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Was heißt das, »in der Wahr­heit leben«? Eine nega­ti­ve Defi­ni­ti­on ist ein­fach: es heißt, nicht zu lügen, sich nicht zu ver­ste­cken, nichts zu ver­heim­li­chen. Seit Franz Sabi­na kennt, lebt er in der Lüge. Er erzählt sei­ner Frau von einem Kon­greß in Ams­ter­dam, der nie statt­ge­fun­den, von Vor­le­sun­gen in Madrid, die er nie gehal­ten hat, und er hat Angst, mit Sabi­na in den Stra­ßen von Genf spa­zie­ren­zu­ge­hen. Es amü­siert ihn, zu lügen und sich zu ver­ste­cken, denn er hat es sonst nie getan. Er ist dabei ange­nehm auf­ge­regt, wie ein Klas­sen­pri­mus, der beschließt, end­lich ein­mal die Schu­le zu schwänzen.
Für Sabi­na ist »in der Wahr­heit leben«, weder sich selbst noch ande­re zu belü­gen, nur unter der Vor­aus­set­zung mög­lich, daß man ohne Publi­kum lebt. Von dem Moment an, wo jemand unse­rem Tun zuschaut, pas­sen wir uns wohl oder übel den Augen an, die uns beob­ach­ten, und alles, was wir tun, wird unwahr. Ein Publi­kum zu haben, an ein Publi­kum zu den­ken, heißt, in der Lüge zu leben. Sabi­na ver­ach­tet die Lite­ra­tur, in der ein Autor alle Inti­mi­tä­ten über sich und sei­ne Freun­de ver­rät. Wer sei­ne Inti­mi­tät ver­liert, der hat alles ver­lo­ren, denkt Sabi­na. Und wer frei­wil­lig dar­auf ver­zich­tet, der ist ein Mons­trum. Dar­um lei­det Sabi­na nicht im gerings­ten dar­un­ter, daß sie ihre Lie­be ver­heim­li­chen muß. Im Gegen­teil, nur so kann sie »in der Wahr­heit leben«.
Franz dage­gen ist über­zeugt, daß in der Tren­nung des Lebens in eine pri­va­te und eine öffent­li­che Sphä­re die Quel­le aller Lügen liegt: Man ist ein ande­rer im Pri­vat­le­ben als in der Öffent­lich­keit. »In der Wahr­heit leben« bedeu­tet für ihn, die Bar­rie­re zwi­schen Pri­vat und Öffent­lich­keit nie­der­zu­rei­ßen. Er zitiert gern den Satz von André Bre­ton, der besagt, daß er gern »in einem Glas­haus« gelebt hät­te, »wo es kei­ne Geheim­nis­se gibt und das allen Bli­cken offensteht«.
(Milan Kun­de­ra – Die uner­träg­li­che Leich­tig­keit des Seins)

I read the first chap­ter of A Brief Histo­ry of Time when Dad was still ali­ve, and I got incre­di­bly hea­vy boots about how rela­tively insi­gni­fi­cant life is, and how, com­pared to the uni­ver­se and com­pared to time, it did­n’t even mat­ter if I exis­ted at all. When Dad was tuck­ing me in that night and we were tal­king about the book, I asked if he could think of a solu­ti­on to that pro­blem. „Which pro­blem?“ „The pro­blem of how rela­tively insi­gni­fi­cant we are.“ He said, „Well, what would hap­pen if a pla­ne drop­ped you in the midd­le of the Saha­ra Desert and you picked up a sin­gle grain of sand with tweezers and moved it one mil­li­me­ter?“ I said, „I’d pro­ba­b­ly die of dehy­dra­ti­on.“ He said, „I just mean right then, when you moved that sin­gle grain of sand. What would that mean?“ I said, „I dun­no, what?“ He said, „Think about it.“ I thought about it. „I guess I would have moved a grain of sand.“ „Which would mean?“ „Which would mean I moved a grain of sand?“ „Which would mean you chan­ged the Saha­ra.“ „So?“ „So? So the Saha­ra is a vast desert. And it has exis­ted for mil­li­ons of years. And you chan­ged it!“ „That’s true!“ I said, sit­ting up. „I chan­ged the Saha­ra!“ „Which means?“ he said. „What? Tell me.“ „Well, I’m not tal­king about pain­ting the Mona Lisa or curing can­cer. I’m just tal­king about moving that one grain of sand one mil­li­me­ter.“ „Yeah?“ „If you had­n’t done it, human histo­ry would have been one way…“ „Uh-huh?“ „But you did do it, so…?“ I stood in the bed, poin­ted my fin­gers at the fake stars, and screa­med: „I chan­ged the cour­se of human histo­ry!“ „That’s right.“ „I chan­ged the uni­ver­se!“ „You did.“ „I’m God!“ „You’­re an athe­ist.“ „I don’t exist!“ I fell back onto the bed, into his arms, and we cra­cked up together.
(Jona­than Safran Foer – Extre­me­ly Loud & Incre­di­bly Close)

Unse­re Mei­nung, dass wir das ande­re ken­nen, ist das Ende der Lie­be, jedes­mal, aber Ursa­che und Wir­kung lie­gen viel­leicht anders, als wir anzu­neh­men ver­sucht sind – nicht weil wir das ande­re ken­nen, geht unse­re Lie­be zu Ende, son­dern umge­kehrt: weil unse­re Lie­be zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, dar­um ist der Mensch fer­tig für uns. Er muß es sein. Wir kön­nen nicht mehr! Wir kün­di­gen ihm die Bereit­schaft, auf wei­te­re Ver­wand­lun­gen ein­zu­ge­hen. Wir ver­wei­gern ihm den Anspruch alles Leben­di­gen, das unfaß­bar bleibt, und zugleich sind wir ver­wun­dert und ent­täuscht, dass unser Ver­hält­nis nicht mehr leben­dig sei. „Du bist nicht“, sagt der Ent­täusch­te oder die Ent­täusch­te, „wofür ich dich gehal­ten habe“. Und wofür hat man sich denn gehal­ten? Für ein Geheim­nis, das der Mensch ja immer­hin ist, ein erre­gen­des Rät­sel, das aus­zu­hal­ten wir müde gewor­den sind. Man macht sich ein Bild­nis. Das ist das Lieb­lo­se, der Verrat.
(Max Frisch – Tage­buch 1946–1949)

Die Trau­er ist das eine. Das ande­re ist der Ein­tritt in eine Sphä­re des Ver­lusts. Anders gesagt: Der Ver­lust ist das eine, das ande­re aber ist, ihn dau­ern zu sehen und zu wis­sen, wie er über­dau­ern wird: Nicht im Medi­um des Schmer­zes und nicht als Kla­ge, nicht ein­mal expres­siv, son­dern sach­lich, als gra­du­el­le Ver­schie­bung der Erlebnisintensität.
Man könn­te auch sagen: Etwas Rela­ti­ves tritt ein. Was kommt, misst sich an die­sem Erle­ben und geht gleich­falls durch den Knacks. Es ist der nega­ti­ve Kon­junk­tiv: Etwas ist schön, wäre da nicht… Es tritt ein Moment ein, in dem alles auch das eige­ne Gegen­teil ist. Als kämen, auf die Spit­ze getrie­ben, die Din­ge unmit­tel­bar aus dem Tod und müss­ten sich im Leben erst behaup­ten und bewähren.
(…)
Viel­leicht wird jemand sagen, die­ser eine Ver­lust sei ein Kon­trast­mit­tel. In der Kon­fron­ta­ti­on mit ihm wirk­ten die Far­ben der Welt nun leuch­ten­der, als sei das Dau­ern­de durch die Begeg­nung mit dem Ver­gäng­li­chen noch wun­der­ba­rer. Es ist die Dia­lek­tik der Sonn­tags­re­de. Als müss­te man dem eige­nen Leben nur Ver­lus­te zufüh­ren und wür­de gleich des­sen froh, was man hat. Nein, man kann ganz gut unter­schei­den zwi­schen der Schlap­pe, dem Unglück, dem Schei­tern, der Ein­bu­ße, dem Ver­lust, der über­wun­den wer­den kann. Man kann ja in man­chem Ver­lust die­sen selbst nicht ein­mal füh­len, son­dern möch­te lachen: über die Pan­to­mi­me des Tra­gö­den, über das Stumm­film-Pathos der Trau­er. Man wird dar­über hin­weg­kom­men, über die Trau­er und über das Geläch­ter, das sie weckte.
Aber der Knacks ist etwas ande­res, über ihn kommt man nicht hin­weg. Er ist ein Schub, meist bewegt er sich laut­los und unmerk­lich. Erst im Rück­blick kann man sagen: Dann war nichts mehr wie zuvor. Eine post­hu­me Per­spek­ti­ve, die des Pas­sé. Die Far­ben neh­men jetzt Pati­na an, die Genüs­se büßen ihre Fri­sche ein, die Erfah­rung wählt einen fla­chen Ein­falls­win­kel, sie kommt eher ver­mit­telt, wie durch eine Mem­bran gegan­gen. Das Leben wech­selt die Sphä­re, es reift, es altert, und irgend­wann ist zum ers­ten Mal das Gefühl da, über­haupt ein eige­nes Alter zu haben, das heißt, es füh­len zu können.
(Roger Wil­lem­sen – Der Knacks)

Mr. Black said, „I once went to report on a vil­la­ge in Rus­sia, a com­mu­ni­ty of artists who were forced to flee the cities! I’d heard that pain­tings hung ever­y­whe­re! I heard you could­n’t see the walls through all of the pain­tings! They’d pain­ted the cei­lings, the pla­tes, the win­dows, the lamp­sha­des! Was it an act of rebel­li­on! An act of expres­si­on! Were the pain­tings good, or was that bes­i­de the point! I nee­ded to see it for mys­elf, and I nee­ded to tell the world about it! I used to live for report­ing like that! Sta­lin found out about the com­mu­ni­ty and sent his thugs in, just a few days befo­re I got the­re, to break all of their arms! That was worse than kil­ling them! It was a hor­ri­ble sight, Oskar: their arms in cru­de splints, straight in front of them like zom­bies! They could­n’t feed them­sel­ves, becau­se they could­n’t get their hands to their mouths! So you know what they did!“ „They star­ved?“ „They fed each other! That’s the dif­fe­rence bet­ween hea­ven and hell! In hell we star­ve! In hea­ven we feed each other!“ „I don’t belie­ve in the after­li­fe.“ „Neither do I, but I belie­ve in the story!“
(Jona­than Safran Foer – Extre­me­ly Loud & Incre­di­bly Close)

Let me tell you a sto­ry, the Dial went on. The house that your gre­at-gre­at-gre­at-grand­mo­ther and I moved into when we first beca­me mar­ried loo­ked out onto the small falls (…). It had wood flo­ors, long win­dows, and enough room for a lar­ge fami­ly. It was a hand­so­me house. A good house.
But the water, your gre­at-gre­at-gre­at-grand­mo­ther said, I can’t hear mys­elf think.
Time, I urged her. Give it time.
And let me tell you, while the house was unre­ason­ab­ly humid, and the front lawn per­pe­tu­al mud from all the spray, while the walls nee­ded to be repa­pe­red every six months, and chips of paint fell from the cei­ling like snow for all sea­sons, what they say about peo­p­le who live next to water­falls is true.
What
, my grand­fa­ther asked, do they say?
They say that peo­p­le who live next to water­falls don’t hear the water.
They say that?
They do. Of cour­se, your gre­at-gre­at-gre­at-grand­mo­ther was right. It was ter­ri­ble at first. We could­n’t stand to be in the house for more than a few hours at a time. The first two weeks were fil­led with nights of inter­mit­tent sleep and quar­re­ling for the sake of being heard over the water. We fought so much just to remind our­sel­ves that we were in love, and not in hate.
But the next weeks were a litt­le bet­ter. It was pos­si­ble to sleep a few good hours each night and eat in only mild dis­com­fort. Your gre­at-gre­at-gre­at-grand­mo­ther still cur­sed the water (who­se per­so­ni­fi­ca­ti­on had beco­me ana­to­mic­al­ly refi­ned), but less fre­quent­ly, and with less fury. Her attacks on me also quie­ted. It’s your fault, she would say. You wan­ted to live here.
Life con­tin­ued, as life con­ti­nues, and time pas­sed, as time pas­ses, and after a litt­le more than two months: Do you hear that? I asked her on one of the rare mor­nings we sat at the table tog­e­ther. Hear it? I put down my cof­fee and rose from my chair. You hear that thing?
What thing? she asked.
Exact­ly! I said, run­ning out­side to pump my fist at the water­fall. Exactly!
We danced, thro­wing handfuls of water in the air, hea­ring not­hing at all. We alter­na­ted hugs of for­gi­ve­ness and shouts of human tri­umph at the water. Who wins the day? Who wins the day, water­fall? We do! We do!
And this is what living next to a water­fall is like, Safran. Every widow wakes one mor­ning, per­haps after years of pure and unwa­ve­ring grie­ving, to rea­li­ze she slept a good night’s sleep, and will be able to eat break­fast, and does­n’t hear her husband’s ghost all the time, but only some of the time. Her grief is repla­ced with a useful sad­ness. Every parent who loses a child finds a way to laugh again. The tim­bre beg­ins to fade. The edge dulls. The hurt les­sens. Every love is car­ved from loss. Mine was. Yours is. Your great-great-great-grandchildren’s will be. But we learn to live in that love.

(Jona­than Safran Foer – Ever­y­thing is Illuminated)

Unser All­tag wird von Zufäl­len bom­bar­diert, genau­er gesagt, von zufäl­li­gen Begeg­nun­gen zwi­schen Men­schen und Ereig­nis­sen, die man Koin­zi­den­zen nennt. Man spricht von Ko-inzi­denz, wenn zwei uner­war­te­te Ereig­nis­se gleich­zei­tig statt­fin­den, wenn sie auf­ein­an­der­tref­fen: Tomas taucht in dem Moment im Lokal auf, als im Radio Beet­ho­ven gesen­det wird. Sol­che Koin­zi­den­zen sind so häu­fig, daß man sie oft nicht wahr­nimmt. Hät­te der Metz­ger von neben­an am Wirts­haus­tisch geses­sen und nicht Tomas, so wäre Tere­sa nicht auf­ge­fal­len, daß im Radio Beet­ho­ven gespielt wur­de (obwohl die Begeg­nung zwi­schen Beet­ho­ven und einem Metz­ger auch eine inter­es­san­te Koin­zi­denz ist). Aber die kei­men­de Lie­be hat in Tere­sa den Sinn für das Schö­ne geschärft, und sie wird die­se Musik nie ver­ges­sen. Jedes­mal, wenn sie sie hören wird, wird sie ergrif­fen sein. Alles, was in die­sem Augen­blick um sie her­um vor sich gehen wird, wird ihr im Glanz die­ser Musik erschei­nen und schön sein.
Am Anfang jenes Romans, den sie unter dem Arm trug, als sie zu Tomas kam, begeg­nen sich Anna und Wron­ski unter eigen­ar­ti­gen Umstän­den. Sie ste­hen auf einem Bahn­steig, wo gera­de jemand unter den Zug gefal­len ist. Am Ende des Romans stürzt sich Anna unter den Zug. Die­se sym­me­tri­sche Kom­po­si­ti­on, in der das­sel­be Motiv am Anfang und am Ende erscheint, mag Ihnen sehr ›roman­haft‹ vor­kom­men. Ja, ich gebe es zu, aber nur unter der Vor­aus­set­zung, daß Sie das Wort ›roman­haft‹ auf kei­nen Fall ver­ste­hen als ›erfun­den‹, ›künst­lich‹ oder ›lebens­fremd‹. Denn genau­so ist das mensch­li­che Leben komponiert.
Es ist kom­po­niert wie ein Musik­stück. Der Mensch, der vom Schön­heits­sinn gelei­tet ist, ver­wan­delt ein zufäl­li­ges Ereig­nis (eine Musik von Beet­ho­ven, einen Tod auf einem Bahn­hof) in ein Motiv, das er der Par­ti­tur sei­nes Lebens ein­be­schreibt. Er nimmt es wie­der auf, wie­der­holt es, vari­iert und ent­wi­ckelt es wei­ter, wie ein Kom­po­nist die The­men sei­ner Sona­te trans­po­niert. Anna hät­te sich das Leben auch anders neh­men kön­nen. Doch das Motiv von Bahn­hof und Tod, die­ses unver­geß­li­che, mit der Geburt ihrer Lie­be ver­bun­de­ne Motiv, zog sie im Moment der Ver­zweif­lung durch sei­ne dunk­le Schön­heit an. Ohne es zu wis­sen, kom­po­niert der Mensch sein Leben nach den Geset­zen der Schön­heit, sogar in Momen­ten tiefs­ter Hoffnungslosigkeit.
Man kann dem Roman also nicht vor­wer­fen, vom geheim­nis­vol­len Zusam­men­tref­fen der Zufäl­le fas­zi­niert zu sein (wie etwa dem Zusam­men­tref­fen von Wron­ski, Anna, Bahn­steig und Tod oder dem Zusam­men­tref­fen von Beet­ho­ven, Tomas, Tere­sa und Cognac), dem Men­schen aber kann man zu Recht vor­wer­fen, daß er im All­tag sol­chen Zufäl­len gegen­über blind sei und dem Leben so die Dimen­si­on der Schön­heit nehme.
(Milan Kun­de­ra – Die uner­träg­li­che Leich­tig­keit des Seins)

Es gibt kaum etwas, das so schwer zu fin­den und so leicht wie­der zu ver­lie­ren ist wie Glück. In ihrem Leben ist Glück schon immer eine Sel­ten­heit gewe­sen und sie litt unter den Man­gel­er­schei­nun­gen, die die­ses Defi­zit an Glück in ihr bewirk­te. Sie war als Halb­wai­se auf­ge­wach­sen, allein mit ihrem Vater, da ihre Mut­ter kurz nach der Geburt gestor­ben war. Ihre nicht all­zu unbe­schwer­te Kind­heit war von ste­ti­ger Ent­beh­rung geprägt, unter deren alles über­schat­ten­dem Ein­fluss nicht nur ihre per­sön­li­che Ver­fas­sung, son­dern auch ihre schu­li­schen Leis­tun­gen haben lei­den müs­sen, also hat sie die Schu­le ver­las­sen, sobald die­se Mög­lich­keit in Sicht­wei­te gera­ten war, um Geld zu ver­die­nen für das, was sie Fami­lie nann­te. Ihr Ein­kom­men reich­te kaum zum Über­le­ben. Sie hat­te eine Arbeit, denn sie han­gel­te sich von Aus­hilfs­tä­tig­keit zu Aus­hilfs­tä­tig­keit, doch war die­ser Job nicht mehr als eine Über­gangs­lö­sung, ein schlecht bezahl­ter Lücken­fül­ler für Men­schen ohne Qua­li­fi­ka­ti­on, den sie, des­sen war sie sich bewusst, recht bald wie­der ver­lie­ren würde.

Zwar hat­ten ihre Eltern eini­ge Erspar­nis­se ange­sam­melt, die ihr Vater nun mehr schlecht als recht ver­wal­te­te, doch wur­den die­se klei­nen finan­zi­el­len Reser­ven haupt­säch­lich dadurch auf­ge­zehrt, die monat­li­chen Rech­nun­gen zu beglei­chen und das in die Jah­re gekom­me­ne Haus irgend­wie instand zu hal­ten, in wel­chem sie mit ihrem Vater wohn­te und in dem schon ihre Ur-Groß­el­tern vor ihr gewohnt hat­ten. Die­ses Fami­li­en­erb- und Bruch­stück trieb sie in den schlei­chen­den Ruin und so hat­te sie in der Ver­gan­gen­heit beacht­li­che Schul­den ange­häuft, die sie nicht mehr wür­de beglei­chen kön­nen, wenn das Erspar­te ein­mal auf­ge­braucht wäre. Zu ihren mate­ri­el­len Sor­gen gesell­ten sich zudem auch zwi­schen­mensch­li­che Wir­run­gen. Wäh­rend ihr Vater zunächst sie gepflegt und auf­ge­zo­gen hat­te, war es nun an ihr, ihren alters­schwa­chen Vater zu ver­sor­gen. Sie hat­ten kein beson­ders gutes Ver­hält­nis zuein­an­der, denn er schien von ihr ent­täuscht zu sein und ließ sie das jeden Tag deut­lich spü­ren, doch war er immer noch ihr Vater und sie fühl­te sich für ihn verantwortlich.

Auch ihr Bezie­hungs­le­ben konn­te sie nicht glück­lich machen. Traf sie ein­mal einen Mann, auf den es sich in ihren Augen ein­zu­las­sen lohn­te, was in ihrem Leben wirk­lich sel­ten geschah, dann waren all die­se Bezie­hun­gen doch nie von all­zu lan­ger Dau­er und lie­ßen sie in einem emo­tio­na­len Trüm­mer­hau­fen zurück, wenn sie schließ­lich wie ein Kar­ten­haus zer­fie­len. Kein eines Mal in ihrem Leben hat­te sie je so etwas wie völ­li­ge Zufrie­den­heit erlebt. Zwar hat­te sie ab und an das so genann­te Glück gefun­den, doch ver­ging es stets so schnell wie es gekom­men war. Falls sich tat­säch­lich so etwas wie Hoff­nung vor ihrer Nase befand, so konn­te sie es jeden­falls nicht sehen. Kurz gesagt, ihr Leben war eine Groß­bau­stel­le, deren Archi­tekt ein Zyni­ker und deren Vor­ar­bei­ter ein hoff­nungs­lo­ser Unglücks­ra­be war.

Als sie zu einem ihrer vie­len Bewer­bungs­ge­sprä­che ging, zu einem Vor­stel­lungs­ter­min in einem anony­men Glas­pa­last, bei dem sie wie­der ein­mal abge­lehnt wur­de, traf sie einen auf­ge­weck­ten jun­gen Mann. Bei­de teil­ten das glei­che Schick­sal, zumin­dest in Hin­blick auf die ent­täusch­te Hoff­nung, die die­ses Bewer­bungs­ge­spräch ihnen ein­ge­pflanzt hat­te, und bei­de führ­ten sie ein Leben, mit dem sie nicht zufrie­den sein konn­ten, selbst wenn sie es gewollt hät­ten. Anstatt nach Hau­se zu fah­ren, wo nichts auf sie gewar­tet hät­te außer ihrem miss­ge­laun­ten Vater, setz­te sie sich gemein­sam mit die­sem Mann in ein Café, bestell­te Kuchen, den sie sich nicht leis­ten konn­te, und ver­brach­te den gesam­ten Nach­mit­tag mit ange­reg­ter Unter­hal­tung, mit Lachen und gar mit so etwas wie Eupho­rie. Die Zeit ver­ging, als ob sie es nicht bes­ser wüsste.

Spät am Abend stand sie vor der Wahl, den Tag mit die­ser kur­zen Epi­so­de der Freu­de zu been­den oder aber auf sein Ange­bot ein­zu­ge­hen, denn er hat­te sie char­mant in sei­ne Woh­nung ein­ge­la­den. Schließ­lich ver­brach­te sie die Nacht mit die­sem Mann. Er war nicht ihre gro­ße Lie­be, dar­über mach­te sie sich kei­ne Illu­sio­nen, doch zum ers­ten Mal seit lan­ger Zeit fühl­te sie sich wie­der glück­lich. Es war nicht bloß ein bei­läu­fi­ges Glücks­ge­fühl, wie sie es ab und an ein­mal erleb­te, son­dern völ­lig und unbe­dingt in sei­ner Art. Ihr Glück ver­dräng­te jedes ande­re Gefühl in ihr, all die Sor­gen und Ängs­te, deren schwe­res Gewicht sie stän­dig mit sich her­um­zu­tra­gen hat­te, das sie her­un­ter­zog und an den Boden presste.

Als sie am nächs­ten Mor­gen nach Hau­se kam, tanz­te sie ganz unbe­schwert her­um, schweb­te lächelnd durch die Räu­me und summ­te lei­se vor sich hin, wäh­rend ihr Vater, der all das über­rascht zur Kennt­nis nahm, sie bloß jäh und rup­pig anblaff­te, ob sie denn dies­mal end­lich einen ernst­zu­neh­men­den Arbeits­platz gefun­den hät­te. Sie aber woll­te das nicht hören, sie moch­te in die­sem Augen­blick von alle­dem nichts wis­sen, denn sie war glück­lich und sie woll­te die­ses zer­brech­li­che Glück nicht wie­der zer­fal­len sehen. Sie woll­te die­sen glück­li­chen Moment so lan­ge kon­ser­vie­ren wie irgend mög­lich. Sie blick­te auf die Fotos frü­he­rer Tage, die in die­sem Haus an den Wän­den hin­gen, fest­ge­hal­te­ne Erin­ne­run­gen an eine trau­ri­ge Ver­gan­gen­heit. „Du wirst glück­lich sein“, sprach sie sanft zu einem die­ser Bil­der, zu die­ser unglück­li­chen jun­gen Frau, die bis­lang so wenig Hoff­nung für sich gese­hen hat­te. Dann schritt sie fröh­lich in das Arbeits­zim­mer ihres Vaters, öff­ne­te eine Schreib­tisch­schub­la­de, griff hin­ein, nahm die gela­de­ne Pis­to­le her­aus, die ihr Vater dar­in auf­be­wahr­te, steck­te sich den Lauf in den Mund und drück­te ab.

Vie­le erken­nen sich selbst, nur weni­ge kom­men dazu, sich auch selbst anzu­neh­men. Wie­viel Selbst­er­kennt­nis erschöpft sich dar­in, den andern mit einer noch etwas prä­zi­se­ren und genaue­ren Beschrei­bung unse­rer Schwä­chen zuvor­zu­kom­men, also in Koket­te­rie! Aber auch die ech­te Selbst­er­kennt­nis, die eher stumm bleibt und sich wesent­lich nur im Ver­hal­ten aus­drückt, genügt noch nicht, sie ist ein ers­ter, zwar uner­läß­li­cher und müh­sa­mer, aber kei­nes­wegs hin­rei­chen­der Schritt. Selbst­er­kennt­nis als lebens­läng­li­che Melan­cho­lie, als geist­rei­cher Umgang mit unse­rer frü­he­ren Resi­gna­ti­on ist sehr häu­fig, und Men­schen die­ser Art sind für uns zuwei­len die net­tes­ten Tisch­ge­nos­sen; aber was ist es für sie? Sie sind aus einer fal­schen Rol­le aus­ge­tre­ten, und das ist schon etwas, gewiß, aber es führt sie noch nicht ins Leben zurück… Daß die Selbst­an­nah­me mit dem Alter von sel­ber kom­me, ist nicht wahr. Dem Älte­ren erschei­nen die frü­he­ren Zie­le zwar frag­wür­di­ger, das Lächeln über unse­ren jugend­li­chen Ehr­geiz wird leich­ter, bil­li­ger, schmerz­lo­ser; doch ist damit noch kei­ner­lei Selbst­an­nah­me geleis­tet. In gewis­ser Hin­sicht wird es mit dem Alter sogar schwie­ri­ger. Immer mehr Leu­te, zu denen wir in Bewun­de­rung empor­schau­en, sind jün­ger als wir, unse­re Frist wird kür­zer und kür­zer, eine Resi­gna­ti­on immer leich­ter in Anbe­tracht einer doch ehren­vol­len Kar­rie­re, noch leich­ter für jene, die über­haupt kei­ne Kar­rie­re mach­ten und sich mit der Arg­list der Umwelt trös­ten, sich abfin­den kön­nen als ver­kann­te Genies… Es braucht die höchs­te Lebens­kraft, um sich selbst anzu­neh­men… In der For­de­rung, man sol­le sei­nen Nächs­ten lie­ben wie sich selbst, ist es als Selbst­ver­ständ­lich­keit ent­hal­ten, daß einer sich selbst lie­be, sich selbst annimmt, so wie er (…) ist. Allein auch mit der Selbst­an­nah­me ist es noch nicht getan! Solan­ge ich die Umwelt über­zeu­gen will, daß ich nie­mand anders als ich selbst bin, habe ich not­wen­di­ger­wei­se Angst vor Miß­deu­tung, blei­be ihr Gefan­ge­ner kraft die­ser Angst…
(Max Frisch – Stiller)

For­get­ting that beau­ty and hap­pi­ness are only ever incar­na­ted in an indi­vi­du­al per­son, we replace them in our minds by a con­ven­tio­nal pat­tern, a sort of avera­ge of all the dif­fe­rent faces we have ever admi­red, all the dif­fe­rent plea­su­res we have ever enjoy­ed, and thus car­ry about with us abs­tract images, which are lifel­ess and unin­spi­ring becau­se they lack the very qua­li­ty that some­thing new, some­thing dif­fe­rent from what is fami­li­ar, always pos­s­es­ses, and which is the qua­li­ty inse­pa­ra­ble from real beau­ty and hap­pi­ness. So we make our pes­si­mi­stic pro­no­unce­ments on life, which we think are valid, in the belief that we have taken account of beau­ty and hap­pi­ness, whe­re­as we have actual­ly omit­ted them from con­side­ra­ti­on, sub­sti­tu­ting for them syn­the­tic com­pounds that con­tain not­hing of them.
(Mar­cel Proust – In the Shadow of Young Girls in Flower)