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Es ist ein ver­reg­ne­ter Sams­tag­abend und ich sit­ze mit dir in einer klei­nen Knei­pe in Frank­furt Bocken­heim. Du trägst Jeans und ein rotes Ober­teil, dein Haar ist zu Zöp­fen gebun­den, du rauchst. Zuvor sind wir essen gewe­sen, beim Per­ser, ich habe dich ein­ge­la­den, du hast einen ehe­ma­li­gen Mit­be­woh­ner getrof­fen, dann sind wir kurz durch die Nacht spa­ziert. Nun trin­ken wir Cock­tails, wir unter­hal­ten uns, wir wer­den kri­tisch, wir wer­den trau­rig, wir lachen und spin­nen her­um. Du bist jemand, bei dem ich sein kann, wer ich bin, ohne Unver­ständ­nis zu pro­vo­zie­ren, ohne mich ver­stel­len zu müs­sen, ohne Erwar­tun­gen zu begeg­nen, die mir so fremd sind wie eine außer­ir­di­sche Kul­tur. Wir tei­len eine Sicht auf die Welt, auf das, was uns stört, was wir mögen, und ich mer­ke, ich mag vor allem dich.

Wir ste­hen uns poli­tisch nahe, wenn man das so aus­drü­cken kann. Uns eint der Kampf gegen die Übel die­ser Welt, doch Hoff­nung treibt dich dabei nicht, eher sei es Rast­lo­sig­keit, man kön­ne eben etwas tun oder schwei­gend resi­gnie­ren. Eigent­lich aber möch­test du hier weg, sagst du, und mit hier meinst du Deutsch­land, nicht die­sen Moment in die­ser klei­nen, gemüt­li­chen Knei­pe. Ein Häus­chen, viel­leicht ein Bau­ern­hof, gemein­sam mit ein paar Freun­den, das wäre das Rich­ti­ge, erklärst du mir, und dei­ne Augen fun­keln ein wenig bei der Vor­stel­lung dar­an. Du nennst es andäch­tig Utopia.

Es man­gelt am Wil­len zur Umset­zung, ant­wor­te ich dir und es stimmt. Du bist nicht die ers­te, die mir von die­sem Traum vor­schwärmt, denn ich ken­ne vie­le, die vom Weg­ge­hen träu­men, vom selbst­be­stimm­ten Leben, nur kei­nen, der es macht. Auch für dich sei es eher ein Plan B, eine Rück­zugs­mög­lich­keit, gesellst du dich zu ihnen, für die Zeit, wenn dir das Leben hier in die­sem Land nicht mehr ange­nehm erscheint.

Ich fin­de es jetzt schon nicht mehr ange­nehm, geste­he ich dir, und du bist der ers­te Mensch, der bei die­sen Wor­ten nicht lacht, nicht min­des­tens schmun­zelt oder mich fra­gend ansieht. Du näm­lich schaust mich an, mit einem Blick, der mir sagt, dass du genau ver­stehst. Wir füh­ren den Gedan­ken wei­ter, bis du mir erklärst, wie du dir das Gan­ze vor­stellst, viel­leicht in Grie­chen­land, mit ein paar Tie­ren und Gemü­se und was man eben braucht, um so aut­ark zu sein, wie es die Umstän­de erlau­ben. Der Abend klingt aus und ich sto­ße mit dir dar­auf an, ihn umzu­set­zen, dei­nen Plan B, und du lachst und freust dich und sagst: Ja, das machen wir. Ich sehe Zukunft, wo ein Fra­ge­zei­chen war. Wir sind Kom­pli­zen, die den Aus­bruch wagen.

In den Tagen dar­auf rech­ne ich zusam­men, was ich gespart habe, dru­cke Immo­bi­li­en­an­ge­bo­te aus, rei­se um die hal­be Welt, um mir einen guten Ein­druck von den inter­es­san­tes­ten Objek­ten zu machen, lese Bestim­mun­gen, pla­ne vor­aus. Drei Wochen spä­ter tref­fen wir uns in dei­ner Woh­nung, ich lege dir Fotos vor, ohne dir mei­nen Favo­ri­ten zu ver­ra­ten, und dei­ne Wahl fällt auf das glei­che Haus. Wir lachen, freu­en uns, gehen Pla­nun­gen durch, über­schla­gen Finan­zen. Ganz die Rea­lis­tin, die du bist, wirfst du ein, du fän­dest das alles wun­der­bar, nur könn­test du nicht von heu­te auf mor­gen dei­ne Woh­nung auf­ge­ben und dei­nen Job kün­di­gen, da gäbe es Fris­ten, und dein Kater mache dir Sor­gen, der habe doch sein Revier, und all das Recht­li­che. Das macht nichts, beschwich­ti­ge ich, dann fah­re ich allei­ne schon mal vor, rich­te alles her, ich küm­me­re mich um unser Haus, wid­me mich dem Büro­kra­ti­schen, freue mich auf dich, und dem Kater wird es gefal­len. Du nickst und dann umarmst du mich auf eine Art, dass ich mich füh­le, als wür­de ich nach lan­ger Odys­see zu Hau­se ankommen.

Am nächs­ten Tag plün­de­re ich mei­ne Kon­ten, bestei­ge ein Flug­zeug und flie­ge einem neu­en Leben ent­ge­gen. Ich kau­fe ein Haus, das Haus, unser Haus, mit rie­si­gem Grund­stück und mod­ri­gem Holz­zaun rund­her­um, die Mau­ern in einem Rot­ton, der dir gefal­len wird, die Zim­mer groß genug, falls wir Besuch oder mal Kin­der haben wol­len. Das Dach ist nicht ganz dicht, wie ich beim ers­ten Regen fest­stel­len muss, aber wir sind es auch nicht. Ich reno­vie­re, ich strei­che, ver­le­ge Böden und ler­ne mau­ern, ich lege mich ins Zeug und füh­le mich zum ers­ten Mal als frei­er Mensch. So ver­brin­ge ich Wochen, dann Mona­te. Mit der Begeis­te­rung eines Kin­des schi­cke ich dir immer wie­der Fotos und selbst­ge­dreh­te Vide­os, und du sagst, du willst noch dei­ne Pro­mo­ti­on fer­tig­stel­len, dann kommst du. Ich freue mich wahn­sin­nig dar­auf, wenn du kommst, ant­wor­te ich dir.

Das Dach ist mitt­ler­wei­le gut, das Haus bezugs­fer­tig, was aus­zu­bes­sern war, habe ich aus­ge­bes­sert. Die Reno­vie­rung kommt vor­an, wenn auch lang­sam, und zwi­schen­drin ver­su­che ich mich als Gärt­ner, lese mich schlau, pflan­ze an, gie­ße, ver­tei­le Dün­ger, hof­fe und war­te. Eini­ges gedeiht, man­ches nicht, und ich bin stolz, weil das für einen ers­ten Ver­such gar nicht so schlecht ist. Du hast von uns bei­den den grü­ne­ren Dau­men, du wirst mich aus­la­chen, wenn du kommst.

Zwei Mona­te spä­ter bekommst du ein Ange­bot für eine Stel­le an der Uni, ein Ein­jah­res­ver­trag, und du sagst, so lan­ge sol­le ich mich noch gedul­den, danach aber kämst du. Mir macht es nichts aus, die Reno­vie­rung braucht noch etwas Zeit, und ich sage, ich freue mich dar­auf, wenn du kommst, du wirst ein wun­der­schö­nes Haus vorfinden.

Drau­ßen wird es lang­sam grün und ich fil­me auch das, schi­cke es dir, will dir zei­gen, dass selbst unter mei­ner Regie pflanz­li­ches Leben mög­lich ist. Du lachst so herz­lich über mei­ne ange­streng­ten Gärt­ner­ver­su­che, dass alle Kilo­me­ter zwi­schen uns ver­ges­sen sind. Kurz bevor du auf­legst, seufzt du, denn du wärst so ger­ne hier, und ich spie­le es her­un­ter, es ist doch nicht mal mehr ein Jahr.

Vier Mona­te ver­ge­hen, in denen wir mai­len, chat­ten, tele­fo­nie­ren, ich schi­cke dir wei­ter­hin Bil­der und Vide­os, hege Vor­freu­de, und dann schreibst du mir, du bist jetzt an einem For­schungs­pro­jekt betei­ligt, das du super inter­es­sant fin­dest, und man erwägt, dich fest ein­zu­stel­len, und wie groß­ar­tig das ist und ob ich mich freue.

Drei Tage spä­ter ant­wor­te ich dir, schi­cke dir einen Link auf ein klei­nes regio­na­les Nach­rich­ten­por­tal, schrei­be sonst nichts. Du rufst mich an, obwohl du nicht viel Zeit hast, wie du mir erklärst, du machst gera­de Pau­se, gleich musst du zurück. Du bist ver­wirrt, sagst du, und ob das ein Scherz sei, aber es ist alles echt, ver­si­che­re ich dir, das Feu­er und der Total­scha­den. Uto­pia ist abgebrannt.

Es ist nur Wider­stand, wenn dir Wider­stand ent­ge­gen­schlägt. Das klingt tri­vi­al und doch scheint es vie­le zu über­for­dern. Sie nen­nen sich Wider­ständ­ler und – das ist das Tra­gi­sche dar­an – sie füh­len sich auch so. Am Wochen­en­de und nach Fei­er­abend neh­men sie an Kund­ge­bun­gen teil, ver­zich­ten dafür immer­hin auf Par­ty, Fern­se­her oder Shop­pen­ge­hen, sie schrei­ben kri­ti­sche Arti­kel, man­che noch Leser­brie­fe, sie besu­chen Kon­gres­se und Dis­kus­si­ons­run­den, kurz­um: Sie sagen ihre Mei­nung. Das hal­ten sie für Wider­stand, für radi­kal, man­che gar für einen Umsturz des Sys­tems, und das Sys­tem lacht sich ins Fäust­chen, weil es weiß, wie alles läuft: Eine Mei­nungs­äu­ße­rung ist kein Wider­stand, kei­ne ernst­zu­neh­men­de Pro­vo­ka­ti­on, viel­mehr selbst­ver­ständ­lich oder wenigs­tens banal, und alles ist so herr­lich rela­tiv, dass jede Mei­nung recht hat, jeder Ein­wand wird umarmt und rasch osmo­tisch ein­ge­saugt, kommt nie mehr raus, noch jeder Blöd­sinn wird als Blöd­sinn aner­kannt. Jeder kri­ti­sche Gedan­ke wird ver­ein­nahmt. Die Welt ist schlecht, sagst du, und die­se Welt sagt: Lass uns gemein­sam dar­an arbei­ten, und schon bist du ein Kollaborateur.

Du kannst sagen, der Staat sei zum Kot­zen, ein Mons­ter und ein Men­schen­feind, und wenn du schlech­te Freun­de hast, dann wer­den sie dich dafür aus­la­chen, und wenn du etwas weni­ger schlech­te Freun­de hast, wer­den sie bloß mit ihren Köp­fen nicken, und dem Staat ist es egal. Auf letz­te­res kommt es an. Die Staats­macht hat kein Inter­es­se an dei­ner per­sön­li­chen Pri­vat­mei­nung, solan­ge du noch höf­lich ihren Regeln folgst, denn dar­auf baut sie auf; sie schert sich nicht um dei­ne Sym­pa­thie, so sicher ist ihr ihre Herr­schaft. Das ist der so genann­te Fort­schritt gegen­über einem Unrechts­staat, dem freie Mei­nung noch als Tücke gilt, weil er den Umstand nicht begrif­fen hat, wie man­che Frei­heit hier und da, groß­mü­tig gewährt, dem eige­nen Bestehen hilft. Je län­ger die Lei­ne, des­to frei­er fühlt sich der Hund und hält sein Herr­chen für den Hei­land. Du kannst dir nun natür­lich ein­bil­den, du wür­dest Tag und Nacht ver­folgt, kannst dich zum Hel­den ver­klä­ren und einen Kämp­fer nen­nen, kannst para­no­id wer­den und dein Tele­fon nicht mehr benut­zen, kannst hin­ter jedem nur noch Staats­macht sehen, weil du glaubst, dei­ne Mei­nung wäre irgend­je­man­dem ein Dorn im Auge, doch die Wahr­heit ist: Sie ist egal, so wie es dei­nen Chef nicht im gerings­ten schert, wie sehr du dei­ne Arbeit auch ver­flu­chen magst, solan­ge du bloß jeden Mor­gen pünkt­lich bist.

Mei­nungs­äu­ße­rung allei­ne ist kein Wider­stand. Du kannst auf Demos gehen und dei­ne Mei­nung kund­tun, du kannst ganz schreck­lich radi­kal ins Inter­net schrei­ben oder Flug­zet­tel ver­tei­len und damit Leu­te über­zeu­gen, die schon längst über­zeugt sind, oder ganz ande­ren Leu­ten dei­ne Tex­te in die Hand drü­cken, die noch nicht über­zeugt sind und die sich den­ken: Ach! Die dann nach Hau­se gehen und ihr Leben wei­ter­le­ben wie bis­her, weil es sie einen Scheiß inter­es­siert, wel­che Fak­ten du ihnen ins Gesicht wirfst, denn sie haben schon ihre Mei­nung und die ist stär­ker als jeder Fakt. Es ist ein bil­dungs­bür­ger­li­ches Mär­chen, man kön­ne ande­re mit Fak­ten über­zeu­gen. Spart euch eure Fly­er, sie sind nur Umwelt­ver­schmut­zung. Es geht nicht um Fak­ten und Argu­men­te und Ratio­na­li­tät. Das ging es nie. Gin­ge es um Fak­ten, hät­ten wir eine ande­re Welt, eine schö­ne­re, für alle; Ras­sis­mus wäre kein Pro­blem, es gäbe kei­ne Into­le­ranz, Krie­ge wür­den sel­ten, Armut wäre abge­schafft, dafür über­all Frie­den, Freu­de, Eierkuchen.

Es geht nicht um Fak­ten, es geht ums Gefühl. Das ist der wah­re Klas­sen­ge­gen­satz bei uns: Auf der einen Sei­te die Klas­se derer, die sich gut füh­len, selbst wenn es ihnen schlecht geht, die posi­ti­ven Den­ker, die Ver­drän­ger, die Igno­ran­ten, die Arsch­lö­cher und Nai­ven, und auf der ande­ren Sei­te jene, die an der Welt ver­zwei­feln, die sich schlecht füh­len, selbst wenn es ihnen gut zu gehen hat. Wer sich gut fühlt, der mei­det jene, die sich schlecht füh­len, weil sie ihn anste­cken könn­ten mit ihrer schlech­ten Lau­ne, mit ihrem Welt­schmerz und ihrer nega­ti­ven Aura, die­se Mies­ma­cher, die alles ändern wol­len, die den neu­en Mit­tel­klas­se­wa­gen nicht als hei­ße Schleu­der, son­dern bloß als Umwelt­schan­de sehen, als lächer­li­ches Sta­tus­sym­bol. Das will doch kei­ner hören! Du kannst dich wohl­füh­len, selbst wenn es allen schei­ße geht, und dar­an krankt die Welt. Dann lebst du lie­ber in dei­ner wun­der­ba­ren Schaum­stoff­um­ge­bung, dei­ner Gum­mi­zel­le mit Voll­pen­si­on, anstatt dich dem Leben aus­zu­set­zen, wie es dort drau­ßen wütet, denn wüten tut es, mehr als du dir denkst. Wen inter­es­sie­ren Fak­ten, wenn du ein gutes Leben füh­ren kannst.

Nein, Mei­nungs­äu­ße­rung allei­ne ist kein Wider­stand. Die effek­tivs­te Art des Wider­stands, die alle Herr­schafts­for­men über­dau­ern wird, ist die Ver­wei­ge­rung, wenn du dich dem ver­wehrst, das Besitz von dir ergrei­fen und dein Den­ken und dein Tun bestim­men will. Schick dei­ne Kin­der nicht zur Schu­le, und man wird sie dir schleu­nigst ent­rei­ßen oder dich wenigs­tens für dei­nen Trotz bestra­fen, bis du Ein­sicht zeigst, so nen­nen sie die Kapi­tu­la­ti­on. Geh nicht arbei­ten, und man wird dich einer Zwangs­ar­beit zuwei­sen, die man flüch­tig rosa anmalt und als gut gemein­te Ein­glie­de­rungs­maß­nah­me tarnt, selbst wenn einer gar nicht ein­ge­glie­dert wer­den will, weil das Böse immer schö­ne Namen trägt und mit guten Absich­ten daher­kommt, oder aber man wird dich trie­zen, bis du zer­brichst und resi­gnierst und dir »frei­wil­lig« eine Arbeit suchst, nur um der Ernied­ri­gung zu ent­ge­hen – das gilt hier heu­te schon als Frei­heit. Geh in den Super­markt und nimm dir, was du brauchst, ohne zu bezah­len, und man wird dich dafür ankla­gen. Dei­ne Mei­nung ist kein Wider­stand, solan­ge du brav bist, unter­wür­fig, füg­sam, treu, solan­ge du arbei­ten gehst, wenn man es von dir ver­langt, solan­ge du zahlst, was die Kas­se anzeigt, solan­ge du folgst, wenn man dir befiehlt. Mei­nungs­äu­ße­rung ist ein Ven­til, das man dir zuge­steht, damit du nicht zum Wider­ständ­ler wirst, denn du darfst ja alles sagen, frei und unbe­schwert, und jeder darf es toll fin­den oder dumm oder lächer­lich oder gemein und es hat alles kei­ne Konsequenz.

Du kannst nicht gegen etwas sein und dich dann doch dar­an betei­li­gen, nicht wenn du ehr­lich mit dir sein willst. Ver­wei­gerst du aber, bist du ein Fall für Mora­lis­ten und Pädagogen­propaganda, Sozialarbeits­kollaborateure oder Therapeuten­gaslighting, Poli­ti­ker und sons­ti­ge Wider­stands­be­kämp­fer. Nur in den sel­tens­ten Fäl­len steht dir ein Poli­zist mit Schild und Schlag­stock gegen­über, die Macht hat viel sub­ti­le­re Metho­den. Du bist gestört, sagt der The­ra­peut, du bist ein Para­sit, sagt der Poli­ti­ker, du han­delst unmo­ra­lisch, sagt der Pre­di­ger, du musst doch an die Zukunft den­ken, sagt dei­ne Erzie­hung, und alle wol­len sie dich wie­der ein­glie­dern in ihre Vor­stel­lung von einem guten Leben und kei­ner begreift, war­um du dich wehrst. Ein­glie­de­rung, das ist der Punkt, und das Wort drückt es schon aus: Sei ein Glied in unse­rer For­ma­ti­on, mar­schie­re mit, sei stän­dig fro­hen Mutes. Da ste­hen sie dann, stu­dier­te und klu­ge Leu­te, und fra­gen sich Beu­len in den Kopf, wie sich einer gegen die­ses tol­le Leben auf­leh­nen kann, die­ses Leben in der Schaum­stoff­welt, in der alles herr­lich bunt ist, weich und wun­der­bar, man stößt nir­gends an, solan­ge man nur brav ist und gehorcht, sie krie­gen das nicht in ihren Schä­del rein. Sie haben stu­diert, um blöd zu wer­den, und dafür hat es sich gelohnt, sie sind kon­form, bestan­den haben sie mit Bestnote.

Rei­ne Mei­nungs­äu­ße­rung ist kein Wider­stand, nie­mand wird für sei­ne Mei­nung an die Wand gestellt, kei­ner gefol­tert, nicht hier, nicht heu­te, nicht wenn jede Mei­nung gleich­gül­tig vor­über­zieht, du bist nicht Hans und Sophie Scholl. Eine Mei­nungs­äu­ße­rung ist bloß bequem, Schaum­stoff um das toben­de Gewis­sen. Äuße­re dei­ne Mei­nung und bewei­se der Welt, vor allem aber bewei­se dir selbst: Ich habe mei­nen Unmut kund­ge­tan, ich war nicht still. Es schläft sich ruhi­ger in der Nacht, nur ändern wird es frei­lich nichts.

Wir leben ein paar Augen­bli­cke und tun so rasend wich­tig. Der eine braucht den Aus­druck »Schwer­punkt­the­ma«, der and­re spricht von »musi­ka­li­scher Umrah­mung«, der drit­te sagt: »Anfor­de­rungs­pro­fil«, und sol­che Wör­ter tönen so, als wür­den die, die sie ver­wen­den, ewig leben, und ich kann nicht begrei­fen, war­um der Mund kein Scham­teil ist. Wir leben ein paar Augen­bli­cke und ach­ten doch auf Bügel­fal­ten, und ist ein wei­ches Ei zu hart, macht man Thea­ter. Hier fehlt ein Kom­ma! sagen wir. Und wenn der Hür­li­mann nicht end­lich sei­ne Büsche stutzt! Ich steh auf Küm­mel. Nicht mein Typ. Natur­schwamm oder Kunst­stoff­schwamm? Sie wer­den mich noch ken­nen­ler­nen. Ich zie­he Schrit­te in Erwä­gung, da man beim Schwei­zer Radio die vier­te Stro­phe vie­ler Jodel­lie­der meis­tens abklemmt. Du, ist der Mei­er schwul, er trägt ein selbst­ge­strick­tes Rosa-West­chen. Wir leben ein paar Augen­bli­cke und sind so falsch, so schwatz­haft, so him­mel­schrei­end ober­fläch­lich und tun die gan­ze Zeit die Pflicht, die Pflicht und wer­den dabei schlecht und dumm und grö­len in der Frei­zeit blöd her­um und vögeln rup­pig. Wir haben Mut zu nichts und Angst vor allem, wir ste­hen zei­tig auf und tun die Pflicht und schä­men uns, wenn wir mal lie­gen blei­ben, und wären froh um eine Grip­pe. Die Eska­pa­den­freu­dig­keit nimmt ab, man denkt schon vor der Sün­de an den Kat­zen­jam­mer, uns fehlt nicht nur die Lust, uns fehlt sogar die Lust zur Lust, schon sie gilt als obs­zön, nicht aber der Ver­zicht und nicht die Pflicht und nicht die pau­sen­lo­se fei­ge Füg- und Folg­sam­keit und ihre Fol­ge, die Verblödung.
(Mar­kus Wer­ner – Froschnacht)

Arbeit ver­höhnt die Frei­heit. Offi­zi­ell kön­nen wir uns glück­lich schät­zen, von Rechts­staat und Demo­kra­tie umge­ben zu sein. Ande­re arme Unglück­li­che, die nicht so frei sind wie wir, müs­sen in Poli­zei­staa­ten leben. Die­se Opfer fol­gen Befeh­len, egal wie will­kür­lich sie sind. Die Behör­den hal­ten sie unter dau­ern­der Auf­sicht. Staats­be­am­te kon­trol­lie­ren sogar kleins­te Details ihres All­tags­le­bens. Die Büro­kra­ten, die sie her­um­schub­sen, müs­sen sich nur nach oben ver­ant­wor­ten, in öffent­li­chen wie in Pri­vat-Ange­le­gen­hei­ten. So und so wer­den Abwei­chung und Auf­leh­nung bestraft. Regel­mä­ßig lei­ten Infor­man­ten Berich­te an die Behör­den wei­ter. Das alles gilt als sehr schlecht.
Und das ist es auch, obwohl es nichts wei­ter dar­stellt als eine Beschrei­bung eines moder­nen Arbeits­plat­zes. Die Libe­ra­len und Kon­ser­va­ti­ven und Frei­heit­li­chen, die sich über Tota­li­ta­ris­mus beschwe­ren, sind Schwind­ler und Heuch­ler. (…) In einem Büro oder einer Fabrik herrscht die­sel­be Art von Hier­ar­chie und Dis­zi­plin wie in einem Klos­ter oder einem Gefäng­nis. Tat­säch­lich haben Fou­cault und ande­re gezeigt, daß Gefäng­nis­se und Fabri­ken etwa zur glei­chen Zeit auf­ka­men, und ihre Betrei­ber ent­lie­hen sich bewußt Kon­troll­tech­ni­ken von­ein­an­der. Ein Arbei­ter ist ein Teil­zeit­skla­ve. Der Chef sagt, wann es los­geht, wann gegan­gen wer­den kann und was in der Zwi­schen­zeit getan wird. Er schreibt vor, wie­viel Arbeit zu erle­di­gen ist und mit wel­chem Tem­po. Es steht ihm frei, sei­ne Kon­trol­le bis in demü­ti­gen­de Extre­me aus­zu­wei­ten, indem er fest­legt (wenn ihm danach ist), wel­che Klei­dung vor­ge­schrie­ben wird und wie oft die Toi­let­te auf­ge­sucht wer­den darf. Mit weni­gen Aus­nah­men kann er jeden aus jedem Grund feu­ern, oder auch ohne Grund. Er läßt bespit­zeln und nach­schnüf­feln, er legt Akten über jeden Ange­stell­ten an. Wider­spre­chen heißt „Unbot­mä­ßig­sein“, als wäre der Arbei­ter ein unge­zo­ge­nes Kind, und es sorgt nicht nur für sofor­ti­ge Ent­las­sung, es ver­rin­gert auch die Chan­cen auf Arbeits­lo­sen­un­ter­stüt­zung. Ohne es unbe­dingt gut­zu­hei­ßen, ist es wich­tig anzu­mer­ken, daß Kin­der zu Hau­se und in der Schu­le die glei­che Behand­lung erfah­ren, bei ihnen durch die ange­nom­me­ne Unrei­fe gerecht­fer­tigt. Was sagt uns das über ihre Eltern und Leh­rer, die arbeiten?
(Bob Black – Die Abschaf­fung der Arbeit; im Ori­gi­nal: The Aboli­ti­on of Work)

One of the most inspi­ra­tio­nal spee­ches in recor­ded histo­ry was given by a come­di­an by the name of Char­lie Chaplin:

The Grea­test Speech Ever Made auf YouTube

So lan­ge ich zurück­den­ken kann, war ich noch nie­mals rich­tig glück­lich. Es liegt nicht an per­sön­li­chen Eitel­kei­ten, dass es so ist, wie es ist. Mei­ne Kind­heit war erfüllt und ich übte bis vor kur­zem einen ange­se­he­nen Beruf aus, der es mir ermög­lich­te, ein gutes Leben zu füh­ren, zumin­dest mate­ri­ell. Ich bin emo­tio­nal gut aus­ge­gli­chen, wie man es wohl aus­drü­cken wür­de, und kann mich in Lie­bes­din­gen nicht all­zu viel beschwe­ren. Den­noch hat es da in mei­nem Leben schon immer ande­re Ein­flüs­se gege­ben, Inter­fe­ren­zen sozu­sa­gen, Stör­fak­to­ren, die es mir unmög­lich mach­ten, mit die­sem Leben wirk­lich glück­lich zu sein. Es kommt mir vor, als blick­te ich durch trü­bes Glas, das mir den gan­zen schö­nen Aus­blick rui­niert. Ich habe mich hin und wie­der glück­lich gewähnt, doch ich war es nicht. Die Welt, die mich umgibt, drückt wie ein Stein im Schuh, der jeden noch so klei­nen Schritt mit Schmer­zen unter­legt. Es ist der Zustand die­ser Welt, der stö­rend auf mein Leben ein­wirkt, der Stein im Schuh, das trü­be Glas, das die­ses Leben uner­träg­lich wer­den lässt. Jede per­sön­li­che Freu­de wird zur Far­ce, wenn sie von Unglück umge­ben ist. Wie führt man ein gutes Leben in einer schlech­ten Welt?

Ich habe schon vor lan­ger Zeit damit auf­ge­hört, ande­ren Men­schen von mei­nem Unbe­ha­gen zu erzäh­len, denn ihre Ant­wor­ten sind immer gleich: »Das Leben ist kein Wunsch­kon­zert«, sagen sie, oder: »Es ist nun mal so«, sie mei­ßeln Phra­sen in die Welt wie: »Ande­ren geht es viel schlech­ter« und »Nimm’s nicht so schwer«, sie ant­wor­ten nicht ernst­haft, sie geben nur wie­der. Als wür­de das irgend­et­was ändern, stel­len sie Sprü­che in den Raum und wol­len damit Trost spen­den oder abspei­sen, das eine kommt dem ande­ren gleich, denn es sind sinn­lo­se, inhalts­lee­re Sät­ze. »Hau doch ab, wenn es dir hier nicht gefällt«, legen sie mir unmiss­ver­ständ­lich nahe, ein ums ande­re Mal, doch wo ist es bes­ser, fra­ge ich mich dann.

Sie mei­nen, ich müs­se nur end­lich erwach­sen wer­den und mich ein­fach bloß zusam­men­rei­ßen, müs­se begrei­fen, dass all das nor­mal ist, wor­über ich beun­ru­higt bin. Ihnen fällt über­haupt nicht auf, wie oft sie »man muss« und wie sel­ten sie »ich will« ver­wen­den. Sie ver­lan­gen Dis­zi­plin, doch ich möch­te nie­man­des Skla­ve sein, nicht ein­mal mein eige­ner, oder viel­mehr schon gar nicht. Sie wer­fen mir unauf­hör­lich vor, ich käme nicht zurecht mit die­ser Welt. Sie sagen, ich sei depres­siv und krank, als wäre es ein Aus­druck der geis­ti­gen Gesund­heit, an kran­ke Ver­hält­nis­se gut ange­passt zu sein. Sie möch­ten mich behan­deln, mich nor­ma­li­sie­ren, mich wie­der ein­glie­dern in die­se Welt, mit der ich mei­nen Frie­den schlie­ßen soll, doch wenn sie Frie­den sagen, mei­nen sie bloß Kapi­tu­la­ti­on. Sie wol­len, dass ich ver­leug­ne, wie ich mich wirk­lich füh­le, sie möch­ten mein Unbe­ha­gen in einen Kas­ten sper­ren und die­sen dann irgend­wo ver­sen­ken, auf dass er für immer ver­schwun­den bleibt. Sie drän­gen mich dazu, mein inne­res Leben auf­zu­ge­ben, um am äuße­ren zu par­ti­zi­pie­ren. Ich soll es jenen recht machen, die mich als Men­schen negie­ren. Aber bin ich wirk­lich krank? Bin ich krank, weil ich aus dem her­aus­fal­le, was sie allen Erns­tes als nor­mal bezeichnen?

Es gilt als Aus­druck von Nor­ma­li­tät, sich bereit­wil­lig in eine Gesell­schaft ein­zu­fü­gen, die sys­te­ma­tisch ihre Grund­la­gen zer­stört und die sich um das Wohl­erge­hen ihrer Insas­sen nicht son­der­lich schert. Es ist nor­mal, dass wir mehr Geld und Krea­ti­vi­tät in Waf­fen oder gegen­sei­ti­ge Abschre­ckung inves­tie­ren als in Bil­dung und Kul­tur, weil wir uns so sehr bemü­hen, das Gegen­ein­an­der zu opti­mie­ren, wäh­rend das Für­ein­an­der brach­liegt. Es ist nor­mal, dass die­je­ni­gen, die Krie­ge vom Zaun bre­chen und ihre Mit­men­schen wie wert­lo­sen Dreck behan­deln, als Mäch­ti­ge in den Par­la­men­ten und Auf­sichts­rä­ten sit­zen, in unse­ren Regie­run­gen und wich­ti­gen Ent­schei­dungs­gre­mi­en. Wir sto­ßen uns nicht dar­an, dass Wis­sen aus wirt­schaft­li­chen Grün­den unter Ver­schluss gehal­ten wird, anstatt es zum Woh­le der All­ge­mein­heit offen zur Ver­fü­gung zu stel­len, und wir neh­men es anstands­los hin, uns Geset­zen beu­gen zu müs­sen, von denen nur weni­ge pro­fi­tie­ren, weil wir es anders nie­mals ken­nen­ge­lernt haben. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, auch nur ansatz­wei­se von Ver­schwen­dung zu reden, wenn so vie­le der klügs­ten Köp­fe ihre kost­ba­re Zeit damit ver­brin­gen, nutz­lo­se Din­ge zu ver­kau­fen, die weder benö­tigt noch begehrt wer­den, in Beru­fen, die jeden Tag aufs Neue dazu bei­tra­gen, die Welt ein klei­nes biss­chen destruk­ti­ver zu gestal­ten. Es ist uns egal, dass die einen ster­ben, wäh­rend die ande­ren an die­sem Tod ver­die­nen, so wie wir uns auch gleich­mü­tig dar­an gewöhnt haben, Nah­rung zu uns zu neh­men, die uns ver­gif­tet und lang­sam umbringt, solan­ge das für den Her­stel­ler bedeu­tet, ein wenig güns­ti­ger pro­du­zie­ren zu können.

Unser gesam­tes Leben, unse­re Plä­ne und noch die sehn­suchts­volls­ten Träu­me unter­wer­fen wir einem stän­di­gen Zwang, dem sich alles bedin­gungs­los unter­zu­ord­nen hat, doch es stellt für uns kei­ner­lei Wider­spruch dar, wenn wir die­se tota­le Dis­zi­pli­nie­rung dann als höchs­te Form der Unab­hän­gig­keit begrei­fen, als Aus­druck eines selbst­be­stimm­ten Daseins. Wir neh­men sinn­lo­se, see­len­zer­mür­ben­de Jobs an, die wir has­sen und in denen wir uns auf­rei­ben, weil es für uns nichts Unge­wöhn­li­ches ist, dass nur die­je­ni­gen über­le­ben dür­fen, die auch bereit sind, dafür zu arbei­ten, wäh­rend Tau­sen­de täg­lich ver­hun­gern, die ein­fach nur zu arm sind, um sich ihre Mahl­zei­ten über­haupt leis­ten zu kön­nen. Wir defi­nie­ren uns so ehr­gei­zig über die will­kür­lich fest­ge­leg­ten Zah­len, die am Ende des Monats auf unse­rem Kon­to vor­zu­fin­den sind, dass es für uns nicht wirk­lich besorg­nis­er­re­gend ist, wenn eine Hand­voll Men­schen mehr besit­zen kön­nen als der gan­ze gro­ße Rest der Welt; eine Welt, in der ein Leben nur so viel wert ist, wie es erwirt­schaf­ten kann. Zufrie­den­heit, Freu­de und Glück wer­den abhän­gig gemacht von objek­ti­vis­ti­schen Kate­go­rien: mehr haben, mehr kön­nen, mehr sein als ande­re, in einer quan­ti­fi­zier­ba­ren Art und Wei­se, sich dadurch schließ­lich bes­ser, grö­ßer, mäch­ti­ger zu füh­len als sie, wird zum Maß­stab der eige­nen Per­sön­lich­keit, zum Sinn­ge­ber in einer glo­ba­len Konkurrenz.

Jeden Tag neh­men wir bil­li­gend in Kauf, dass für über­flüs­si­gen Luxus unwi­der­ruf­li­cher Scha­den an Umwelt und Ande­ren ent­steht, ohne auch nur einen ernst­haf­ten Gedan­ken dar­an zu ver­schwen­den, wel­che öko­lo­gi­schen und sozia­len Fol­gen unser Han­deln hat. Es ist all­täg­li­che Rou­ti­ne gewor­den, dass Men­schen ster­ben oder wie schwers­te Ver­bre­cher behan­delt wer­den, bloß weil sie den ver­zwei­fel­ten Ver­such wagen, von einem Stück­chen Land zu einem ande­ren zu gelan­gen. Wir bau­en Zäu­ne um uns her­um, damit uns die ande­ren nicht zu nahe kom­men, wir gren­zen uns ab, schlie­ßen uns ein und haben Angst vor­ein­an­der, aber wir sehen dar­in nichts Außer­ge­wöhn­li­ches, es ist uns kein Grund zur Sor­ge. Die Nor­ma­li­tät die­ser Zustän­de, die für mehr und mehr Men­schen nur noch mit Psy­cho­phar­ma­ka zu ver­kraf­ten sind, beun­ru­higt uns nicht. Die­se gan­ze Kata­stro­phe, die uns jeden Tag umgibt, sie betrifft uns zwar, aber sie berührt uns nicht. Wir gehen teil­nahms­los unse­ren Tages­ge­schäf­ten nach, denn das alles ent­hält für uns kei­ne Bot­schaft, außer jener der Selbst­ver­ständ­lich­keit. Wir wis­sen genau dar­über Bescheid und obwohl wir etwas unter­neh­men könn­ten, ändert sich nichts.

Es gibt noch so vie­les, mit dem ich mich genau­so wenig abfin­den kann und auch nicht abfin­den möch­te, zu vie­les, um es auf­zu­zäh­len, weil es jeden Ver­such einer Auf­zäh­lung spren­gen wür­de; die­se gan­zen Nor­ma­li­tä­ten einer fremd­ar­ti­gen Welt, die für mich nicht nor­mal, noch weni­ger lebens­wert ist.

Seit jeher wird an mich die Erwar­tung her­an­ge­tra­gen, ein Teil des­sen zu wer­den, was mir zuwi­der ist, mich ein­zu­glie­dern in eine Welt, die alle Ein­ge­glie­der­ten ver­schlingt. Viel zu häu­fig litt ich unter Alb­träu­men und bin schweiß­ge­ba­det auf­ge­wacht, noch viel häu­fi­ger habe ich erst gar nicht ein­schla­fen kön­nen, weil ich mir aus­mal­te, wie es mit mei­nem Leben wei­ter­ge­hen wür­de in die­ser Welt: Für den Rest mei­ner Tage müss­te ich so gut wie jeden Mor­gen auf­ste­hen, um mit vor­ge­täusch­ter Frei­wil­lig­keit der glei­chen, unbe­deu­ten­den Beschäf­ti­gung nach­zu­ge­hen, was letz­ten Endes doch bloß heißt, das am Leben zu erhal­ten, was alles Leben­di­ge unter sich erdrückt. Mit etwas Glück hät­te ich am Abend ein paar Stun­den die­ser so genann­ten Frei­zeit, die es mir erlau­ben wür­den, mich von mei­nem Arbeits­tag zu erho­len, so wie man den Sol­da­ten ins Laza­rett bringt, nicht aus Nächs­ten­lie­be, son­dern damit er wie­der kämp­fen kann, also wür­de ich ein wenig ein­kau­fen, fern­se­hen, mich betrin­ken oder was man eben macht in jener Zeit, die noch zum Leben übrig­ge­blie­ben ist, doch in der Regel bloß ver­fliegt, dann gin­ge ich schla­fen und alles begän­ne am nächs­ten Tag von vorn. Macht das ein Leben aus?

Wenn ich ehr­lich mit mir sein möch­te, kann und darf ich das nicht Leben nen­nen, obwohl ich mit die­sem trost­lo­sen Schick­sal noch zu den weni­gen Pri­vi­le­gier­ten auf die­sem Pla­ne­ten gehö­ren wür­de, zu jenen, denen es gut zu gehen hat, weil es dem Groß­teil noch viel schlech­ter geht. Ich reagier­te auf die­se Bedro­hung mit Angst­zu­stän­den und Ner­ven­zu­sam­men­brü­chen, ich war regel­mä­ßig panisch und ich wer­de es noch heu­te, wenn ich mir vor­stel­le, dass ich auf die­se Art in die­ser Welt den Rest mei­nes Daseins ver­brin­gen müss­te, oder wenn schon nicht den Rest, dann wenigs­tens den größ­ten Teil. Mein Leben war von Anfang an ein­ge­teilt, fest­ge­legt, geplant; es war nicht vor­ge­se­hen, dass man mich jemals dazu ange­hört hät­te, was ich denn von alle­dem hal­te, das man mir zumu­ten wür­de. Nie­mand hat je gefragt, ob ich damit glück­lich oder auch nur ein­ver­stan­den bin, weil es nie­man­den interessiert.

All das ist nor­mal. Das sind die Nor­men, an denen ich gemes­sen wer­den soll. »So ist eben das Leben«, wird mir immer wie­der weis­ge­macht, und als ›das Leben‹ bezeich­nen sie eine gewalt­sam auf­recht­erhal­te­ne Ord­nung der Welt. Ich woll­te so nicht leben, will so nicht leben, nicht in die­ser Welt, das ist nicht mein Ent­wurf für ein gelun­ge­nes Dasein. Ich sehe nicht die gerings­te Moti­va­ti­on für den Ver­such, mich als pro­duk­ti­ves Mit­glied in die­se Gesell­schaft ein­zu­glie­dern, und ich habe erst­recht kein Inter­es­se dar­an, mich ein­glie­dern zu las­sen, weil ich mit allem, was sie aus­macht, grund­le­gend unein­ver­stan­den bin. Jeden Tag den­ke ich, ich muss hier raus, muss mich aus die­sem Gefäng­nis irgend­wie befrei­en. Je mehr ich die­se Welt begrei­fe, des­to weni­ger möch­te ich dar­in leben, je mehr ich ihre Abläu­fe ver­ste­he, des­to weni­ger möch­te ich dar­an betei­ligt sein. Wie kann man sich den Zustand der Welt betrach­ten und den­noch glück­lich sein?

Der Wahn­sinn liegt in der Nor­ma­li­tät, die für all die­se Zustän­de gleich­gül­tig in Anspruch genom­men wird. Wir alle tra­gen als Kom­pli­zen dazu bei, mit jedem Tag, an dem wir es hin­neh­men, das Destruk­ti­ve als nor­mal zu begrei­fen, denn die Ord­nung der Welt hält unse­re Köp­fe besetzt. Wir sagen Frei­heit und wir mei­nen damit, uns zwi­schen vor­ge­ge­be­nen Alter­na­ti­ven ent­schei­den zu dür­fen. Wir sagen Sicher­heit und wir haben dabei im Sinn, einen lang­fris­ti­gen Arbeits­platz zu fin­den. Wir sagen Glück und wir stel­len uns dar­un­ter vor, im Lot­to zu gewin­nen oder in einer Prü­fung erfolg­reich zu sein. Unse­re Spra­che und unse­re Sehn­süch­te haben sich den Zwän­gen ange­passt, weil sie uns stän­dig als Nor­ma­li­tä­ten vor­ge­hal­ten wer­den, von Insti­tu­tio­nen, Poli­ti­kern, The­ra­peu­ten, Eltern und letz­ten Endes allen, die immer noch glau­ben, die­se Nor­ma­li­tä­ten sei­en nor­mal. Ich bin nicht krank. Krank ist die­se Welt und was mich dar­an depri­miert, nein, melan­cho­lisch wer­den lässt, das ist die Tat­sa­che, dass den­noch ich es bin, der all­ge­mein für krank gehal­ten wird, weil ich mit die­ser ach so wun­der­ba­ren Welt nicht klar­kom­me, mit ihr auch gar nicht klar­kom­men möch­te. Die objek­ti­ven Zustän­de wer­den nicht bes­ser, bloß weil ich ler­ne, damit umzu­ge­hen; es ist ja gera­de die­ses Klar­kom­men, das dem Bestehen­den zum Fort­be­stand ver­hilft. Wer also hat nun Recht? Wer von uns ist krank? Liegt es an mir, wenn ich mich unbe­hag­lich fühle?

Tag um Tag muss­te ich es mir anhö­ren, immer und immer wie­der: »Hau doch ab« und »Wan­der doch aus«, »Werd end­lich erwach­sen« und »Gewöhn dich dran«, »Reiß dich zusam­men« oder »Bring dich doch um«. Frü­her oder spä­ter fand noch jede Dis­kus­si­on, all die mit Wor­ten geführ­ten Frei­heits­kämp­fe, ihr Ende an die­sem einen Punkt, mit einem die­ser Sät­ze. Jedes Mal, wenn ich Ein­spruch erhob gegen die Nor­ma­li­tä­ten die­ser Welt, wenn ich Beschwer­de führ­te gegen jene Zustän­de, mit denen ich nicht leben will, wenn ich Vor­gän­ge kri­ti­sier­te oder wenn ich Nach­rich­ten las und zum Aus­druck brach­te, dass ich mit dem, was geschieht, nicht ein­ver­stan­den bin, waren die Ant­wor­ten immer gleich, die Phra­sen wie ein­stu­diert. Wie viel Zwang wirkt auf einen Men­schen, um sol­che Sät­ze zu formulieren?

Wäh­rend es frü­her schnell hieß: »Dann geh doch nach drü­ben«, heißt es heu­te: »Dann wan­der doch aus«, oder noch schlim­mer, aber ehr­li­cher: »Dann bring dich doch um«. Ich jedoch hän­ge an mei­nem Leben, ich genie­ße es, so gut es mir die Umstän­de erlau­ben. Ich suche mir Frei­räu­me, Schlupf­lö­cher und Hin­ter­tü­ren, die mir ein wenig Luft zum Atmen bie­ten. Es ist nicht mein Leben, das mir Sor­gen berei­tet, son­dern die Welt um mich her­um, das Kor­sett, in das mein Leben hier gesteckt wer­den soll. Was mich bedrückt, ist nicht das Dasein, weder mei­nes noch all­ge­mein, son­dern viel­mehr der Rah­men, in dem es sich wie­der­fin­den muss, jener Zustand der Welt, in den es sich anstands­los ein­zu­bet­ten hat und den ich nicht ver­schul­det habe, es sind die so genann­ten Frei­hei­ten, die mir wie allen ande­ren auf­dring­lich ange­bo­ten wer­den, die aber kei­ne ernst­zu­neh­men­den Frei­hei­ten sind.

Was sagt das über einen Zustand aus, über die­sen Zustand, wenn dir die­je­ni­gen, die ihn so vehe­ment ver­tei­di­gen, als Alter­na­ti­ve nichts wei­ter anzu­bie­ten haben als den Tod? Geh unter oder füge dich, die Wahl ist Kol­laps oder Kol­la­bo­ra­ti­on, also betrach­te ich die­se Men­schen mit einer wach­sen­den Distanz, als wären sie Gehil­fen einer feind­se­li­gen Besat­zungs­macht. Selbst noch, wenn ich ratio­na­le Grün­de prä­sen­tie­re, war­um ich mich in die­se Welt nicht ein­fü­gen möch­te, war­um ich mich an ihren Abläu­fen nicht betei­li­gen will, wer­de ich des unver­nünf­ti­gen Ver­hal­tens beschul­digt, als hät­te man den Maß­stab ein­fach umge­kehrt. »Reiß dich zusam­men«, lau­tet das dau­ern­de Dik­tat, und sie begrei­fen den Befehl als Tugend, wie sie das wohl auch dem Schnor­rer in der Fuß­gän­ger­zo­ne ant­wor­ten wür­den, der sie bloß nach etwas Klein­geld fragt, doch wenn der sich letzt­lich für Ver­wei­ge­rung und gegen Kapi­tu­la­ti­on ent­schei­det, so ist mir des­sen Kon­se­quenz alle­mal sym­pa­thi­scher als der erho­be­ne Zei­ge­fin­ger der­je­ni­gen, die mir erzäh­len wol­len, das Pro­blem sei eine Fra­ge mei­ner eige­nen Befind­lich­keit. Ich füh­le mich ein­sam, wenn ich unter sol­chen Men­schen bin. Kraft Geburt erhielt ich das Recht, ich selbst zu sein, doch seit­dem wird es mir auf die­se Art verwehrt.

Mit jedem zusätz­li­chen Wort lie­ßen mich die­se und ähn­li­che Ant­wor­ten ein klei­nes biss­chen unglück­li­cher wer­den, bis ich mich schließ­lich auf die Suche nach etwas Ande­rem begab, nach einem schö­ne­ren und glück­li­che­ren Leben in einer schö­ne­ren und glück­li­che­ren Welt. Trotz all des Hohns und der stän­di­gen Ent­mu­ti­gun­gen habe ich etwas Bes­se­res gefun­den als den Tod, etwas Hoff­nungs­vol­le­res als Kapi­tu­la­ti­on. Etwas, das sich all jene, die mir der­ar­ti­ge Ant­wor­ten geben oder so genann­te Rat­schlä­ge ertei­len, nie­mals hät­ten träu­men las­sen. Etwas, das sogar ich selbst vor weni­gen Mona­ten noch für nahe­zu unmög­lich gehal­ten hät­te. Ohne viel Gepäck ver­schwand ich eines ganz nor­ma­len Tages aus dem, was ich bis dahin mein Leben genannt hat­te, ich ging fort, ohne gro­ße Rei­se­plä­ne zu schmie­den, und ließ ein für alle Mal zurück, was mich schon viel zu lan­ge unglück­lich gemacht hat­te. Ich fand einen Ort, an dem die Men­schen anders sind, Men­schen, denen es ähn­lich geht wie mir. Ich schloss mich ihnen an, hier fand ich mei­ne Heimat.

Wo ich nun lebe, gibt es kei­ne Armut, weil jeder ein­zel­ne von uns im Reich­tum schwimmt, denn wir haben uns gegen­sei­tig und alles Not­wen­di­ge, das man zum Leben wirk­lich braucht. Es gibt kei­ne zwei­hun­dert Fern­seh­pro­gram­me, kei­ne teu­ren Sport­wa­gen und kei­ne gol­de­nen Was­ser­häh­ne, dafür aber Soli­da­ri­tät, Ver­trau­en und Frei­heit; kei­nen mate­ri­el­len Über­fluss, jedoch auch kei­nen Ver­zicht. Wir haben hier kein Geld, kein Gehalt, weil wir es nicht brau­chen, und wir beu­gen uns kei­nen Herr­schern, weil wir nicht län­ger Beherrsch­te sein möch­ten. Wir ken­nen kei­ne Arbeits­lo­sig­keit, kei­nen Ter­ro­ris­mus und kei­ne Para­noia. Nie­mand wird zu sei­nem Tun gezwun­gen, kei­ner muss sich einem ande­ren irgend­wie unter­ord­nen, es gibt weder Chefs noch Hier­ar­chien, es wer­den kei­ne Befeh­le gege­ben und kein Gehor­sam ver­langt. Wir sind Glei­che unter Glei­chen. Es exis­tiert kein Mili­tär, kei­ne Poli­zei, nie­mand baut Mau­ern und Zäu­ne um sich her­um. Wir gehen auf­ein­an­der zu, anstatt uns gegen­sei­tig die Schä­del ein­zu­schla­gen, tref­fen Ent­schei­dun­gen, indem wir alle gleich­be­rech­tigt dar­in ein­be­zie­hen, wir haben Mit­ge­fühl und zei­gen den gebüh­ren­den Respekt, sowohl im Umgang mit­ein­an­der als auch gegen­über dem, was uns umgibt. Wir neh­men uns so viel wir brau­chen, aber wir zer­stö­ren nicht, wir beu­ten nicht aus, weder uns selbst noch das, wovon wir leben. Das Unwohl­sein über die Nor­ma­li­tä­ten jener Welt, die wir alle­samt zurück­lie­ßen, die Dis­kre­panz zwi­schen Sehn­sucht und Wirk­lich­keit, die­se Span­nung zwi­schen dem, was ist, und den eige­nen Gefüh­len, wird hier nicht als Krank­heit emp­fun­den. Hier bin ich glück­lich. Hier. Endlich.

„Wir ste­hen vor einem Rät­sel“, erklär­te der jun­ge Arzt im Kreis sei­ner Kol­le­gen. „Kein Wort, kei­ne ein­zi­ge Reak­ti­on. Seit Mona­ten ist er in die­sem Zustand, obwohl wir kei­ne neu­ro­lo­gi­sche Ursa­che fest­stel­len kön­nen. Im Gegen­teil. Die Akti­vi­tät in sei­nem Gehirn ist bemerkenswert.“

Es ist so uner­hört lächer­lich, daß alle die Län­der, die von sich behaup­te­ten, sie sei­en die frei­es­ten Län­der, in Wahr­heit ihren Bewoh­nern die gerings­te Frei­heit gewäh­ren und sie das gan­ze Leben hin­durch unter Vor­mund­schaft hal­ten. Ver­däch­tig ist jedes Land, wo soviel von Frei­heit gere­det wird, die angeb­lich inner­halb sei­ner Gren­zen zu fin­den sei. Und wenn ich bei einer Ein­fahrt in den Hafen eines gro­ßen Lan­des eine Rie­sen­sta­tue der Frei­heit sehe, so braucht mir nie­mand zu erzäh­len, was hin­ter der Sta­tue los ist. Wo man so laut schrei­en muß: Wir sind ein Volk von frei­en Men­schen!, da will man nur die Tat­sa­che ver­de­cken, daß die Frei­heit vor die Hun­de gegan­gen ist oder daß sie von Hun­dert­tau­sen­den von Geset­zen, Ver­ord­nun­gen, Ver­fü­gun­gen, Anwei­sun­gen, Rege­lun­gen und Poli­zei­knüp­peln so abge­nagt wor­den ist, daß nur noch das Geschrei, das Fan­fa­ren­ge­schmet­ter und die Frei­heits­göt­tin­nen übrig­ge­blie­ben sind.
(B. Tra­ven – Das Totenschiff)

What should I do about the wild and the tame? The wild heart that wants to be free, and the tame heart that wants to come home. I want to be held. I don’t want you to come too clo­se. I want you to scoop me up and bring me home at nights. I don’t want to tell you whe­re I am. I want to keep a place among the rocks whe­re no one can find me. I want to be with you.
(Jea­nette Win­ter­son – Lighthousekeeping)

Nie­mand soll­te jemals arbeiten.
Arbeit ist die Ursa­che nahe­zu allen Elends in der Welt. Fast jedes erdenk­li­che Übel geht aufs Arbei­ten oder auf eine fürs Arbei­ten ein­ge­rich­te­te Welt zurück. Um das Lei­den zu been­den, müs­sen wir auf­hö­ren zu arbeiten.
Das bedeu­tet nicht, daß wir auf­hö­ren soll­ten, Din­ge zu tun. Viel­mehr soll­ten wir eine neue Lebens­wei­se schaf­fen, der das Spie­len zugrun­de­liegt; sozu­sa­gen eine spie­le­ri­sche Revolution.
Spie­le­ri­sches Leben ist völ­lig inkom­pa­ti­bel zur bestehen­den Wirk­lich­keit. Das sagt alles über die „Wirk­lich­keit“, das Schwer­kraft­loch, das dem Weni­gen im Leben, das es noch vom blo­ßen Über­le­ben unter­schei­det, die Lebens­kraft absaugt. Selt­sa­mer­wei­se – oder viel­leicht auch nicht – sind alle alten Ideo­lo­gien kon­ser­va­tiv, weil sie an die Arbeit glauben.
Die Libe­ra­len for­dern ein Ende der Dis­kri­mi­nie­rung auf dem Arbeits­markt. Ich for­de­re ein Ende des Arbeits­mark­tes. Die Kon­ser­va­ti­ven unter­stüt­zen das Recht auf Arbeit. Mit Karl Marx‘ eigen­sin­ni­gem Schwie­ger­sohn Paul Lafar­gue unter­stüt­ze ich das „Recht auf Faul­heit“. So wie die Sur­rea­lis­ten – abge­se­hen davon, daß ich es ernst mei­ne – for­de­re ich vol­le Arbeits­lo­sig­keit. Die Trotz­kis­ten agi­tie­ren für die per­ma­nen­te Revo­lu­ti­on. Ich agi­tie­re für per­ma­nen­tes Fei­ern. Aber wenn alle Ideo­lo­gen die Arbeit ver­tei­di­gen, was sie ja tun, und das nicht nur, weil sie ande­re dazu brin­gen wol­len, ihren Teil mit­zu­ma­chen, geben sie es doch ungern zu. Sie füh­ren end­lo­se Debat­ten über Löh­ne, Arbeits­stun­den, Arbeits­be­din­gun­gen, Aus­beu­tung, Pro­duk­ti­vi­tät und Gewinn­chan­cen. Sie reden gern über alles – außer über die Arbeit selbst. Die­se Exper­ten, die sich anbie­ten, uns das Den­ken abzu­neh­men, tei­len sel­ten ihre Erkennt­nis­se über die Arbeit mit uns, trotz der Bedeu­tung für unser aller Leben. Unter­ein­an­der strei­ten sie sich ein biß­chen über die Ein­zel­hei­ten. (…) All die­se Ideo­lo­gen haben erns­te Dif­fe­ren­zen über die Ver­tei­lung der Macht. Genau­so klar ist, daß sie der Macht als sol­cher nicht wider­spre­chen und daß sie uns alle am Arbei­ten hal­ten wollen.
Die Ent­wür­di­gung, die die meis­ten Arbei­ten­den bei ihren Jobs erle­ben, ent­springt der Sum­me der ver­schie­dens­ten Demü­ti­gun­gen, die unter dem Begriff „Dis­zi­plin“ zusam­men­ge­faßt wer­den kön­nen. Fou­cault hat die­ses Phä­no­men kom­ple­xer dar­ge­stellt, aber es ist eigent­lich ganz ein­fach. Dis­zi­plin besteht aus der Abso­lut­heit der tota­li­tä­ren Kon­trol­le am Arbeits­platz – Über­wa­chung, Fließ­band, vor­ge­ge­be­nes Arbeits­tem­po, Pro­duk­ti­ons­zif­fern, Stech­uhr usw. Dis­zi­plin ist das, was Fabrik, Büro und Geschäft mit dem Gefäng­nis, der Schu­le und dem Irren­haus gemein haben. Es ist etwas his­to­risch Ein­zig­ar­ti­ges und Furcht­ba­res. Es über­stieg die Fähig­kei­ten solch teuf­li­scher Dik­ta­to­ren wie wei­land Nero oder Dschin­gis Khan oder Iwan des Schreck­li­chen. So schlecht ihre Absich­ten auch gewe­sen sein mögen, ihnen fehl­te die Maschi­ne­rie, um ihre Unter­ta­nen so gründ­lich zu kon­trol­lie­ren, wie es moder­ne Des­po­ten ver­mö­gen. Dis­zi­plin ist die cha­rak­te­ris­tisch moder­ne Funk­ti­ons­wei­se der gesell­schaft­li­chen Kon­trol­le, es ist ein inno­va­ti­ves Ein­trich­tern, gegen das bei der ers­ten sich bie­ten­den Gele­gen­heit ein­ge­schrit­ten wer­den muß.
So steht es mit der Arbeit. Spie­len ist das gera­de Gegen­teil. Spie­len ist immer frei­wil­lig. Was ansons­ten Spiel wäre, wird zur Arbeit, sobald es erzwun­gen wird.
Wir haben jetzt die Mög­lich­keit, die Arbeit abzu­schaf­fen und den not­wen­di­gen Anteil Arbeit durch eine Viel­falt an neu­en frei­en Akti­vi­tä­ten zu erset­zen. Die Abschaf­fung der Arbeit erfor­dert eine Annä­he­rung von zwei Sei­ten, einer quan­ti­ta­ti­ven und einer qua­li­ta­ti­ven. Auf der einen, der quan­ti­ta­ti­ven Sei­te, müs­sen wir die Men­ge geleis­te­ter Arbeit mas­siv redu­zie­ren. Gegen­wär­tig ist die meis­te Arbeit ein­fach nutz­los und wir soll­ten sie los­wer­den. Auf der ande­ren Sei­te – und ich den­ke, die­se qua­li­ta­ti­ve Annä­he­rung ist der Knack­punkt und der wirk­lich revo­lu­tio­nä­re Auf­bruch – müs­sen wir die weni­ge nutz­brin­gen­de Arbeit in ver­schie­dens­te spie­le­ri­sche und hand­werk­li­che Freu­den ver­wan­deln, nicht unter­scheid­bar von ande­ren freud­vol­len Tätig­kei­ten, außer dadurch, daß sie neben­bei nütz­li­che End­pro­duk­te her­vor­brin­gen. Das soll­te sie aber kei­nes­falls weni­ger ver­lo­ckend machen. In der Fol­ge könn­ten alle künst­li­chen Schran­ken von Macht und Besitz fal­len. Schöp­fung wäre nicht mehr Erschöp­fung. Und wir könn­ten alle auf­hö­ren, vor­ein­an­der Angst zu haben.
Ich unter­stel­le nicht, daß die­se Ver­wand­lung bei jeder Art von Arbeit mög­lich ist. Aber dann ist die meis­te Arbeit auch nicht wert, erhal­ten zu wer­den. Nur ein klei­ner und sich noch ver­klei­nern­der Aus­schnitt der Arbeits­welt dient letzt­lich einem Zweck, den nicht erst die Ver­tei­di­gung und Repro­duk­ti­on des Arbeits­sys­tems und sei­ner poli­ti­schen und recht­li­chen Anhäng­sel nötig machen (…): die meis­te Arbeit dient direkt oder indi­rekt der wirt­schaft­li­chen oder sozia­len Kon­trol­le. Es wäre also ein­fach so mög­lich, Mil­lio­nen von Ver­käu­fern, Sol­da­ten, Mana­gern, Poli­zis­ten, Bör­sia­nern, Pries­tern, Ban­kiers, Anwäl­ten, Leh­rern, Ver­mie­tern, Wachen und Wer­be­leu­ten von der Arbeit zu befrei­en, nebst allen, die für sie arbeiten.
(Bob Black – Die Abschaf­fung der Arbeit; im Ori­gi­nal: The Aboli­ti­on of Work)

Seit Jah­ren schon möch­te ich ein Buch über etwas schrei­ben, das mir sehr am Her­zen liegt. Oder wenigs­tens ein PDF mit vie­len Sei­ten. Der Ursprung die­ses Wun­sches liegt in mitt­ler­wei­le schon nicht mehr fass­ba­rer Ver­gan­gen­heit, doch einen ernst­haf­ten Anfang mach­te die­ser Gedan­ke dann erst zum Ende mei­ner Schul­zei­ten, aber bis heu­te habe ich mit die­sem Vor­ha­ben kei­ne gro­ßen Fort­schrit­te erzielt. Ideen kom­men und gehen und das Kon­zept wächst unauf­hör­lich, trotz­dem schaf­fen es nur die sel­tens­ten die­ser Ideen als aus­for­mu­lier­te Sät­ze, Abschnit­te oder gar Sei­ten aufs elek­tro­ni­sche Papier. Warum?

Vie­le Din­ge spie­len eine Rol­le. Die übli­chen Ver­däch­ti­gen natür­lich: man­geln­de Zeit, Faul­heit, nagen­der Per­fek­tio­nis­mus und die Angst vor dem ers­ten Ent­wurf, der nie über­zeugt. Eini­ge davon – wahr­schein­lich die meis­ten – mögen Aus­re­den sein, das ist sicher, doch sind all das gene­rell Grün­de, mit denen umge­gan­gen, denen begeg­net wer­den kann. Es sind Stei­ne auf dem Weg, die weg­zu­räu­men nicht das Pro­blem ist, wenn man weiß, dass man den Weg unbe­dingt gehen möchte.

Der Haupt­grund aller­dings, der mich dar­an hin­dert, irgend­wie sinn­voll mit mei­nem Text vor­an­zu­kom­men, liegt in der Zukunft. Es sind all die Din­ge, die in mei­nem Kopf als gro­ßes Muss auf mich zukom­men: Ich muss Haus­ar­bei­ten machen, ich muss Refe­ra­te vor­be­rei­ten, ich muss für Prü­fun­gen ler­nen (obwohl ich noch nie für Prü­fun­gen gelernt habe). Es ist dabei nicht der Zeit­auf­wand an sich, der für die­se Din­ge jeweils auf­ge­bracht wer­den muss, denn er lässt mir genug Spiel­raum für Frei­zeit, son­dern es sind die Din­ge als sol­che, in denen ich kei­nen per­sön­li­chen Sinn sehe, die das Pro­blem darstellen.

Frei­zeit bedeu­tet nicht gleich­zei­tig freie Zeit. Wenn in den Semes­ter­fe­ri­en alle Haus­ar­bei­ten hin­ter mir lie­gen, kei­ne Klau­su­ren anste­hen und auch das kom­men­de Semes­ter im Ide­al­fall noch eini­ge Wochen ent­fernt liegt, ist das nur Frei­zeit, aber kei­ne freie Zeit. Im Hin­ter­kopf ist mir stets das stö­ren­de Wis­sen all­ge­gen­wär­tig, dass ich bald, wenn die­se kur­ze Pha­se der Frei­zeit ver­gan­gen sein wird, wie­der neue Refe­ra­te wer­de vor­be­rei­ten müs­sen. Wenn die Refe­ra­te vor­be­rei­tet und gehal­ten wur­den, fol­gen die dazu­ge­hö­ri­gen Haus­ar­bei­ten, nach den Haus­ar­bei­ten fol­gen neue Refe­ra­te. Wenn irgend­wann Refe­ra­te und Haus­ar­bei­ten ein­mal vor­bei sind, ste­hen Diplom­ar­beit und Diplom­prü­fung bereits vor der Tür. Danach Bewer­bun­gen, Vor­stel­lungs­ge­sprä­che, Ein­ar­bei­tung, Arbeits­all­tag. Jede die­ser neu­en Stu­fen ist von lächer­li­chen Bestä­ti­gun­gen irgend­wel­cher Instan­zen bezeich­net: eine bestan­de­ne Klau­sur oder Prü­fung, eine Note, eine gut­ge­hei­ße­ne Arbeit, der Abschluss eines Pro­jekts, die Ver­set­zung in ein ande­res Be(s)tätigungsfeld.

All die­ses Müs­sen hängt in mei­nem Kopf stän­dig unbe­wusst über allem ande­ren, wie ein Rau­schen im Radio, das einem die Musik ver­dirbt. Wenn ich Frei­zeit habe, ver­geu­de ich sie mit irgend­wel­chen Seri­en oder Spie­len, räu­me auf oder um, wid­me mich ganz gene­rell dem so genann­ten Amü­se­ment und Enter­tain­ment, um mich von einem Muss zum nächs­ten zu han­geln und die Zeit dazwi­schen tot­zu­schla­gen, in der Hoff­nung auf ein Ende die­ses Muss-Kreis­laufs. Doch immer wie­der erscheint irgend­wo eine neue Stu­fe. Para­ly­se. Nie bekom­me ich es hin, mich end­lich mit dem zu beschäf­ti­gen, womit ich mich schon so lan­ge beschäf­ti­gen möch­te und was mir zudem so sehr am Her­zen liegt. Hin­zu kommt die Eigen­schaft all die­ser Neben­schau­plät­ze – Haus­ar­bei­ten, Refe­ra­te, Bewer­bun­gen und so wei­ter -, eine der­art gro­ße Men­ge an Auf­merk­sam­keit für sich zu bean­spru­chen, dass ein effek­ti­ves und unge­stör­tes Kon­zen­trie­ren auf das, was mir eigent­lich wirk­lich wich­tig ist, gar nicht mög­lich ist.

Mei­ne letz­te freie Zeit, die nicht nur als Frei­zeit bezeich­net wer­den kann, genoss ich direkt nach dem Abitur, als noch völ­lig offen war, ob ich Zivil­dienst wür­de leis­ten müs­sen oder nicht und wie es danach wei­ter­ge­hen wür­de. Die­se Zeit, in der nicht klar war, wel­ches Muss als nächs­tes und wann auf­tre­ten wür­de, in der es kei­nen fest gere­gel­ten Ablauf für die Zukunft gab, kei­ne struk­tu­rier­ten Plä­ne, kei­ne star­ren Schie­nen, auf denen alles ziel­ge­rich­tet dahin­rollt, war gleich­zei­tig die produktivste.

Was wir brau­chen, ist freie Zeit, die nicht bloß Frei­zeit ist.