Schlagwortarchiv für: Gesellschaft

Der politische Aktivist sollte nicht jemand sein, der Plakate klebt oder vorgeformte Parolen verbreitet. Es sollte jemand sein, der seine Sprache spricht, um etwas zu sagen, und der dies dann auch sagt. Der sich ausdrückt und der sich dafür einsetzt, daß Bedürfnisse ausgedrückt werden. Und es muß jemand sein, der das was er sagt, das was er tut und das was man ihn tun läßt, selbst in der Hand hat.
(Pierre Bourdieu – Politik, Bildung und Sprache, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)

Mit Messern kann man sich verletzen, daher soll man sie vermeiden; Türklinken sind tatsächlich mit Bakterien bedeckt. Wer weiß, ob man mitten im Symphoniekonzert nicht doch plötzlich auf die Toilette muß, oder ob man das Schloß beim Nachprüfen nicht irrtümlich aufgeschlossen hat? Der Vernünftige vermeidet daher scharfe Messer, öffnet Türen mit dem Ellbogen, geht nicht ins Konzert und überzeugt sich fünfmal, daß die Tür wirklich abgesperrt ist. Voraussetzung ist allerdings, daß man das Problem nicht langsam aus den Augen verliert. Die folgende Geschichte zeigt, wie man das vermeiden kann:

Eine alte Jungfer, die am Flußufer wohnt, beschwert sich bei der Polizei über die kleinen Jungen, die vor ihrem Haus nackt baden. Der Inspektor schickt einen seiner Leute hin, der den Bengeln aufträgt, nicht vor dem Haus, sondern weiter flußaufwärts zu schwimmen, wo keine Häuser mehr sind. Am nächsten Tage ruft die Dame erneut an: Die Jungen sind immer noch in Sichtweite. Der Polizist geht hin und schickt sie noch weiter flußaufwärts. Tags darauf kommt die Entrüstete erneut zum Inspektor und beschwert sich: »Von meinem Dachbodenfenster aus kann ich sie mit dem Fernglas immer noch sehen!«

Man kann sich nun fragen: Was macht die Dame, wenn die kleinen Jungen nun endgültig außer Sichtweite sind? Vielleicht begibt sie sich jetzt auf lange Spaziergänge flußaufwärts, vielleicht genügt ihr die Sicherheit, daß irgendwo nackt gebadet wird. Eines scheint sicher: Die Idee wird sie weiterhin beschäftigen. Und das Wichtigste an einer so fest gehegten Idee ist, daß sie ihre eigene Wirklichkeit erschaffen kann.
(Paul Watzlawick – Anleitung zum Unglücklichsein)

In den Gesellschaften, die keinen »self-regulating market« (Karl Polanyi), kein Unterrichtssystem und keinen juristischen oder staatlichen Apparat aufweisen, können sich die Herrschaftsbeziehungen, da sie nicht den objektiven Strukturen selbst eingeschrieben sind, nur kraft ständig erneuerter und fortwährend angewandter Strategien auf Dauer durchsetzen. Solange solche relativ autonomen objektiven Beziehungsfelder der Konkurrenz um das Monopol einer bestimmten Kapitalform sich noch nicht konstituiert haben, fehlen die Bedingungen für die mittelbare und dauerhafte Aneignung der Arbeit, der Dienste und Ehrenbezeugungen anderer Individuen. (…) Sehr schematisch vorgehend könnte man sagen, daß in dem einen Fall sich die Herrschaftsbeziehungen innerhalb und durch die Interaktion der Handlungssubjekte bilden, auflösen und wiederherstellen, wohingegen sie in dem anderen Fall durch objektive und institutionalisierte Mechanismen vermittelt werden, die, nach Art jener, die den Wert der schulischen, monetären und Standestitel hervorbringen und absichern, den undurchdringlichen und beständigen Charakter von Dingen aufweisen und die sich gleichermaßen den Zugriffen des individuellen Bewußtseins wie der individuellen Macht entziehen. (…) Unter solchen Bedingungen bilden und vollziehen sich die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse nicht mehr unmittelbar zwischen Einzelpersonen, sondern, im Raum der Objektivität selbst, zwischen Institutionen, d.h. zwischen sozial garantierten Titeln und sozial definierten Stellungen, sowie, vermittels dieser, zwischen sozialen Mechanismen, die den gesellschaftlichen Wert der Titel und Stellungen erzeugen und absichern, und der Verteilung dieser sozialen Attribute auf die biologischen Einzelwesen. (…)  Wie zu sehen ist, kommt die Legitimation der herrschenden Ordnung nicht allein den Mechanismen zu, die, wie das Recht, traditionellerweise dem ideologischen System zugerechnet werden. Auch solche Apparaturen wie das Produktionssystem oder das System der Produktion von Produzenten [also das Bildungssystem] erfüllen darüber hinaus, d.h. gerade kraft der Logik ihres Funktionsablaufs, ideologische Funktionen. (…) Je mehr die Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse objektiven Mechanismen überlassen wird, die den Herrschenden dienen, ohne daß diese sich ihrer zu bedienen brauchen, desto indirekter und, wenn man so sagen darf, unpersönlicher werden die auf die Reproduktion ausgerichteten Strategien: Indem der Inhaber ökonomischen oder kulturellen Kapitals für sein Geld die günstigste Anlage und für seinen Sohn die vorteilhafteste, die beste, Ausbildungsstätte wählt – und nicht, indem er gegenüber seiner Aufwartefrau (oder einem anderen, innerhalb der Sozialstruktur eine untergeordnete Stellung einnehmenden Individuum) höflich oder freundlich ist und großzügige Geschenke macht –, sichert er den Fortbestand der Herrschaftsbeziehung, die ihn objektiv mit seiner Aufwartefrau und selbst noch deren Nachkommen verbindet.
(Pierre Bourdieu – Symbolisches Kapital und Herrschaftsformen, in: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft)

Das Gegenteil von Arbeit ist nicht bloß Faulheit. (…) So sehr ich das Vergnügen der Trägheit schätze, ist sie doch wohl am lohnendsten, wenn sie anderen Genuß und Zeitvertreib unterbricht. Genausowenig werbe ich für das gelenkte und zeitlich festgelegte Notventil namens „Freizeit“; nichts läge mir ferner. Freizeit ist Nicht-Arbeit zum Nutzen der Arbeit. Freizeit ist die Zeit, die man damit verbringt, sich von der Arbeit zu erholen und verzweifelt zu versuchen, die Arbeit zu vergessen. Viele Leute kommen aus den Ferien so zerschlagen wieder, daß sie sich darauf freuen, wieder arbeiten zu gehen. Der wesentliche Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit besteht darin, daß man bei der Arbeit wenigstens für die Entfremdung und Entnervung bezahlt wird. (…)
Tun wir mal für einen Moment so, als würde Arbeit aus Leuten keine verblödeten Untertanen machen. Tun wir auch so, entgegen jeder nachvollziehbaren Psychologie und der Ideologie ihrer Förderer, daß sie keinen Effekt auf die Charakterbildung hat. Und tun wir so, als wäre Arbeit nicht so langweilig und ermüdend und entwürdigend, wie sie es ist. Auch dann würde sie alle humanistischen und demokratischen Bemühungen verspotten, einfach weil sie so viel Zeit beansprucht. Sokrates beharrte, daß Handarbeiter schlechte Freunde und schlechte Staatsbürger abgäben, da ihnen die Zeit mangele, die Verantwortlichkeiten einer Freundschaft und ihrer Staatsbürgerschaft auszufüllen. Er hatte Recht. Wegen der Arbeit schauen wir dauernd auf die Uhr. Das einzig „freie“ an der sogenannten Freizeit ist, daß sie den Boss von der Lohnfortzahlung befreit. Die Freizeit wird hauptsächlich genutzt, um sich auf die Arbeit vorzubereiten, zur Arbeit zu gehen, von der Arbeit zu kommen und sich von ihr zu erholen. Freizeit ist ein Euphemismus für die besondere Art, mit der die Arbeitskraft als ein Produktionsfaktor nicht nur sich selbst zum und vom Arbeitsplatz transportiert, sondern auch die Hauptverantwortung für die eigene Versorgung und Wiederherstellung übernimmt.
(Bob Black – Die Abschaffung der Arbeit; im Original: The Abolition of Work)

Was hätten die Komik, die Satire und das Kabarett doch für Möglichkeiten; Möglichkeiten, die Masken von den Gesichtern zu reißen! Doch nichts dergleichen geschieht! Die Masken bleiben Tarnung, die Machthaber und ihre kruden Ideen, Vorhaben und Reformen scheinen unantastbar. Wie Weiß Ferdl tappen sie zaghaft an politischen Bekenntnissen vorbei, betreiben Albernheiten statt Komik, Beleidigungen statt entwaffnendes Narrenrecht, welches es erlauben würde, den Herrschenden jede Wahrheit an den Kopf zu werfen – und dabei sind sie auch noch wahre Publikumshelden. Bloß nicht mit denen anecken, die sich wehren können!, lautet deren Devise. Haut auf die Schwachen, verprügelt die Arbeitslosen, thematisiert Trivialitäten – und wenn es doch unbedingt politisch sein muß, dann witzelt über Frisuren und Brillengestelle, Sprachfehler und – sofern man ein Bad-Boy-Image zu pflegen hat – Behinderungen!
(Roberto J. De Lapuente)

Der Erfolg der »Realisten« beruht nicht nur auf ihrer Kunst, sich als Führer unentbehrlich zu machen, sondern auch auf der Natur des Gehorsams jener, die solche Führer benötigen, um ihr Selbst abgeben zu können. Deren Bedürfnis nach Anpassung richtet ihr gesamtes Sein danach aus, daß sie Regeln erfüllen. Sie hängen an den Buchstaben des Gesetzes und der Verordnungen und zerstören so die Realität unserer Gefühlswelt. Auf diese Weise brauchen sie ihre eigenen zerstörerischen Impulse nicht zu erkennen. Sie finden oft ihren Ort in der Bürokratie, wo sie im Namen von Gesetz und Ordnung Gefühle niederwalzen und sich selbst dabei völlig im Recht fühlen können.
Diese Konformisten sind die Fußsoldaten der psyopathischen Führernaturen und helfen ihnen, die Welt in den Abgrund zu treiben. Diese Kollaboration erst macht die Lage so bedrohlich. 1940 schrieb ein Beamter des deutschen Justizministeriums an seinen Minister im Hinblick auf die Euthanasie, daß dieser doch seinen ganzen Einfluß geltend machen solle, um endlich dem gesetzlosen Töten von Geisteskranken und Behinderten eine gesetzliche Basis zu geben. Die Ehre der gesamten Justiz stehe auf dem Spiel.
Das Gewissen bedeutet hier nichts, einzig die Gewissenhaftigkeit, wie Roland Kirbach diese Haltung bitter kommentierte. Die Bereitschaft, die Regeln höher zu achten als das Leben, macht die unheilige Allianz von Konformist und Psychopath möglich.
(Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität)

Viele Intellektuelle tun so, als würden sie glauben, oder glauben wirklich, daß ich gegen die Demokratie Position beziehe, wenn ich sage, die öffentliche Meinung existiert nicht, die Umfragen sind gefährlich. Weil, sagen sie, die Umfragen darin bestehen, die Leute zu beraten, und was gibt es demokratischeres? In Wirklichkeit sehen sie überhaupt nicht, daß die Umfrage kein Instrument demokratischer Beratung, sondern ein Instrument rationaler Demagogie ist. Die Demagogie besteht darin, die Triebe, die Erwartungen, die Leidenschaften sehr gut zu kennen, um sie zu manipulieren oder ganz einfach, um sie zu registrieren, sie zu bestätigen, was das Schlimmste sein kann (man denke nur an die Todesstrafe oder den Rassismus). Die Sozialwissenschaften werden oft als Herrschaftsinstrument benutzt.
(Pierre Bourdieu – Was anfangen mit der Soziologie?, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)

Der [soziale] Raum, das sind hier die Spielregeln, denen sich jeder Spieler beugen muß. Vor sich haben die Spieler verschiedenfarbige Chips aufgestapelt, Ausbeute der vorangegangenen Runden. Die unterschiedlich gefärbten Chips stellen unterschiedliche Arten von Kapital dar: Es gibt Spieler mit viel ökonomischem Kapital, wenig kulturellem und wenig sozialem Kapital. Die sind in meinem Raumschema rechts angesiedelt, auf der herrschenden, ökonomisch herrschenden Seite. Am anderen Ende sitzen welche mit einem hohen Stapel kulturellem Kapital, einem kleinen oder mittleren Stapel ökonomischem Kapital und geringem sozialen Kapital: das sind die Intellektuellen. Und jeder spielt entsprechend der Höhe seiner Chips. Wer einen großen Stapel hat, kann bluffen, kann gewagter spielen, risikoreicher. Mit anderen Worten: Die Spielsituation ändert sich fortwährend, aber das Spiel bleibt bestehen, wie auch die Spielregeln. Die Frage ist nun: Gibt es Leute, die daran Interesse haben, den Tisch umzuwerfen und damit dem Spiel ein Ende zu machen? Das kommt wohl sehr selten vor. Ich frage mich, ob das überhaupt jemals der Fall war. Was stattfindet, das sind Auseinandersetzungen darum, ob ein Chip »ökonomisches Kapital« wirklich drei Chips »kulturelles Kapital« wert ist.
In meinen Augen sind viele Revolutionen ausschließlich Revolutionen innerhalb der herrschenden Klasse, d.h. in jenen Kreisen, die Chips besitzen und die auch mal auf die Barrikaden steigen, damit ihre Chips an Wert gewinnen.
(Pierre Bourdieu – Die feinen Unterschiede, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)

Den Karren von meiner Hand in die seine wechselnd, erzählte er mir eine lustige Geschichte über den ersten Schubkarren, den er je gesehen. Das war in Sag Harbor. Die Eigner des Schiffes, so scheint es, hatten ihm einen geliehen, um seine schwere Tasche in sein Logierhaus zu schaffen. Um, was dieses Ding betrifft, nicht unwissend zu erscheinen – obgleich er, was die genaue Weise angeht, wie der Karren zu handhaben sei, das in Wahrheit vollkommen war -, packt Queequeg seine Tasche darauf; verschnürt sie feste; und schultert dann die Karre und schreitet den Pier hinauf. »Na«, sagte ich, »Queequeg, das hättest du besser wissen können, sollte man meinen. Haben die Leute nicht gelacht?«
Daraufhin erzählte er mir eine weitere Geschichte. Die Leute seiner Insel Kokovoko pressen, so scheint es, die wohlriechende Flüssigkeit junger Kokosnüsse in eine große gefärbte Kalebasse, wie eine Punschbowle; und diese Punschbowle bildet auf der geflochtenen Matte, wo das Fest abgehalten wird, immer das große Schaustück im Mittelpunkt. Nun kam einmal ein bestimmtes stattliches Handelsschiff in Kokovoko an, und dessen Kommandant – soweit berichtet wird, ein sehr vornehmer, pingeliger Herr, wenigstens für einen Kapitän zur See -, dieser Kommandant wurde zum Hochzeitsfest von Queequegs Schwester eingeladen, einer hübschen jungen Prinzessin, die gerade zehn geworden. Nun ja; als alle Hochzeitsgäste in der Bambushütte der Braut versammelt waren, marschiert dieser Kapitän herein, und alldieweil man ihm den Ehrenplatz zugewiesen, nimmt er Platz drüben, der Punschbowle gegenüber, und zwischen dem Hohepriester und Seiner Majestät dem König, Queequegs Vater. Sobald das Tischgebet gesprochen – denn auch diese Leute haben ihr Tischgebet ebenso wie wir – obwohl Queequeg mir erzählte, daß im Gegensatz zu uns, die wir bei solchen Gelegenheiten niederblicken auf unsere Servierplatten, sie ganz im Gegenteil, es den Enten nachmachend, aufwärts blicken zu dem großen Spender aller Feste -, sobald, wollte ich sagen, das Tischgebet gesprochen, eröffnet der Hohepriester das Bankett mit der uralten Zeremonie der Insel; das heißt, er tunkt seine geweihten und weihenden Finger in die Bowle, bevor das gesegnete Getränk die Runde macht. Wie er sich gleich neben dem Priester placiert sieht und der Zeremonie folgt und sich – als Kapitän eines Schiffes – im klaren Vorrecht gegenüber einem bloßen Inselkönig dünkt, insonderheit in des Königs eigenem Hause – macht er sich ganz kühl daran, seine Hände in der Punschbowle zu waschen; – die er, wie ich annehme, als eine riesige Fingerschale angesehen. »Nun«, sagte Queequeg, »was du jetz denk? – Haben unsere Leute nicht gelacht?«
(Herman Melville – Moby Dick)

Here was a man who, if he wanted, could spend every waking moment in self-pity, feeling his body for decay, counting his breaths. So many people with far smaller problems are so self-absorbed, their eyes glaze over if you speak for more than thirty seconds. They already have something else in mind – a friend to call, a fax to send, a lover they’re daydreaming about. They only snap back to full attention when you finish talking, at which point they say “Uh-huh” or “Yeah, really” and fake their way back to the moment. (…) We are great at small talk: “What do you do?” “Where do you live?” But really listening to someone – without trying to sell them something, pick them up, recruit them, or get some kind of status in return – how often do we get this anymore? I believe many visitors in the last few months of Morrie’s life were drawn not because of the attention they wanted to pay to him but because of the attention he paid to them. Despite his personal pain and decay, this little old man listened the way they always wanted someone to listen.
(Mitch Albom – Tuesdays with Morrie)