Als die ers­ten Signa­le aus dem All emp­fan­gen wur­den, konn­te noch nie­mand wis­sen, was auf uns zukom­men wür­de. Die Streit­kräf­te der größ­ten Natio­nen berei­te­ten erwar­tungs­ge­mäß recht grim­mi­ge Ver­tei­di­gungs­maß­nah­men vor und waren über­aus besorgt, wie sie das immer sind, wenn etwas Unvor­her­ge­se­he­nes geschieht, weil es Auf­ga­be des Mili­tärs ist, besorgt und mög­lichst grim­mig zu sein. Die Mas­sen­me­di­en über­schlu­gen sich mit ihrer Bericht­erstat­tung, sie wett­ei­fer­ten gera­de­zu um die wil­des­ten Gerüch­te und schür­ten glo­ba­le Panik, wie sie es immer tun, weil sie das für ihre gött­li­che Beru­fung hal­ten. Sek­ten und Welt­un­ter­gangs­spin­ner sahen mit einem nicht zu ver­heh­len­den Stolz das end­gül­ti­ge Ende her­auf­zie­hen, das sie dem Rest der Bevöl­ke­rung schon seit Ewig­kei­ten gepre­digt hat­ten, ohne jemals von irgend­je­man­dem wirk­lich ernst genom­men wor­den zu sein. Poli­ti­ker aller Län­der began­nen damit, trotz ihrer bis­he­ri­gen Kon­flikt­li­ni­en auf ein­mal offen mit­ein­an­der zu reden, weil sie nun einen neu­en, gemein­sa­men Feind iden­ti­fi­zie­ren konn­ten, der ihnen womög­lich die Macht über ihr Revier strei­tig zu machen droh­te. Zusam­men­fas­send muss man sagen, dass sich die Erde in ein kopf­lo­ses Toll­haus ver­wan­del­te, doch genau genom­men kann die­se Bezeich­nung dem gan­zen Vor­gang nicht völ­lig gerecht wer­den, weil man der Wahr­heit zulie­be ergän­zen müss­te, dass sie ein noch viel grö­ße­res Toll­haus wur­de, als sie es nor­ma­ler­wei­se sowie­so schon war.
Unse­re Ver­su­che, noch wäh­rend ihres Anflugs auf die Erde irgend­ei­ne Art von Kon­takt mit ihnen her­zu­stel­len, schlu­gen alle­samt fehl, also blieb uns nichts wei­ter übrig, als ner­vös ihre Ankunft abzu­war­ten und das Bes­te zu hof­fen. Je nach Men­schen­we­sen, das man dazu befragt hät­te, wäre die Vor­stel­lung dar­über, was die­ses Bes­te denn über­haupt sei, sicher­lich sehr unter­schied­lich aus­ge­fal­len. Die einen erhoff­ten sich von den Besu­chern aus dem All einen gewal­ti­gen kul­tu­rel­len und tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt, ande­re sahen es als Gele­gen­heit, ja als Her­aus­for­de­rung an, end­lich ein paar Wesen abseits der gewohn­ten Fau­na abzu­knal­len, was nach so vie­len Jah­ren voll umfang­rei­cher Pra­xis­er­fah­rung lang­sam lang­wei­lig zu wer­den droh­te, und wie­der ande­re mal­ten sich neue sexu­el­le Erfah­run­gen aus. Ob sie wohl auch auf die Erde gekom­men wären, wenn sie die­se Gedan­ken alle­samt gekannt hät­ten?
Ande­rer­seits gibt es Idio­ten wirk­lich über­all, also sicher auch unter extra­ter­res­tri­schen Lebens­for­men, wes­we­gen mensch­li­che Idio­tie für unse­re Besu­cher kei­ne all­zu gro­ße Über­ra­schung gewe­sen sein dürf­te. Ob einer ein Idi­ot ist, hat dabei jedoch nichts damit zu tun, wie intel­li­gent er ist oder eben nicht, denn oft genug stel­len sich gera­de die Intel­li­gen­tes­ten als die größ­ten Idio­ten her­aus, weil sie es eigent­lich bes­ser wis­sen müss­ten. Wenn es eines gibt, das jede Kul­tur im Uni­ver­sum ver­bin­det, dann ist es mit Sicher­heit die Exis­tenz von Idio­ten, und man müss­te die Evo­lu­ti­on wirk­lich ein­mal fra­gen, was sie sich dabei eigent­lich gedacht hat. Wahr­schein­lich gar nichts. Die Evo­lu­ti­on ist auch ein Idi­ot. Gott habe den Men­schen nach sei­nem eige­nen Bil­de erschaf­fen, heißt es dage­gen in man­cher Reli­gi­on, doch wenn es unter den Men­schen so vie­le Idio­ten gibt, was hie­ße das dann im Umkehr­schluss für Gott? Er kann sich glück­lich schät­zen, dass es ihn nicht gibt.
Sie lan­de­ten jeden­falls in der Nähe von She­n­yang, einer Stadt im Nord­os­ten Chi­nas, ohne dass unse­rer­seits beson­de­re Begrü­ßungs­maß­nah­men hät­ten vor­be­rei­tet wer­den kön­nen, weil uns voll­kom­men unbe­kannt war, wo sie Fuß auf die­sen Pla­ne­ten set­zen wür­den. Bis heu­te wis­sen wir nicht, wes­halb sie aus­ge­rech­net dort gelan­det sind. Ver­mut­lich war die­ser Platz so gut wie jeder ande­re, aber all die ver­schmäh­ten Staa­ten waren sich nicht zu fein, sofort die böses­te Gerüch­te kur­sie­ren zu las­sen, Chi­na habe schon Kon­takt zu unse­ren Besu­chern gehabt und ste­cke mit ihnen unter einer Decke, um die gesam­te Mensch­heit end­lich zu ver­skla­ven. Gewähl­te Staats­chefs zeig­ten sich belei­digt wie ein klei­nes Kind, das empört fest­stel­len muss, dass es von der Kin­der­gärt­ne­rin nicht aus­rei­chend beach­tet wird, wobei aus­rei­chend mit exklu­siv zu über­set­zen ist. Wer hat­te sie eigent­lich gewählt? Mit Sicher­heit Idio­ten.
Als sie lan­de­ten, geschah alles so, wie es immer geschieht, und war dar­um irgend­wie rich­tig lang­wei­lig. Das Mili­tär fuhr schwe­res Geschütz auf, um den uner­war­te­ten Besu­chern ohne jede Ver­zö­ge­rung unmiss­ver­ständ­lich die Stär­ke der Erd­be­völ­ke­rung zu demons­trie­ren, wäh­rend sich die Staats­män­ner gegen­sei­tig bei dem Ver­such über­trumpf­ten, das eige­ne Land als kul­tu­rell und tech­no­lo­gisch füh­rend her­aus­zu­stel­len, was beson­ders pein­lich aus­sah für jene, deren größ­te kul­tu­rel­le Leis­tung es bis dahin gewe­sen war, im Inter­net bestimm­te eri­gier­te Kör­per­tei­le zu prä­sen­tie­ren. Die Außer­ir­di­schen beein­druck­te weder das eine noch das ande­re. Mir schien es, als sei­en sie den Wir­bel um ihre Ankunft gewohnt, als sähen sie über all die­sen Tru­bel gleich­gül­tig, viel­leicht auch amü­siert hin­weg.
Ihr Raum­schiff erschien uns auf den ers­ten Blick ziem­lich unspek­ta­ku­lär und war weder beson­ders impo­sant noch auf irgend­ei­ne Art mys­te­ri­ös, im Ver­gleich mit den Fan­ta­sie­ge­bil­den unzäh­li­ger Sci­ence-Fic­­ti­on-Autoren kam es mir ganz und gar öde vor.
Die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit uns war für unse­re neu­ge­won­ne­nen Gäs­te kein Pro­blem, auch wenn sie uns nie ver­ra­ten haben, wie sie die­se Kennt­nis­se eigent­lich erlangt hat­ten. Viel­leicht hat­ten sie unse­re Radio- und Fern­seh­über­tra­gun­gen emp­fan­gen, bevor sie auf unse­ren Pla­ne­ten kamen. Eine intel­li­gen­te Lebens­form, die mensch­li­che Radio- und Fern­seh­über­tra­gun­gen emp­fängt und dann unse­rem Pla­ne­ten trotz­dem noch einen Besuch abstat­ten möch­te, ist ent­we­der extrem tole­rant und offen­her­zig oder ziem­lich idio­tisch. Die Mensch­heit mach­te sich, wohl zu ihrer eige­nen Ent­las­tung, dar­über aller­dings gar kei­ne Gedan­ken oder wenn doch, dann nahm sie zumin­dest ers­te­res an.
Die Außer­ir­di­schen inter­es­sier­ten sich sehr für die Geschich­te der domi­nan­ten Spe­zi­es auf die­sem Pla­ne­ten und wie es der Zufall ergab, waren wir das. Wir waren sogar so domi­nant, dass vie­le ande­re Lebens­for­men in einem mehr als devo­ten Ges­tus das Fort­set­zen der eige­nen Spe­zi­es mehr oder weni­ger frei­wil­lig auf­ga­ben, um uns noch domi­nan­ter wer­den zu las­sen. Rück­bli­ckend muss man sagen, dass wir ihnen dafür wenigs­tens mal eine Gruß­kar­te hät­ten schrei­ben kön­nen, doch wir Men­schen sind schon seit Beginn unse­rer gro­ßen Erfolgs­ge­schich­te sehr gut dar­in gewe­sen, mora­li­sche Grund­la­gen dafür zu erfin­den, wenn die­je­ni­gen Lebe­we­sen, die wir gut fin­den, jene Lebe­we­sen töten, die wir nicht so gut fin­den. Uns selbst fan­den wir schon immer ver­dammt gut. Unse­re Besu­cher jeden­falls baten uns um den Zugriff auf unse­re Archi­ve, auf Tech­no­lo­gie und auf das Know-how, das die Mensch­heit im Lau­fe ihrer Ent­wick­lung ange­sam­melt hat­te. Sie sag­ten uns, dass sie für genau ein Jahr unse­rer Zeit­rech­nung auf der Erde blei­ben wür­den, um ihre Expe­di­ti­on, wie sie es nann­ten, durch­zu­füh­ren und uns danach wie­der zu ver­las­sen.
Das Mili­tär zeig­te sich zunächst skep­tisch, weil Mili­tär grund­sätz­lich jedem fried­li­chen Han­deln skep­tisch gegen­über­steht, aber nach­dem auch den aggres­sivs­ten Köp­fen klar­ge­wor­den war, dass wir tech­no­lo­gisch hoff­nungs­los zurück­la­gen und eine mili­tä­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung nie wür­den gewin­nen kön­nen, wur­de der voll­um­fäng­li­chen Koope­ra­ti­on schließ­lich zuge­stimmt.
Im Gegen­zug for­der­ten die Staa­ten der Erde von den Außer­ir­di­schen umfang­rei­che Ent­wick­lungs­hil­fe, die unse­rer Intel­li­genz und Stel­lung wür­dig sei. Sie haben es nicht so aus­ge­drückt, aber es wur­de klar, dass sie es genau so mein­ten. Die mäch­ti­gen Staats­män­ner sag­ten, sie wür­den es als Zei­chen der Koope­ra­ti­on und der gegen­sei­ti­gen Fried­fer­tig­keit betrach­ten, wenn uns die Außer­ir­di­schen mit ihrem gewal­ti­gen Wis­sens­vor­sprung unter die Arme grei­fen wür­den, doch unter all dem diplo­ma­ti­schen Gefa­sel lag die Dro­hung der nuklea­ren Zer­stö­rung, zur Not eben inklu­si­ve des Risi­kos der eige­nen Ver­nich­tung, soll­ten die Außer­ir­di­schen ihr Wis­sen nicht frei­wil­lig mit uns tei­len wol­len.
Zwölf Mona­te lang weil­ten die Außer­ir­di­schen anschlie­ßend auf der Erde, betrie­ben For­schung, stell­ten Fra­gen, leb­ten unter uns und unter­such­ten unse­re Lebens­wei­se. Sie lasen unse­re Geschichts­bü­cher, erhiel­ten Zugriff auf staat­li­che Archi­ve, stu­dier­ten unse­ren All­tag und die Art, wie wir uns gesell­schaft­lich zu orga­ni­sie­ren gewohnt waren. Sie durch­wühl­ten unse­ren Müll, was uns ein wenig beun­ru­hig­te, weil wir sehr viel davon her­stell­ten und oft genug gera­de sol­che Din­ge in den Müll schmis­sen, von denen wir nicht ein­mal woll­ten, dass unser Nach­bar dar­über Bescheid wüss­te. Man­che unse­rer Medi­en mach­ten sich über sie lus­tig und bezeich­ne­ten sie als inter­ga­lak­ti­sche Pen­ner, weil sie so weit gereist waren, nur um dann unse­ren Müll zu durch­su­chen. In dem zu wüh­len, was ande­re müh­sam gekauft und dann weg­ge­schmis­sen hat­ten, das fan­den wir nicht in Ord­nung, weder im Fall ter­res­tri­scher noch im Fall außer­ter­res­tri­scher Müll­die­be, aber bei letz­te­ren mach­ten wir eine Aus­nah­me, weil sie uns im Gegen­satz zum Obdach­lo­sen von der Stra­ße nun ein­mal lei­der über­le­gen waren.
Sie durch­wühl­ten jedoch nicht nur unse­ren Müll und im meta­pho­ri­schen Sinn unse­re Geschich­te, son­dern beob­ach­te­ten auch sehr genau, wie wir Men­schen mit­ein­an­der umgin­gen und wie wir mit allem ande­ren haus­hiel­ten, was die­ser Pla­net uns zur Ver­fü­gung stell­te. Es gab vie­le ver­schie­de­ne Arten, die mensch­li­che Geschich­te zu betrach­ten, doch unterm Strich lief alles dar­auf hin­aus, dass ein­fach lau­ter Men­schen lau­ter ande­re Men­schen umge­bracht hat­ten oder, wenn gera­de kei­ne ande­ren Men­schen zur Ver­fü­gung stan­den, dann eben die nächst­bes­ten Lebe­we­sen. Wir haben das schon immer für ein Zei­chen von Intel­li­genz und Zivi­li­sa­ti­on gehal­ten, also gab es nichts, wofür wir uns hät­ten schä­men müs­sen.
Nach­dem sie die­se zwölf Mona­te mit For­schung und Beob­ach­tung ver­bracht hat­ten, erklär­ten sie uns, sie wür­den die Erde nun wie­der ver­las­sen, genau wie sie es uns ange­kün­digt hat­ten. Die Staats­män­ner aller Natio­nen zeig­ten sich ange­sichts die­ser Nach­richt sehr trau­rig, waren inner­lich aber froh, die­se über­le­ge­nen Kon­kur­ren­ten end­lich wie­der los­zu­wer­den und ver­säum­ten es auch nicht, mit Nach­druck auf die ver­spro­che­ne Unter­stüt­zung der Außer­ir­di­schen hin­zu­wei­sen. Wenn Staa­ten auf etwas hin­wei­sen, dann machen sie das oft sehr sub­til, bei­spiels­wei­se mit Pan­zern, Bom­ben und gro­ßen Kriegs­schif­fen. Auf die­sen Punkt also ähn­lich sub­til ange­spro­chen, ver­si­cher­ten uns die Besu­cher ohne auch nur einen Moment des Zögerns, sie wür­den selbst­ver­ständ­lich zu ihrem Ver­spre­chen ste­hen. Sie baten uns ledig­lich um etwas mehr Geduld und um die Mög­lich­keit, zum Abschied vor der Voll­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen spre­chen zu dür­fen.
Es ließ sich kaum ver­heh­len, dass man ihnen alles Mög­li­che zuge­stan­den hät­te, wenn sie nur end­lich wie­der abge­flo­gen und unse­re eta­blier­ten Macht­struk­tu­ren in Ruhe gelas­sen hät­ten, also wur­de ihnen ihre Rede gewährt. Eine Rede vor der Voll­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen hat­te in der Regel auf die Welt­po­li­tik unge­fähr so viel Ein­fluss wie das betrun­ken von sich gege­be­ne Stamm­tisch­ge­schwätz in einer belie­bi­gen Knei­pe, nur war die Wahr­schein­lich­keit um eini­ges grö­ßer, an einem Knei­pen­tisch einen Ehren­mann vor­zu­fin­den. Mit gro­ßem Getö­se fei­er­te man den Tag des Abschieds, der wie ein Tag der Befrei­ung behan­delt wur­de, obwohl sie uns gegen­über nie als Besat­zer auf­ge­tre­ten waren. Reih­um hiel­ten die Regie­rungs­chefs der größ­ten Län­der ihre Anspra­chen, in denen sie sich vor Lob und auf­ge­setz­ter Dank­bar­keit gera­de­zu über­schlu­gen. Als letz­tes trat ein Ver­tre­ter der Besu­cher nach vor­ne ans Red­ner­pult.
Die Mensch­heit wur­de wegen zahl­rei­cher Ver­bre­chen gegen das Leben zum Aus­ster­ben ver­ur­teilt. Wäre das empör­te Gere­de im Saal nicht so laut gewe­sen, man hät­te das glo­ba­le Unter­kie­fer­her­un­ter­klap­pen tat­säch­lich hören kön­ne. Die Schwe­re des Ver­bre­chens und das dar­aus her­vor­ge­hen­de schar­fe Urteil, so erklär­ten sie uns, wur­den deut­lich bei Betrach­tung der geschicht­li­chen Ent­wick­lung unse­rer Spe­zi­es. Anstatt aus Ver­feh­lun­gen zu ler­nen, und an Ver­feh­lun­gen zeig­te sich die mensch­li­che Geschich­te reich, waren über Gene­ra­tio­nen hin­weg die Mög­lich­kei­ten ver­fei­nert wor­den, den eige­nen Erobe­rungs­feld­zug gegen den Pla­ne­ten und letzt­lich das gesam­te Uni­ver­sum zu opti­mie­ren, offen­sicht­lich ohne jedes Gefühl der Reue, ohne Skru­pel und ohne Rück­sicht auf mensch­li­ches oder nicht­mensch­li­ches Leben. Um eine Gefahr für ande­re Pla­ne­ten und deren Lebens­for­men abzu­wen­den, habe man sich dar­auf geei­nigt, prä­ven­tiv ein­zu­grei­fen. Wie um die­sen Ankla­ge­punkt sofort zu bestä­ti­gen, droh­ten eini­ge Staa­ten mit der ato­ma­ren Ant­wort auf die­ses in ihren Augen lächer­li­che Urteil, und es hät­te bloß eines durch­schnitt­li­chen mensch­li­chen Idio­ten bedurft, um die­se Dro­hung ernst­haft umzu­set­zen, doch war der zum Glück ent­we­der gera­de in der Knei­pe oder ein­fach zu unfä­hig für die gestell­te Auf­ga­be.
Wie unse­re Besu­cher uns erklär­ten, hat­ten sie der Erd­at­mo­sphä­re eine spe­zi­ell für die­sen Zweck ent­wi­ckel­te Art von Mikro­or­ga­nis­men bei­gefügt, die das Urteil bio­tech­no­lo­gisch umset­zen soll­ten, indem sie aus­schließ­lich die mensch­li­che Spe­zi­es befal­len und mit makel­lo­ser Effek­ti­vi­tät deren Unfrucht­bar­keit bewir­ken wür­den. Dann ver­lie­ßen sie unse­ren Pla­ne­ten wie­der.
Natür­lich haben wir ver­sucht, uns mit ver­zwei­fel­ter Anstren­gung gegen die Fol­gen der extra­ter­res­tri­schen Inter­ven­ti­on zu weh­ren, wir tun es noch immer. Unse­re Wis­sen­schaft­ler waren sich bereits nach kur­zer Zeit sehr sicher, die ver­ant­wort­li­chen Mikro­or­ga­nis­men schnell ana­ly­sie­ren und unschäd­lich machen zu kön­nen, wie sie sich bereits bei allen ande­ren drän­gen­den Pro­ble­men der Mensch­heit zuvor stets schnell sicher gewe­sen waren, die­se unter Kon­trol­le brin­gen zu kön­nen. Die Stra­fe der außer­ir­di­schen Besu­cher hat ermög­licht, was zuvor nur blo­ße Uto­pie war. Zum ers­ten Mal in der Geschich­te der Mensch­heit ist zu beob­ach­ten, dass alle Staa­ten, alle Kon­ti­nen­te, alle Grup­pen und alle Frak­tio­nen fried­lich zusam­men­ar­bei­ten, denn es geht um nicht weni­ger als das ver­bin­den­de Pro­jekt, eine ret­ten­de Lösung zu fin­den, die der Mensch­heit das Über­le­ben ermög­li­chen soll. Je län­ger wir dar­an arbei­ten, des­to deut­li­cher wird jedoch auch, dass wir gegen den tech­no­lo­gi­schen Vor­sprung unse­rer Rich­ter ver­mut­lich kei­ne ernst­zu­neh­men­de Chan­ce haben wer­den. Die Zeit läuft uns davon. Seit sieb­zehn Jah­ren wur­de auf dem gesam­ten Pla­ne­ten kei­ne ein­zi­ge Schwan­ger­schaft mehr ver­zeich­net.
Wir for­der­ten von ihnen eine Form der Unter­stüt­zung, die unse­rer wür­dig sei, und ich fürch­te, genau das haben wir bekommen.

Aber ist es roman­tisch zu wer­ten, wenn Goeb­bels von einer Fahrt in bom­ben­zer­stör­te West­städ­te pathe­tisch lügt, er sel­ber, der doch den Betrof­fe­nen Mut ein­flö­ßen woll­te, fühl­te sich durch ihr uner­schüt­ter­li­ches Hel­den­tum »neu auf­ge­la­den«? Nein, hier wirkt bestimmt und allein die Gewöh­nung, den Men­schen zu einem tech­ni­schen Appa­rat zu ernied­ri­gen.
Ich sage es des­halb mit Bestimmt­heit, weil in den andern tech­ni­schen Meta­phern des Pro­pa­gan­da­mi­nis­ters und des Goeb­bel­s­krei­ses der unmit­tel­ba­re Bezug auf das Maschi­nel­le ohne jede Erin­ne­rung an irgend­wel­che Kraft­strö­me herrscht. Wie­der und wie­der wer­den täti­ge Men­schen mit Moto­ren ver­gli­chen. So heißt es etwa im »Reich« von dem Ham­bur­ger Statt­hal­ter, er sei in sei­ner Arbeit wie »ein immer auf Hoch­tou­ren lau­fen­der Motor«. Viel stär­ker aber als solch ein Ver­gleich, der immer­hin einen Grenz­strich zieht zwi­schen dem Bild und dem damit ver­gli­che­nen Objekt, viel gra­vie­ren­der zeugt für die mecha­ni­sie­ren­de Grund­an­schau­ung ein Goeb­bels­satz wie die­ser: »Wir wer­den in abseh­ba­rer Zeit auf einer Rei­he von Gebie­ten wie­der zu vol­len Tou­ren auf­lau­fen.« Wir wer­den also nicht mehr mit Maschi­nen ver­gli­chen, son­dern wir sind Maschi­nen. Wir: das ist Goeb­bels, das ist die nazis­ti­sche Regie­rung, das ist die Gesamt­heit Hit­ler­deutsch­lands, die in schwe­rer Not, bei schreck­li­chem Kräf­te­ver­lust ermu­tigt wer­den soll; und sich sel­ber und all sei­ne Getreu­en ver­gleicht der sprach­ge­wal­ti­ge Pre­di­ger nicht etwa, nein, iden­ti­fi­ziert er mit Maschi­nen. Eine ent­geis­tig­te­re Denk­art als die sich hier ver­ra­ten­de ist unmöglich.
(Vic­tor Klem­pe­rer – LTI)

Jedes Mal, wenn sich ein Jahr sei­nem Ende ent­ge­gen­neigt, machen sich unzäh­li­ge Men­schen gut gemein­te Gedan­ken zum Ablauf des bald dar­auf anbre­chen­den Jah­res und nen­nen ihre Plä­ne, die dar­aus her­vor­ge­hen, gute Vor­sät­ze. Rau­cher wol­len Nicht­rau­cher wer­den, Sport­muf­fel zu Frei­zeit­ath­le­ten, Fau­len­zer zu Arbeits­tie­ren. Die­se guten Vor­sät­ze sind in der Regel noch vor Febru­ar wie­der vergessen.

Wenn es etwas gab, das sie in die­ser Zeit des Jah­res am meis­ten hass­te, dann waren es die guten Vor­sät­ze ande­rer Men­schen und deren auf­dring­li­che Art, die­se Vor­sät­ze jedem Inter­es­sier­ten und Des­in­ter­es­sier­ten glei­cher­ma­ßen unter die Nase zu rei­ben. Auch sie hat­te sich Gedan­ken zum Ablauf des kom­men­den Jah­res gemacht, war dabei aller­dings auf eine ande­re Idee gekom­men, die ihr wesent­lich sym­pa­thi­scher erschien. Sie hat­te sich vor­ge­nom­men, ab Neu­jahr täg­lich in einem klei­nen schwar­zen Büch­lein zu notie­ren, was ihr an jedem ein­zel­nen Tag Schö­nes wider­fah­ren wür­de. Es muss­te nichts Gro­ßes sein, nichts Über­wäl­ti­gen­des, ein­fach etwas Schö­nes, etwas Gutes, etwas Posi­ti­ves, das ihr den Tag und damit auch das Leben ein wenig auf­ge­hei­tert oder erhellt, das ihr viel­leicht sogar einen Blick auf die­ses so genann­te Glück ermög­licht hatte.

Das alles begann vor einem Jahr. Nun, drei­hun­dert­zwei­und­sech­zig Tage spä­ter, saß sie bei Nacht in ihrem Zim­mer und blät­ter­te durch das Notiz­buch, das sie mit ihren Erleb­nis­sen gefüt­tert hat­te, um sich so kurz vor Sil­ves­ter die ver­gan­ge­nen zwölf Mona­te noch ein­mal Tag für Tag durch den Kopf gehen zu las­sen, die ange­neh­men wie die bedrü­cken­den Zei­ten. Sie hat­te ein gutes Gefühl dabei, denn das letz­te Jahr war schnell ver­gan­gen, fast schon zu schnell, und wenn etwas schnell ver­geht, ja zu schnell gar, dann ist das in der Regel doch ein Zei­chen dafür, dass man eine gute Zeit ver­bracht hat­te. Die guten Zei­ten ver­ge­hen immer wie im Flug, das ist das Trau­ri­ge an ihnen und der Grund, wes­halb sie so sel­ten das Gewicht der schwe­ren Zei­ten auf­wie­gen kön­nen, die sich ihrer­seits wie Fuß­ket­ten an das Leben bin­den, sodass man sich fühlt, als wür­de man durch ein Moor waten und nicht vor­an­kom­men. Zwar waren in die­sem Jahr nicht alle ihre Wün­sche in Erfül­lung gegan­gen, aber wer konn­te das schon von sich behaupten.

Als sie anfing, die ers­ten Sei­ten durch­zu­blät­tern und dabei die täg­li­chen Ein­trä­ge zu stu­die­ren, muss­te sie schmun­zeln. Sie ging in die Küche, öff­ne­te sich eine Fla­sche Wein und wid­me­te sich der wei­te­ren Lek­tü­re. Was sie las, stimm­te sie zufrie­den. Es waren Klei­nig­kei­ten, aber es waren teils süße, teils herz­er­wär­men­de, teils völ­lig in Ver­ges­sen­heit gera­te­ne Gescheh­nis­se, die sie dort sah, und es waren Din­ge, die sie auch heu­te noch fröh­lich gemacht hät­ten, wür­den sie ihr erneut pas­sie­ren. Sie las die Ein­trä­ge des gesam­ten Janu­ars und dann die Noti­zen des fol­gen­den Febru­ars. Ihr fiel auf, dass sich eini­ge Erleb­nis­se bereits wie­der­hol­ten, doch das stör­te sie nicht wei­ter. Ganz im Gegen­teil, ent­wi­ckel­te sich beim Lesen eine gewis­se Span­nung, denn da Janu­ar und Febru­ar recht ruhig ver­lau­fen waren, fie­ber­te sie inner­lich dem ers­ten außer­ge­wöhn­li­chen, dem ers­ten auf­fäl­li­gen, dem ers­ten bedeu­ten­den Ein­trag ent­ge­gen, was nun wie­der­um nicht hieß, dass die bis­he­ri­gen Ein­trä­ge für sie unbe­deu­tend gewe­sen wären, nur waren es Bana­li­tä­ten, all­täg­li­che Gescheh­nis­se, die sicher­lich jedem zuteil­wur­den und sich jeder­zeit wie­der ereig­nen könn­ten, wenn sie ein­fach nur einen völ­lig nor­ma­len Tag ver­brin­gen oder durch die Fuß­gän­ger­zo­ne schlen­dern würde.

Sie setz­te ihre Hoff­nun­gen in den März, denn end­lich, ja end­lich muss­te doch etwas Auf­re­gen­des gesche­hen sein. Beim Lesen offen­bar­te sich ihr dann aller­dings das gewohn­te Bild, das Janu­ar und Febru­ar ihr bereits zur Genü­ge prä­sen­tiert hat­ten. Lang­sam wur­de sie unge­dul­dig. Viel­leicht ist es doch eine blö­de Idee gewe­sen, die­ses Büch­lein zu füh­ren, dach­te sie sich und blät­ter­te nun ganz zufäl­lig durch die Sei­ten, bis sie einen Tag im Juni auf­schlug, immer noch auf der Suche nach span­nen­den, irgend­wie berüh­ren­den Ereig­nis­sen. „Fünf Euro auf dem Weg zur Arbeit gefun­den“ las sie da und lach­te. Nein, das war nun wirk­lich weder span­nend noch berüh­rend. Der fol­gen­de Tag war dem­ge­gen­über schon etwas bes­ser, denn dort hat­te sie notiert: „Im Regen spa­zie­ren gegan­gen“. Sie lieb­te es, im Regen durch die Stra­ßen der Stadt spa­zie­ren zu gehen, inso­fern war dies nun für sie zwar ein irgend­wie berüh­ren­der, aber kein son­der­lich her­vor­ste­chen­der, kein außer­ge­wöhn­li­cher, kein befrie­di­gen­der Ein­trag. Sie blät­ter­te wei­ter­hin wahl­los im Juni her­um, las „Von einem Kol­le­gen ein Stück Kuchen bekom­men“ oder „Jeman­dem den Weg erklärt“, fand „Eine Frau hat mir lächelnd die Tür der Stra­ßen­bahn auf­ge­hal­ten“ und „Himm­lisch geschla­fen“, aber rein gar nichts, von dem sie sagen konn­te, es sei etwas Beson­de­res gewe­sen, das ihr ein Stück vom Glück dar­ge­bo­ten hät­te. Das müs­sen ziem­lich schlech­te Tage gewe­sen sein, dach­te sie und blät­ter­te wei­ter, doch was sie auf den Sei­ten der dar­auf­fol­gen­den Wochen lesen konn­te, kam ihr noch bana­ler, noch unwich­ti­ger, jeden­falls kei­nes­wegs erfül­lend oder ein­fach bloß gut vor, son­dern irgend­wie leer. Sie fühl­te sich wie jemand, der in der Lot­te­rie gewinnt und dann aber fest­stel­len muss, dass alle ande­ren eben­falls gewon­nen haben. Nun, dann sind es eben kei­ne schlech­ten Tage gewe­sen, schlech­te Wochen müs­sen es gewe­sen sein. Sie such­te wei­ter. Es waren kei­ne schlech­ten Tage gewe­sen, muss­te sie fest­stel­len, auch kei­ne schlech­ten Wochen, es waren die bes­ten Tage im gan­zen Monat gewe­sen, sogar in zwei Mona­ten, und der Rest des Jah­res war, von ein­zel­nen Aus­nah­men abge­se­hen, nicht viel besser. 

Konn­te das wirk­lich die Wahr­heit sein? Sie hat­te für jeden Tag des Jah­res jeweils nur das eine, das aller­bes­te Erleb­nis notiert, das ihr wider­fah­ren war, die bes­te Hand­lung, die sie voll­bracht, oder das schöns­te Gefühl, das sie an die­sem Tag emp­fun­den hat­te – und die­se Din­ge, die sie da lesen muss­te, die­se Bana­li­tä­ten, die­se Nich­tig­kei­ten, die­se lieb­lo­sen lee­ren Wor­te, die sie kaum zu lesen wag­te, die waren genau das, alles erschöpf­te sich in die­sen Belang­lo­sig­kei­ten? Die­se Ein­trä­ge vol­ler unbe­deu­ten­der All­täg­lich­kei­ten waren alles, was ihr Leben in die­sem einen Jahr aus­ge­macht hat­te? Das war das Bes­te, was die Welt ihr in die­sen Wochen und Mona­ten gebo­ten hat­te? Mehr war da nicht?

Was sie außer­dem beun­ru­hig­te, waren Ein­trä­ge wie der fol­gen­de: „Net­ter Kas­sie­rer hat mir zuge­zwin­kert“. Das gan­ze letz­te Jahr hat­te sie allein ver­bracht, genau wie auch das Jahr zuvor. Sie fand vie­le wei­te­re Ein­trä­ge, die Ähn­li­ches fest­ge­hal­ten hat­ten, ob es sich dabei nun um Kas­sie­rer, Jog­ger, U‑Bahn-Fahr­­gäs­­te oder irgend­wel­che Cal­l­cen­­­ter-Mit­ar­­bei­­ter gehan­delt hat­te. Sie las die­se Ein­trä­ge und sah dar­in den Unter­ton, mit dem sie sie wahr­schein­lich auch geschrie­ben hat­te: Jemand fin­det mich gut, jemand mag mich, ich bin etwas wert. War sie so ver­zwei­felt nach mensch­li­cher Nähe, nach dem Gefühl, jeman­dem – irgend­je­man­dem – zu gefal­len? Ihre Zufrie­den­heit begann zu bröckeln.

Sie nann­te es ein Leben, was sie da geführt hat­te, nun aber frag­te sie sich, ob es denn wirk­lich mehr war als eine unbe­deu­ten­de Exis­tenz. Ver­zwei­felt such­te sie nach einem Ein­trag, der her­aus­stach, der beson­ders war, der es wert war, das Bes­te eines Tages, eines Monats, eines Jah­res zu sein. Sie fand abso­lut nichts, was sie über­zeugt, was sie beein­druckt oder was ihr das Gefühl gege­ben hät­te, ein gutes Jahr hin­ter sich zu haben. Sie ver­miss­te das gro­ße Glück.

Eines Tages blickt man in den Spie­gel und begreift, dass man nie­mals mehr sein wird als das, was man dort sieht. Mit die­ser Erkennt­nis kann man wei­ter­le­ben und sie akzep­tie­ren, man kann sich umbrin­gen, um allem zu ent­ge­hen, oder man blickt nie wie­der in einen Spiegel.

Es war weni­ge Tage vor Sil­ves­ter, als sie zum letz­ten Mal eine lee­re Sei­te in ihrem schwar­zen Büch­lein auf­schlug und mit zitt­ri­gen Fin­gern ledig­lich das Wort „Ende“ hineinschrieb.

Der Mensch will nur,
dass man ver­steht,
was in ihm drin
so vor sich geht.
Er will das frei­lich
ohne Mühe,
mag nicht reden,
sich erklä­ren,
will nicht
aus dem Häus­chen kom­men,
zu viel Welt
macht ihn beklom­men;
öff­net kei­nem
sei­ne Pfor­te,
zäunt sich ein,
ver­liert kaum Wor­te;
und klopft doch mal einer an,
ver­schließt er sich,
so gut er kann,
dann brüllt er:
Kei­ner soll es wagen,
durch ein Fens­ter rein­zu­spähn! -
und jam­mert stets
tag­ein, tag­aus:
Ach, wenn es da nur jemand‘ gäbe,
der ver­sucht‘,
mich zu verstehn.

(2010)

Selbst wenn wir wis­sen, daß ein nie zustan­de kom­men­des Werk schlecht sein wird, ein nie begon­ne­nes ist noch schlech­ter! Ein zustan­de gekom­me­nes Werk ist zumin­dest ent­stan­den. Kein Meis­ter­werk viel­leicht, aber es exis­tiert, wenn auch küm­mer­lich wie die Pflan­ze im ein­zi­gen Blu­men­topf mei­ner gebrech­li­chen Nach­ba­rin. Die­se Pflan­ze ist ihre Freu­de, und hin und wie­der auch die mei­ne. Was ich schrei­be und als schlecht erken­ne, kann den­noch die eine oder ande­re ver­wun­de­te, trau­ri­ge See­le für Augen­bli­cke noch Schlech­te­res ver­ges­sen las­sen. Ob es mir nun genügt oder nicht, es nützt auf irgend­ei­ne Art, und so ist das gan­ze Leben.
(Fer­nan­do Pes­soa – Das Buch der Unruhe)