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Weißt du, was mir das Herz zerreißt, jeden Morgen, wenn ich aufstehe, und jeden Abend, wenn ich mich schlafen lege? Ich fühle mich, als hätte mich ein Lastwagen angefahren, und nicht nur das, als sei der Fahrer hastig ausgestiegen, um sich das Unglück näher anzusehen, hätte sich wieder hinters Lenkrad begeben, kalt den Rückwärtsgang gewählt und mich erbarmungslos zerquetscht, womit er schließlich noch ganz sicher gehen will, dass ich von hier nie wieder aufstehen würde. Während es mir das Herz zerreißt, zerreißt du nur meine Briefe, als wären es längst beglichene Schuldscheine aus einer klammeren Vergangenheit. Überhaupt behandelst du mich, als sei es eine ruinöse Quartalsabrechnung, die du nun mit mir durchführen musst, eine emotionale Insolvenz, die mit den Worten endet: Wir müssen Sie leider entlassen, aber nehmen Sie es bitte nicht persönlich. Ja, wie denn sonst?
Du konntest so schnell Anschluss finden, nachdem wir auseinander brachen. Wenige Stunden danach kehrtest du zurück zum unbeschwerten Tagesgeschäft, du trafst dich mit deinen Freundinnen und Freunden, du konntest lachen und du gingst abends fröhlich aus, so als hätte es diese Verbindung zwischen uns niemals gegeben. Mich hingegen warf es aus der Bahn, tagelang aß ich nicht genug, wochenlang schlief ich nicht sehr viel, monatelang war ich eine andere Person und noch für Jahre wirst du in Gedanken immer bei mir sein. Für dich aber war es, als würdest du umsteigen. Du verließt den Zug, mit dem du bis hierher gekommen warst, und wo dieser Zug ohne dich dann hinfahren würde, was weiterhin mit ihm geschah, das war dir egal, denn du stiegst bloß in einen neuen. Kein Blick zurück, für dich war jeder Zug so gut wie jeder andere, und falls der alte Zug entgleist, nachdem du ausgestiegen bist, dann umso besser, dass du ihn rechtzeitig verlassen hast. Es riss mir den Boden unter den Füßen weg, doch du standst da wie eine Wächterstatue, gleichmütig und unerschütterlich. Tag um Tag starrte ich für Stunden auf das Postfach meiner Mails, jede SMS, die ich bekam, versetzte meinem Herzen einen hoffnungsfrohen Schock, und wenn es klingelte, dann rannte ich zur Tür. Ich wusste, ich wartete vergebens, denn du warst schon längst weitergezogen, und dennoch konnte ich nicht aufhören, vergebens auf dich zu warten. Meine Gefühle kochten über und du nahmst deine ungerührt vom Herd, du stelltest sie nicht einmal auf die Warmhalteplatte. Du sagtest zu mir mit naiver Ernsthaftigkeit in der Stimme, ich solle meine Gefühle für dich ganz einfach vergessen, und du konntest und kannst noch immer nicht verstehen, wie ich, wie irgendjemand Gefühle hegen kann, die sich nicht einfach wie das Licht beliebig ein- und ausschalten lassen. Einfach, für dich war alles einfach. Wie machst du das und wie konntest du je lieben, wenn du Emotionen so stark unter rationale Kontrolle zwingst?
In deinen Augen haben wir uns zu unversöhnlichen Gegenspielern entwickelt. Was zwischen uns geschah, das ist für dich zu einer Übung in Logik verkommen, ein Debattierclub zu zweit, in dem gewinnt, wer seinen Gegner argumentativ zu Boden wirft. Du bist darin verbissen unerbittlich, weil du die Deutungshoheit über das Geschehene verlangst. Wir waren für den jeweils anderen zu tragenden Wänden seines Lebens geworden, und während mein Haus nun in den Trümmern des Vergangenen liegt, hast du sie eingerissen, als wären sie aus Pappmaché. Mit rücksichtsloser Präzision platziertest du Sprengstoff an allen Brücken, die wir uns zuvor mit Mühe erbaut hatten, damit die Welt für uns begehbar war, und als sie am Ende hinter dir zerfielen, stand ich noch immer drauf. Du hättest all das nie so ernst genommen, sagst du heute kalt zu mir, weil es von Anfang an mir wichtiger gewesen sei als dir, was wir uns beide dort errichteten, und bekenne ich dir dann, dass du für mich auf ewig unvergleichbar bleiben wirst, erwiderst du in knappem Ton, du seist doch bloß wie all die anderen. Hast du die Liebe je verstanden?
Ich verkrieche mich in mir selbst, während du so beiläufig neue Kontakte knüpfst, als wäre nichts geschehen, als wäre dir jeder beliebige Mensch genug, um mich ganz gleichgültig zu ersetzen. Während du für mich die eine Schneeflocke bist, die ich kein zweites Mal auf dieser Erde finden werde, wurde ich für dich zu einem austauschbaren Wassertropfen, der völlig unsichtbar im Meer vergeht. All die Eigenheiten unserer Beziehung, die mir für uns so exklusiv erschienen, die kleine Welt, die einmal unsere eigene war, teilst du so unbekümmert mit mir Unbekannten, als hätte sie dir nie etwas bedeutet. Jene Magie, die einmal zwischen uns bestand und die noch immer in mir wirkt, ist nun für dich bloß fauler Zauber, an dem du dich mit einer Verve vergehst, die mir zerstörerisch erscheint. Was dir einst wichtig war und mir stets ist, das ist für dich wie ausgelöscht. Du tust, als sei da kein Gefühl, und dieser Part liegt dir so gut, dass ich mich manchmal frage, ob das nun wirklich Schauspiel ist oder ob Liebe denn für dich schon immer bloß die Rolle war. Was mir das Herz zerbricht, das ist, dass deines keinen Kratzer trägt.

I never thought about things at all, everything changed, the distance that wedged itself between me and my happiness wasn’t the world, it wasn’t the bombs or burning buildings, it was me, my thinking, the cancer of never letting go, is ignorance bliss, I don’t know, but it’s so painful to think, and tell me, what did thinking ever do for me, to what great place did thinking ever bring me? I think and think and think, I’ve thought myself out of happiness one million times, but never once into it.
(Jonathan Safran Foer – Extremely Loud and Incredibly Close)

Es ist eine ebenso überraschende und merkwürdige wie wertvolle Erfahrung, sich im Walde zu irgendeiner Zeit zu verirren. Oft kommt man in einem Schneesturm selbst bei Tage auf eine wohlbekannte Straße und ist nicht imstande zu sagen, in welcher Richtung das Dorf liegt. Obgleich man tausendmal hier gegangen ist, kann man nichts Bekanntes daran erkennen, und die Straße ist einem so fremd, als ob sie in Sibirien wäre. Bei Nacht ist die Verwirrung natürlich unendlich größer. Auf unsern alltäglichen Gängen steuern wir beständig, wenn auch unbewußt, gleich Lotsen mit Hilfe von wohlbekannten Leuchtfeuern und Vorgebirgen. Gehen wir über unsern gewöhnlichen Kurs hinaus, so haben wir immer noch die Lage irgendeines benachbarten Kaps im Sinn. Erst bis wir uns ganz verirrt oder umgedreht haben – denn der Mensch braucht nur einmal in dieser Welt mit geschlossenen Augen herumgedreht zu werden, um verirrt zu sein -, lernen wir die Weite und Fremdartigkeit der Natur schätzen. Jedesmal wenn der Mensch aus dem Schlaf oder aus der Versunkenheit erwacht, muß er die Himmelsrichtungen von neuem kennenlernen. Nicht eher, als bis wir verloren sind – mit andern Worten: bis wir die Welt verloren haben -, fangen wir an, uns selbst zu finden und gewahr zu werden, wo wir sind und wie endlos ausgedehnt unsere Verbindungen sind.
(Henry David Thoreau – Walden)

Sie glauben, es sei primitiv und barbarisch, einen Menschen zu töten? Au contraire! Oh bitte, denken Sie nicht an Schusswaffen, denken Sie nicht an Messer oder Gift, denken Sie nicht an Blut und all die brachialen Methoden des Tötens. Wagen Sie etwas mehr Fantasie. Meine Profession ist eine andere, ich bin spezialisiert auf Morde und Hinrichtungen einer graziöseren, weitaus versierteren Art.
Haben Sie sich je überlegt, wie ungerecht die Welt an und für sich ist? Brechen Sie jemandem die Beine, und Sie kommen dafür vor Gericht. Brechen Sie aber jemandem das Herz, wird Sie kein Gericht der Welt dafür verurteilen. Und glauben Sie mir, der Effekt ist ein größerer, wenn Sie es bloß richtig anstellen. Stehlen Sie jemandem das Vehikel, und man wird Sie wegen Diebstahl verfolgen. Nehmen Sie hingegen jemandem die Träume, die er für sein Leben hegt, kommen Sie mit diesem Coup gänzlich unbehelligt davon. Oder zünden Sie jemandem das Haus an, brennen Sie es nieder, und man wird Sie wegen Brandstiftung belangen. Vernichten Sie aber das Glück, das einer hat, wird Sie niemand dafür zur Verantwortung ziehen wollen. Verstehen Sie, worauf ich hinaus möchte?
Mein Metier ist eine Kunst. Jemanden mit einer Waffe zu erschießen oder zu erstechen, ihn zu überfahren oder zu vergiften ist einfach und armselig, jeder Tölpel könnte es, auch wenn zur Umsetzung dieser Tat ein höchstkomplexer Plan dahinterstecken mag. Die Tat selbst aber ist eine primitive und diese Zunft nicht die meine. Meine Morde sind innerlich, gleichsam kunst- wie anspruchsvoll und äußerst effektiv. Niemand bemerkt sie, außer dem Ermordeten, und niemand kann sie mir je nachweisen, keine Strafverfolgungsbehörde würde je deswegen gegen mich ermitteln, denn alles, was ich tue, ist legal, ich verstoße gegen keinerlei Statuten. Dafür erfordern meine Taten ein wesentlich höheres Maß an Fingerspitzengefühl, an Fantasie, an Kunstfertigkeit und an Unbarmherzigkeit als ein normaler Mord. Man muss an das Opfer herankommen. Nicht physisch, nicht geografisch. Es ist leicht, Personenschutz, Mauern und Wachsysteme zu überlisten, geht man nur mit genug Entschlossenheit an einen Mord heran, aber die Schutzsysteme, die meine Aufmerksamkeit erfordern, sind weitaus schwieriger zu überwinden. Ich spreche von Vertrauen, das in einer langwierigen Interaktion erst einmal geschmiedet werden muss, es geht um eine Beziehung, die ich zu meinem Opfer aufbauen muss, um schließlich dessen innere Verteidigungsmaßnahmen elegant zu bezwingen. Kein Personenschutz der Welt kann meine Opfer davor beschützen, keine kugelsichere Weste fängt meinen tödlichen Schuss ab, wenn es so weit ist.
Sie glauben vermutlich, ein physischer Mord sei wirksamer, aber da täuschen Sie sich. Menschen sind solch zerbrechliche Wesen. Ich glaube, die meisten von ihnen verkraften mehr körperlichen Schaden als innerliches Leid, als seelischen Schmerz, wenn Sie es so ausdrücken möchten. Ein falsches Wort zur richtigen Zeit, ein Schweigen, wenn Worte erwartet werden, eine noch so kleine Handlung, die deplatziert erscheint, ein sinnbildlicher Dolchstoß, und der Mensch wird nie wieder so sein wie je zuvor. Er verliert vielleicht seinen Optimismus, seine Lebensfreude, sein Lachen, sein Vertrauen oder seine Offenheit. Ein echter Mord schließt ab, der Mensch ist tot, requiescat in pace. Einen Menschen aber, den ich im Inneren ermorde, tötet das nicht wirklich, zumindest nicht sofort, er muss damit weiterleben, für den Rest seiner Tage.
Ich habe Ehemänner und Ehefrauen umgebracht, indem ich sie verführen ließ, indem ich ihre Familien, ihr Glück, ihre Beziehungen zerstörte. Ich habe Menschen getötet, indem ich sie über Monate hinweg mit der Verheißung der großen Liebe lockte, in ihnen epische Gefühle provozierte, um sie dann einfach damit sitzenzulassen. Ich habe Menschen in den Abgrund gestoßen, indem ich ihr Vertrauen in die Zukunft erschütterte. Ich habe Ehrgeizige umgebracht, indem ich ihre Karriere zerstörte, und Eltern, indem ich ihre Kinder korrumpierte.
All diese Taten sind für mich bloß eherne Routine, it’s all in a day‘s work. Nichts davon geschah auf einem illegalen Wege. Wie stehen Sie zu einer Welt, die all das ungerührt zur Kenntnis nimmt, weil sie in ihrer Verachtung für Mord, Zerstörung und Gewalt so oberflächlich ist wie ein Großteil der Menschen, die darin leben? Ich bin ein Assassine und meine Morde bleiben ungesühnt.

Der andere Trick besteht darin, dem Partner ebenso heftige wie nebelhafte Vorwürfe zu machen. Wenn er dann wissen will, was Sie eigentlich meinen, können Sie die Falle mit dem zusätzlichen Hinweis hermetisch schließen: »Wenn du nicht der Mensch wärest, der du bist, müßtest du mich nicht erst noch fragen. Der Umstand, daß du nicht einmal weißt, wovon ich spreche, zeigt klar, welch‘ Geistes Kind du bist.« Und a propos Geist: Im Umgang mit sogenannten Geisteskranken wird diese Methode seit längster Zeit mit großem Erfolg angewendet. In den seltenen Fällen nämlich, in denen der Betreffende es wagt, klipp und klar darüber Auskunft zu verlangen, worin in der Sicht der anderen seine Verrücktheit denn bestehe, läßt sich diese Frage als weiterer Beweis für seine Geistesgestörtheit hinstellen: »Wenn du nicht verrückt wärest, wüßtest du, was wir meinen.« Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich – denn hinter einer Antwort dieser Art steht Genialität: Der Versuch, Klarheit zu schaffen, wird flugs ins Gegenteil umgedeutet. Der andere gilt also für verrückt, solange er die Beziehungsdefinition »Wir sind normal, du bist verrückt« stillschweigend hinnimmt, und für verrückt, wenn er sie in Frage stellt. Nach diesem erfolglosen Exkurs in die menschliche Umwelt kann er entweder sich in hilfloser Wut die Haare ausraufen, oder in Schweigen zurückfallen. Aber auch damit beweist er nur zusätzlich, wie verrückt er ist, und wie recht die anderen schon immer hatten. (…) In den Etablissements, die sich für die Behandlung solcher Zustände für kompetent halten, läßt sich diese Taktik mit Erfolg anwenden. Man stellt es dem sogenannten Patienten zum Beispiel frei, nach eigenem Ermessen zu entscheiden, ob er an den Gruppensitzungen teilnehmen will oder nicht. Lehnt er dankend ab, so wird er hilfreich-ernsthaft aufgefordert, seine Gründe anzugeben. Was er dann sagt, ist ziemlich gleichgültig, denn es ist auf jeden Fall eine Manifestation seines Widerstandes und daher krankhaft. Die einzige ihm offenstehende Alternative ist also die Teilnahme an der Gruppentherapie, doch darf er nicht anmerken lassen, daß ihm ja nichts anderes übrigbleibt, denn seine eigene Lage so zu sehen, bedeutete immer noch Widerstand und Einsichtslosigkeit. Er muß also »spontan« teilnehmen wollen, gibt aber gleichzeitig mit seiner Teilnahme zu, daß er krank ist und Therapie braucht. In großen Gesellschaftssystemen mit Irrenhauscharakter ist diese Methode unter dem respektlos-reaktionären Namen Gehirnwäsche bekannt.
(Paul Watzlawick – Anleitung zum Unglücklichsein)

I think that if I ever have kids, and they are upset, I won’t tell them that people are starving in China or anything like that because it wouldn’t change the fact that they were upset. And even if somebody else has it much worse, that doesn’t really change the fact that you have what you have. Good and bad. Just like what my sister said when I had been in the hospital for a while. She said that she was really worried about going to college, and considering what I was going through, she felt really dumb about it. But I don’t know why she would feel dumb. I’d be worried, too. And really, I don’t think I have it any better or worse than she does. I don’t know. It’s just different. Maybe it’s good to put things in perspective, but sometimes, I think that the only perspective is to really be there. Because it’s okay to feel things. And be who you are about them.
(Stephen Chbosky – The Perks of Being a Wallflower / Vielleicht lieber morgen)

Sag ja zum Leben, sag ja zum Job, sag ja zur Karriere, sag ja zur Familie. Sag ja zu einem pervers großen Fernseher. Sag ja zu Waschmaschinen, Autos, CD-Playern und elektrischen Dosenöffnern. Sag ja zur Gesundheit, niedrigem Cholesterinspiegel und Zahnzusatzversicherung. Sag ja zur Bausparkasse, sag ja zur ersten Eigentumswohnung, sag ja zu den richtigen Freunden. Sag ja zur Freizeitkleidung mit passenden Koffern, sag ja zum dreiteiligen Anzug auf Ratenzahlung in hunderten von Scheiß-Stoffen. Sag ja zu Do-It-Yourself und dazu, auf deiner Couch zu hocken und dir hirnlähmende Gameshows reinzuziehen und dich dabei mit scheiß Junkfraß vollzustopfen. Sag ja dazu, am Schluss vor dich hinzuverwesen, dich in einer elenden Bruchbude vollzupissen und den missratenen Ego-Ratten von Kindern, die du gezeugt hast, damit sie dich ersetzen, nur noch peinlich zu sein. Sag ja zur Zukunft, sag ja zum Leben. (…) Bald bin ich genau wie ihr: Job, Familie, pervers großer Fernseher, Waschmaschine, Auto, CD und elektrischer Dosenöffner, Gesundheit, niedriger Cholesterinspiegel, Krankenversicherung, Eigenheim-Finanzierung, Freizeitkleidung, dreiteiliger Anzug, Heimwerkertum, Gameshow, Junkfraß, Kinder, Spazierengehen im Park, geregelte Arbeitszeit, Fitnesscenter, Autowaschen, ’ne Menge Pullover, traute Weihnacht mit der Familie, inflationssichere Rente, Steuerfreibeträge, Abfluss sauber machen, über die Runde kommen, mich auf den Tag freuen, an dem ich sterbe.
(Trainspotting)

Menschen sind überall gleich. Ich kam in diese Stadt und ich tat es ohne die geringsten Erwartungen. Es war etwas Neues für mich, eine ungewohnte Umgebung, und diese Stadt war so gut wie jede andere. Selbst wenn ich es mir zunächst nicht eingestand, war es für mich ein Ort der Hoffnung, ein Ort der Träume, ein Ort der Illusionen.
Der erste Eindruck überraschte mich. Man nahm mich freundlich auf, einfach so, ohne Bedingungen und ohne jede Umschweife. Es war für diese Menschen nichts Ungewöhnliches, einen Neuen, einen Fremden in ihren Reihen zu begrüßen. Das unterschied diesen Ort von beinahe allem, was ich kannte, denn wie schwer, wenigstens aber aufwändig war es doch in der Regel, mit offenen Armen als Fremder in eine bestehende Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Nicht so hier. Einwohner kamen und gingen, und manchmal blieben sie nur wenige Wochen. Es war eine Freundlichkeit, eine Selbstverständlichkeit, die mich begeisterte. Den schmalen Grat zwischen kindlichem Vertrauen und unbarmherziger Distanz pflegte ich stets mit einer Art von Grundvertrauen zu beschreiten, das ausgleichend begrenzt wurde durch eine über die Jahre hinweg gewachsene Menschenkenntnis, derer es bedarf, um nicht der blinden Naivität anheimzufallen.
Im Allgemeinen vertraute ich selbst völlig unbekannten Menschen, solange sie mir keinen Grund lieferten, daran zu zweifeln. Was wäre die Alternative gewesen. Gesundes Misstrauen ist ein Widerspruch in sich, so etwas gibt es nicht, und lieber wollte ich bisweilen in meinem Vertrauen enttäuscht werden, als mit paranoider Grundhaltung durch die Welt zu gehen, denn Misstrauen fördert unablässig Misstrauen.
Ich fühlte mich hier zuhause. Niemanden interessierte, warum ich gekommen war. All die menschlichen, nur allzu menschlichen Kategorien, die bisweilen dafür sorgten, Keile zwischen die Individuen zu treiben, schienen hier ohne Bedeutung zu sein. Alter, Geschlecht, Herkunft, Aussehen oder Status, Erfolg, Bildungsgrad und noch die verrücktesten Interessen waren für das Miteinander dieser Menschen allem Anschein nach völlig nebensächlich, zumindest ließen sie sich nicht im geringsten anmerken, darauf irgendeinen Wert zu legen. Es war zu gut, um wahr zu sein. Es war nicht wahr – aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Ich hätte es wissen müssen, aber ich tat es nicht, denn wer stellt schon Fragen, wenn ihm Einlass in das Paradies geboten wird.
Nun, da ich ihn verlasse, muss ich rückblickend auf diesen Ort leider sagen, dass die Enttäuschung überwiegt. Es gab sehr viel Freude, schöne Momente, gute Erfahrungen, aber letztlich auch ein Übermaß an Frustration. Viele Monate habe ich hier damit verbracht, Hoffnungen und Träumen nachzujagen, die am Ende fast alle enttäuscht wurden. Ich komme mir so dumm vor. Alles ließ ich stehen und liegen, sogar meine Arbeit vernachlässigte ich in all der Zeit, weil es für mich nichts Wichtigeres gab auf der Welt als diese Menschen, auf die ich meine Hoffnungen setzte. Und für was? Was dachte ich zu sehen? Menschen, die nicht so sind wie an jedem anderen Ort der Welt? Illusionen! Wieso also sollte ich bleiben.
Vielleicht mag es auf den ersten Blick paradox erscheinen, mein Grundvertrauen von einer gewissen Art Distanz begleiten zu lassen, die aber gar kein Widerspruch, sondern eher Gegengewicht ist. Mit einem Großteil der Menschen, die ich im Laufe meiner Tage kennenlerne, kann ich, so schwer es mir das Leben auch manchmal macht, in der Regel nur wenig anfangen, darum vermeide ich allzu nahen Kontakt mit ihnen, wo ich das kann. Das gilt für die Einwohner dieser Stadt wie für die Menschen im Gesamten. Sie können nichts dafür, sie sind nicht besser oder schlechter als ich, sie haben einfach nur eine andere Vorstellung von der Welt, eine Vorstellung, die ich nicht teile. Sie legen Verhaltensweisen an den Tag, die so normal, so menschlich sind, und doch meide ich sie dafür. Sie verbreiten Lügen und bringen Gerüchte in Umlauf, sie hetzen sich gegeneinander auf, sie lästern über ihren Nächsten, sobald er nur für einen Moment außer Hörweite gegangen ist. Sie verschwören sich. Sie fragen nicht nach, wenn sie böses Geschwätz über einen anderen hören, ob es denn überhaupt stimmt, sie glauben es direkt. Sie korrumpieren. Sie sind ständig am Kämpfen, am Streiten, konkurrieren um Macht, Prestige, Anerkennung und Beifall. Sie sind selbstverliebt, arrogant und Heuchler. Ständig heucheln sie. Sie sind freundlich zu jedem, ja, doch was heißt das schon, was hilft das, wenn es nur gespielte Freundlichkeit ist. Sie legen das Stilett nie aus der Hand. Am Vormittag können sie dir sagen, wie gerne sie dich haben und was sie an dir schätzen, dich am Nachmittag vor deinen Freunden schlechtreden, um dann am Abend mit dir ein fröhliches Gespräch zu führen, wie verlogen alle anderen doch seien. Nichts davon tun sie aus Boshaftigkeit, und das ist das wirklich Traurige daran. Lernt man die Menschen in dieser Stadt ein wenig kennen, muss man feststellen, dass die meisten von ihnen genauso sind, genauso normal. Das macht sie nicht zu schlechten Menschen, aber es macht sie zu Menschen, denen ich aus dem Weg gehe. Vielen gehe ich aus dem Weg.
Doch es gab Ausnahmen, es gibt sie überall, man muss sie bloß finden. Diejenigen, die anders sind. Menschen, die sich die Tatsache vor Augen führen, auch selbst nicht immun gegenüber derartigen Verhaltensweisen zu sein, die aber versuchen, sie auf ein Minimum zu reduzieren; die ihr Verhalten kritisch reflektieren, die ein Miteinander statt eines Gegeneinanders herzustellen bestrebt sind. Menschen, die sich nicht andauernd in den Mittelpunkt zu stellen versuchen, die nicht herumschreien, um Lorbeeren noch für die kleinsten Taten ernten zu wollen. Menschen, die so aufrichtig wie freundlich sind und das nicht bloß spielen, weil sie sich etwas davon erhoffen.
Viele derer, die auf den ersten Blick als solche Ausnahmen erscheinen, stellen sich bei genauerer Betrachtung als Schauspieler heraus, als Menschen, die sich akkurat inszenieren, als wären sie zuvorkommende, freundliche, aufrichtige Personen. Bohrt man etwas tiefer, offenbart sich allerdings, es handelt sich um Lügner. Geschickte Lügner zwar, gute Schauspieler zweifellos, und dennoch Lügner. Sie spielen das alles und dieses Spiel ist ihr Leben. Es sind Egozentriker, Geltungssüchtige und Selbstverliebte. Sie sind genau wie der Großteil derer, auf die sie aus ihrer Rolle hinaus verächtlich hinabblicken, aber sie haben gelernt, das zu überspielen, und das machen sie teilweise verdammt gut.
Die echten Ausnahmen aber, jene, die nicht bloß Schauspiel betreiben, waren allesamt nette Menschen und darüber war ich froh. Sie waren aufrichtig und nett, und viele von ihnen verfügten über eine recht unkomplizierte, unverbindliche Vorstellung von Freundschaft. Genau dies war jedoch gleichzeitig das Problem, war mir Grund, weshalb ich mich nicht mit ihnen anfreunden wollte. Ihre Vorstellung von Freundschaft entsprach nicht der meinen, einer Vorstellung, die manchem, den ich sah, vielleicht fremd sein mochte, weil er unzählige Freundschaften pflegte – und wenn man bloß mit jemandem in einer Bar ein Bier trank, war er sofort ein Freund. Das mochte für andere funktionieren, für mich allerdings nicht.
Seit jeher nannte ich nur wenige Menschen wirklich Freunde, doch für jene, die ich dazu erkoren hatte, war ich es von ganzem Herzen, mit all meiner Energie. Diese netten, unverbindlichen Leute – sollte ich auch sie allesamt zu meinen Freunden zählen? Würde das funktionieren? Und dann? Auch meine Tage haben nur vierundzwanzig Stunden, auch ich verfüge nur über begrenzte Energie. Ich wollte keine netten, unverbindlichen Leute kennenlernen, die ich zu meinen Freunden hätte machen können, weil das nur bedeutet hätte, das kostbare Engagement für jeden meiner Freunde zu reduzieren, reduzieren zu müssen, breiter zu verteilen, sodass am Ende jeder weniger davon bekäme. Das wollte ich nicht. Machte mich das in ihren Augen zu einem Sonderling? Vermutlich. Behandelte ich diese netten, unverbindlichen Menschen ungerecht? Vielleicht. Aber lieber das, als dass ich sie zu Freunden gemacht hätte, die keine waren, zu Freundschaften, die weder sie noch mich befriedigen würden.
Aber es gab Ausnahmen unter den Ausnahmen, ganz besondere Menschen. Menschen, für die sich jedes noch so große Engagement lohnte; die so unglaublich kostbar waren, dass ich sie nie wieder aus den Augen verlieren wollte; die mich berührten, nicht nur in Gedanken, sondern tief im Inneren. Menschen, die kennenzulernen mir war, als würden sich Welten verbinden. Es war der enttäuschendste Teil. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Frauen, denn unglücklicherweise fielen die vermeintlichen Ausnahmen unter den Männern vorwiegend in die Kategorie Schauspieler, denen es am Ende doch nur um ihr Ego ging, um Macht und Geltungsdrang, auf die eine oder auf die andere Art. Leider. Mit ihnen wäre es einfacher.
Was war nun das Problem mit diesen Ausnahmen unter den Ausnahmen? Da gab es also jemanden, der besonders erschien, zumindest für mich. Jemanden, der kein Schauspieler war. Jemanden, der ein ähnliches Verständnis vom Leben und der Welt aufwies. Jemanden, der unbedingtes Vertrauen verdiente und jemanden, mit dem das gegenseitige Verstehen so einfach erschien, mit Worten oder auch ohne, weil wir uns schon seit ewiger Zeit zu kennen glaubten. All die Schutzvorrichtungen, die man sich im Laufe eines Lebens so mühsam erbaut, um andere Menschen auf angebrachter Distanz zu halten, um sich nicht zu verausgaben, um allzu schwere Verletzungen zu vermeiden, baute ich ab. Plötzlich stand da ein Geschenk vor den Toren meiner Festung, ein hölzernes Pferd, und ich holte es bereitwillig herein.
Irgendwann aber übertraten wir eine Grenze, eine unsichtbare Linie, und es wuchsen Gefühle in einem von uns. Anstatt in Unendlichkeit zu enden, kenterte das Miteinander durch dieses ungleich verteilte Gewicht. Es war Himmel und Hölle zugleich, es machte alles kompliziert und vieles kaputt, das so wunderbar begonnen hatte. Stell dir vor, du wärst Archäologe und würdest an dem einen Fund arbeiten, den du schon dein ganzes Leben lang gesucht hast, auf den du entgegen aller Wahrscheinlichkeit unter all den verbergenden Schichten erst einmal stoßen musstest, doch plötzlich ist da ein nicht zu unterdrückendes Kribbeln in deiner Nase, du musst niesen, ein ganz normales menschliches Regen, du rutschst mit dem Werkzeug ab und alles ist ruiniert. So kam ich mir vor. Nichts vermag je zu ersetzen, was dadurch verloren ging, das wirklich Begehrte, das überaus Seltene, das unbedingt Kostbare. Jene Menschen, die für immer im Gedächtnis bleiben, die für immer ein Teil des eigenen Lebens sein werden, ob sie nun anwesend sind oder nicht.
Momentan fühlt es sich so an, als steckte ich im Treibsand. Je mehr ich mich bewege, desto trostloser wird die Situation. Vielleicht ist es also am besten, sich erst einmal gar nicht zu bewegen. Das gesamte letzte Jahr verbrachte ich in dieser Stadt mit dem unheilvollen Versuch, Träumen, Hoffnungen und letztlich Illusionen hinterherzujagen, die sich am Ende allesamt in Luft auflösten. Meine gesamte Energie, emotional wie auch psychisch, steckte ich in diese Menschen, nur um alles, was ich aufgebaut hatte, schließlich zerstört vorzufinden, entweder durch sie, weil sie nicht waren, was sie zu sein schienen, oder durch den Makel der Emotion. Es endete immer wieder gleich, auch wenn es nie endete. Heute bin ich leer, enttäuscht, von anderen und von mir selbst, erschöpft und emotional am Boden. Diese Stadt hat mich ausgelaugt, ich kann nicht mehr. Jedenfalls nicht hier. Wie ein havariertes Raumschiff schwebe ich manövrierunfähig irgendwo in der Leere des Universums. Nur die Lebenserhaltungssysteme sind noch in Betrieb, doch vielleicht bekomme ich demnächst auch wieder Energie für den Antrieb. Man sagt, es würde alles besser, wenn Gras über eine Sache gewachsen sei. Hier jedoch wächst kein Gras, der Boden ist ausgelaugt. Noch weniger als zuvor weiß ich, wann es sich lohnt, auf Menschen einzugehen, denn ich mag sie entweder gar nicht oder zu sehr, doch ich weiß, dass es nicht mein Vertrauen war, das mich enttäuschte.
Menschen sind überall gleich. Entzaubert, ohne Hoffnung und mit verblassten Träumen verlasse ich diese Stadt so leise, wie ich sie betrat. Sie war für mich ein Ort der Hoffnung, ein Ort der Träume, ein Ort der Illusionen. Nach all diesen Erfahrungen komme ich mir vor wie ein Außerirdischer, der mit der hoffnungsvollen Mission an diesen Ort geschickt wurde, so viel wie möglich über die dominante Spezies auf diesem Planeten herauszufinden, um alles mit ihnen zu teilen, und der nun mit der Botschaft zurückkehren muss, dass es sich nicht lohnt, mit diesen Wesen Kontakt aufzunehmen. Nicht mit deaktiviertem Schutzschild.

Everything a lie. Everything you hear, everything you see. So much to spew out. They just keep coming, one after another. You’re in a box. A moving box. They want you dead, or in their lie… Only one thing a man can do – find something that’s his, make an island for himself.
(The Thin Red Line)