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Wenn du mit einem realen Menschen zusammensein und dessen Wesenskern spüren willst, mußt du mit ihm allein sein. Jedes weitere Paar Augen und Ohren verwässert nur diesen Wesenskern. Wenn du mit zwei deiner besten Freunde essen gehst, wirst du nicht mit zwei vollständigen Personen unterwegs sein, und sie werden sich nicht so offen benehmen, wie sie es täten, wenn sie mit dir allein wären. Bist du mit einem Freund oder einer Freundin auf einer großen Party, erlebst du nur einen Bruchteil seiner oder ihrer wahren Persönlichkeit. Übertrage diesen Gedanken auf nationale, globale oder sogar evolutionäre Zusammenhänge, und schon ergibt vielleicht alles, was je geschehen ist, mehr Sinn.
Joey Goebel – Freaks

Was heißt das, »in der Wahrheit leben«? Eine negative Definition ist einfach: es heißt, nicht zu lügen, sich nicht zu verstecken, nichts zu verheimlichen. Seit Franz Sabina kennt, lebt er in der Lüge. Er erzählt seiner Frau von einem Kongreß in Amsterdam, der nie stattgefunden, von Vorlesungen in Madrid, die er nie gehalten hat, und er hat Angst, mit Sabina in den Straßen von Genf spazierenzugehen. Es amüsiert ihn, zu lügen und sich zu verstecken, denn er hat es sonst nie getan. Er ist dabei angenehm aufgeregt, wie ein Klassenprimus, der beschließt, endlich einmal die Schule zu schwänzen.
Für Sabina ist »in der Wahrheit leben«, weder sich selbst noch andere zu belügen, nur unter der Voraussetzung möglich, daß man ohne Publikum lebt. Von dem Moment an, wo jemand unserem Tun zuschaut, passen wir uns wohl oder übel den Augen an, die uns beobachten, und alles, was wir tun, wird unwahr. Ein Publikum zu haben, an ein Publikum zu denken, heißt, in der Lüge zu leben. Sabina verachtet die Literatur, in der ein Autor alle Intimitäten über sich und seine Freunde verrät. Wer seine Intimität verliert, der hat alles verloren, denkt Sabina. Und wer freiwillig darauf verzichtet, der ist ein Monstrum. Darum leidet Sabina nicht im geringsten darunter, daß sie ihre Liebe verheimlichen muß. Im Gegenteil, nur so kann sie »in der Wahrheit leben«.
Franz dagegen ist überzeugt, daß in der Trennung des Lebens in eine private und eine öffentliche Sphäre die Quelle aller Lügen liegt: Man ist ein anderer im Privatleben als in der Öffentlichkeit. »In der Wahrheit leben« bedeutet für ihn, die Barriere zwischen Privat und Öffentlichkeit niederzureißen. Er zitiert gern den Satz von André Breton, der besagt, daß er gern »in einem Glashaus« gelebt hätte, »wo es keine Geheimnisse gibt und das allen Blicken offensteht«.
(Milan Kundera – Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins)