illusion mit einer harten Wahrheit auf die Probe stellen? Nein!

War sie etwa sein Eisen? Er hatte sie gefunden, das stand außer Frage, aber hatte er sie auch gesucht? Sie? Wirklich sie? Sie begann zu zweifeln. Er hatte ihr nie erzählt, wie seine Freundinnen vor ihr gewesen sind. Passte sie in ein Muster, fragte sie sich. Dann hatte er vielleicht wirklich nach ihr gesucht und alle Frauen vor ihr waren fehlgeschlagene Versuche in einer Art von Annäherungsverfahren. Bloß woher sollte sie dann wissen, wirklich am Ende dieser Suche zu stehen. War es nicht viel wahrscheinlicher, dass auch sie nur eine Annäherung an die Frau war, die er wirklich suchte? Sie hatte Eigenschaften, die er nicht mochte. Was sollte ihr das bedeuten? War sie von dieser Frau, die er suchte, so weit entfernt? Er nahm sie hin, diese Eigenschaften, sehr geduldig sogar, aber tat er das vielleicht nicht nur, weil es besser ist, anstelle gar keiner wenigstens eine halbe Version der Frau zu haben, die man sucht? War sie eine Kompromisslösung, ein Zwischenschritt in der Evolution seiner Beziehungen?

Was wäre wiederum, wenn sie und die Frauen seiner früheren Beziehungen nicht in ein solches Muster passten? Dann wäre seine Auswahl doch recht beliebig. Sie wäre nicht einmal ein evolutionärer Zwischenschritt auf dem Weg zu der von ihm gesuchten Frau, sondern austauschbar. Völlig austauschbar. Wenn er wirklich sie gesucht hätte, warum wäre er dann mit Frauen zusammen gewesen, die ihr so unähnlich waren? Da gab es keine Linie, keine Annäherung, nur austauschbare Partner. Jede hatte er gefunden. Hatte er auch jede gesucht? Hatte er überhaupt eine von ihnen gesucht?

Was sollte das überhaupt heißen, sie sei die, nach der er gesucht habe? Er sprach in der Vergangenheit. Wenn es also stimmen sollte, hieße es dann, er suchte sie gar nicht mehr? Glaubte er, er hatte sie gefunden? Einmal, und dann für immer und ewig? Wenn man etwas findet, hört man auf, danach zu suchen, dachte sie. Wenn man weiß, wo etwas liegt, beachtet man es kaum, es liegt dort schließlich immer. Nahm er sie also für selbstverständlich? Er hatte sie gefunden und nun war die Suche vorbei. Sie war für ihn nichts mehr, das er erkunden wollte. Konnte das sein? War das nicht gerade das Gegenteil von Liebe, jemanden einmal zu finden und dann aufzuhören, in ihm zu suchen – nach ihm selbst. „Ich habe dich gefunden“ reduzierte doch die Liebe auf „Ich möchte, dass du für immer so bleibst“. Das war keine Liebe. Jemanden zu finden, ein für alle Mal, das ist unmöglich, so wie es doch unmöglich ist, sich jemals selbst zu finden, ohne sich dabei zu verlieren. In der Suche steckt die Liebe und in der Suche steckt die Selbsterkenntnis. Wer findet, der hat nichts mehr zu entdecken, mit dem Finden stirbt das Leben, das Streben und die Liebe. Wie also konnte er allen Ernstes behaupten, er habe sie gefunden? Sie kannten sich doch gerade erst ein halbes Jahr! Wie vermessen es war, bereits nach dieser kurzen Zeit nichts mehr an ihr entdecken zu wollen. Er war fertig mit ihr, dachte sie. Schade.

Sie packte alles ein, was ihr gehörte, und verließ seine Wohnung. Diesmal würde er sie suchen, ja, aber finden würde er sie nicht mehr.

Er lebt stets in Erwartungen. Er liebt es, alles in der Schwebe zu lassen. Er gehört zu den Menschen, denen überall, wo sie sich befinden, zwanghaft einfällt, wie schön es jetzt auch anderswo sein möchte. Er flieht das Hier-und-Jetzt zumindest innerlich. Er mag den Sommer nicht, überhaupt keinen Zustand der Gegenwärtigkeit, liebt den Herbst, die Dämmerung, die Melancholie, Vergänglichkeit ist sein Element. Frauen haben bei ihm leicht das Gefühl, verstanden zu werden. Er hat wenig Freunde unter Männern. Unter Männern kommt er sich nicht als Mann vor. Aber in seiner Grundangst, nicht zu genügen, hat er eigentlich auch Angst vor den Frauen. Er erobert mehr, als er zu halten vermag, und wenn die Partnerin einmal seine Grenze erspürt hat, verliert er jeden Mut; er ist nicht bereit, nicht imstande, geliebt zu werden als der Mensch, der er ist, und daher vernachlässigt er unwillkürlich jede Frau, die ihn wahrhaft liebt, denn nähme er ihre Liebe wirklich ernst, so wäre er ja genötigt, infolgedessen sich selbst anzunehmen.
(Max Frisch – Stiller)