Schlagwortarchiv für: Rafik Schami

Eine Witwe heiratete einen Witwer. In der ersten Nacht lagen sie nebeneinander. Die Witwe hatte Lust auf den Mann, doch er hörte nicht auf, von seiner verstorbenen Frau zu erzählen. Irgendwann fing auch die Frau an, von ihrem verstorbenen Mann zu reden. Bald darauf schnarchte der Mann neben ihr.
In der zweiten Nacht zog sich die Frau aus und legte sich zu ihrem Mann, doch als sie ihn streichelte, sagte er: »Das erinnert mich an meine Frau, selig soll sie im Schoß Gottes weilen. Sie hat auch immer gern meine Brusthaare gestreichelt.« Er zündete sich eine Zigarette an und erzählte lange von seiner verstorbenen Frau. Die Witwe besann sich und sagte darauf, daß ihr verstorbener Mann im entscheidenden Augenblick auch immer eine Zigarette geraucht und sein Mund davon wie ein Aschenbecher gestunken habe, weshalb ihr die Lust oft vergangen sei. Aber bevor sie mit ihrem Satz zu Ende war, schnarchte der Mann.
In der dritten Nacht nahm die Frau eine Flasche Wein mit ins Schlafzimmer. Sie zog sich aus, zündete eine Kerze an und schenkte dem Mann ein. Das hatte bei ihrem Verstorbenen immer Wunder bewirkt.
Der neue Ehemann nahm einen Schluck. »Chianti?« fragte er begeistert.
»Ja«, antwortete die Frau hoffnungsvoll.
»Das erinnert mich an Venedig, wo ich damals mit meiner so temperamentvollen…«
Da trat die Frau den Mann so kräftig in die Seite, daß er aus dem Bett fiel.
»Was ist los mit dir?« schimpfte er.
»Nichts. Das Bett ist nur für zwei. Wir aber liegen seit drei Tagen hier zu viert, da kann es leicht passieren, daß einer herausfällt.«
(Rafik Schami – Loblied und andere Olivenkerne)

Das Auge war von jeher weitsichtiger als alle anderen Sinne, und es erzählte von den Wundern der Welt. Aber die andern Organe nahmen das Auge nicht ernst, weil es von fernen Landschaften schwärmte, die das Ohr nicht hörte, die Nase nicht roch, die Zunge nicht schmeckte, Hand und Fuß auch nicht fühlten.
Doch eines Tages sagte das Auge: »Vorsicht, hier ist eine Grube!«
»Fängst du schon wieder an«, höhnten einstimmig Hand und Fuß. »Wir fühlen keine Grube!«
»Ich rieche sie auch nicht!« sagte großmäulig die Nase.
»Eine Grube? Schmecke ich nicht!« widersprach auch der Mund.
»Ehrlich gesagt, ich höre sie ebenfalls nicht!« meldete sich zuletzt noch, wiewohl etwas höflicher als die andern, das Ohr zu Wort.
Es dauerte nicht lange, da stürzte der Fuß und riß Hand und Mund, Nase und Ohr und auch das Auge mit sich hinab. Der Sturz sorgte bei allen für Schmerzen. Und das Auge litt wie die andern und weinte. An diesem Tag waren die anderen Sinne bereit, die Bedeutung der Weitsicht zu akzeptieren.
(Rafik Schami – Loblied und andere Olivenkerne)