Eige­ne Kurzgeschichten

Als die ers­ten Signa­le aus dem All emp­fan­gen wur­den, konn­te noch nie­mand wis­sen, was auf uns zukom­men wür­de. Die Streit­kräf­te der größ­ten Natio­nen berei­te­ten erwar­tungs­ge­mäß recht grim­mi­ge Ver­tei­di­gungs­maß­nah­men vor und waren über­aus besorgt, wie sie das immer sind, wenn etwas Unvor­her­ge­se­he­nes geschieht, weil es Auf­ga­be des Mili­tärs ist, besorgt und mög­lichst grim­mig zu sein. Die Mas­sen­me­di­en über­schlu­gen sich mit ihrer Bericht­erstat­tung, sie wett­ei­fer­ten gera­de­zu um die wil­des­ten Gerüch­te und schür­ten glo­ba­le Panik, wie sie es immer tun, weil sie das für ihre gött­li­che Beru­fung hal­ten. Sek­ten und Welt­un­ter­gangs­spin­ner sahen mit einem nicht zu ver­heh­len­den Stolz das end­gül­ti­ge Ende her­auf­zie­hen, das sie dem Rest der Bevöl­ke­rung schon seit Ewig­kei­ten gepre­digt hat­ten, ohne jemals von irgend­je­man­dem wirk­lich ernst genom­men wor­den zu sein. Poli­ti­ker aller Län­der began­nen damit, trotz ihrer bis­he­ri­gen Kon­flikt­li­ni­en auf ein­mal offen mit­ein­an­der zu reden, weil sie nun einen neu­en, gemein­sa­men Feind iden­ti­fi­zie­ren konn­ten, der ihnen womög­lich die Macht über ihr Revier strei­tig zu machen droh­te. Zusam­men­fas­send muss man sagen, dass sich die Erde in ein kopf­lo­ses Toll­haus ver­wan­del­te, doch genau genom­men kann die­se Bezeich­nung dem gan­zen Vor­gang nicht völ­lig gerecht wer­den, weil man der Wahr­heit zulie­be ergän­zen müss­te, dass sie ein noch viel grö­ße­res Toll­haus wur­de, als sie es nor­ma­ler­wei­se sowie­so schon war.
Unse­re Ver­su­che, noch wäh­rend ihres Anflugs auf die Erde irgend­ei­ne Art von Kon­takt mit ihnen her­zu­stel­len, schlu­gen alle­samt fehl, also blieb uns nichts wei­ter übrig, als ner­vös ihre Ankunft abzu­war­ten und das Bes­te zu hof­fen. Je nach Men­schen­we­sen, das man dazu befragt hät­te, wäre die Vor­stel­lung dar­über, was die­ses Bes­te denn über­haupt sei, sicher­lich sehr unter­schied­lich aus­ge­fal­len. Die einen erhoff­ten sich von den Besu­chern aus dem All einen gewal­ti­gen kul­tu­rel­len und tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt, ande­re sahen es als Gele­gen­heit, ja als Her­aus­for­de­rung an, end­lich ein paar Wesen abseits der gewohn­ten Fau­na abzu­knal­len, was nach so vie­len Jah­ren voll umfang­rei­cher Pra­xis­er­fah­rung lang­sam lang­wei­lig zu wer­den droh­te, und wie­der ande­re mal­ten sich neue sexu­el­le Erfah­run­gen aus. Ob sie wohl auch auf die Erde gekom­men wären, wenn sie die­se Gedan­ken alle­samt gekannt hätten?
Ande­rer­seits gibt es Idio­ten wirk­lich über­all, also sicher auch unter extra­ter­res­tri­schen Lebens­for­men, wes­we­gen mensch­li­che Idio­tie für unse­re Besu­cher kei­ne all­zu gro­ße Über­ra­schung gewe­sen sein dürf­te. Ob einer ein Idi­ot ist, hat dabei jedoch nichts damit zu tun, wie intel­li­gent er ist oder eben nicht, denn oft genug stel­len sich gera­de die Intel­li­gen­tes­ten als die größ­ten Idio­ten her­aus, weil sie es eigent­lich bes­ser wis­sen müss­ten. Wenn es eines gibt, das jede Kul­tur im Uni­ver­sum ver­bin­det, dann ist es mit Sicher­heit die Exis­tenz von Idio­ten, und man müss­te die Evo­lu­ti­on wirk­lich ein­mal fra­gen, was sie sich dabei eigent­lich gedacht hat. Wahr­schein­lich gar nichts. Die Evo­lu­ti­on ist auch ein Idi­ot. Gott habe den Men­schen nach sei­nem eige­nen Bil­de erschaf­fen, heißt es dage­gen in man­cher Reli­gi­on, doch wenn es unter den Men­schen so vie­le Idio­ten gibt, was hie­ße das dann im Umkehr­schluss für Gott? Er kann sich glück­lich schät­zen, dass es ihn nicht gibt.
Sie lan­de­ten jeden­falls in der Nähe von She­n­yang, einer Stadt im Nord­os­ten Chi­nas, ohne dass unse­rer­seits beson­de­re Begrü­ßungs­maß­nah­men hät­ten vor­be­rei­tet wer­den kön­nen, weil uns voll­kom­men unbe­kannt war, wo sie Fuß auf die­sen Pla­ne­ten set­zen wür­den. Bis heu­te wis­sen wir nicht, wes­halb sie aus­ge­rech­net dort gelan­det sind. Ver­mut­lich war die­ser Platz so gut wie jeder ande­re, aber all die ver­schmäh­ten Staa­ten waren sich nicht zu fein, sofort die böses­te Gerüch­te kur­sie­ren zu las­sen, Chi­na habe schon Kon­takt zu unse­ren Besu­chern gehabt und ste­cke mit ihnen unter einer Decke, um die gesam­te Mensch­heit end­lich zu ver­skla­ven. Gewähl­te Staats­chefs zeig­ten sich belei­digt wie ein klei­nes Kind, das empört fest­stel­len muss, dass es von der Kin­der­gärt­ne­rin nicht aus­rei­chend beach­tet wird, wobei aus­rei­chend mit exklu­siv zu über­set­zen ist. Wer hat­te sie eigent­lich gewählt? Mit Sicher­heit Idioten.
Als sie lan­de­ten, geschah alles so, wie es immer geschieht, und war dar­um irgend­wie rich­tig lang­wei­lig. Das Mili­tär fuhr schwe­res Geschütz auf, um den uner­war­te­ten Besu­chern ohne jede Ver­zö­ge­rung unmiss­ver­ständ­lich die Stär­ke der Erd­be­völ­ke­rung zu demons­trie­ren, wäh­rend sich die Staats­män­ner gegen­sei­tig bei dem Ver­such über­trumpf­ten, das eige­ne Land als kul­tu­rell und tech­no­lo­gisch füh­rend her­aus­zu­stel­len, was beson­ders pein­lich aus­sah für jene, deren größ­te kul­tu­rel­le Leis­tung es bis dahin gewe­sen war, im Inter­net bestimm­te eri­gier­te Kör­per­tei­le zu prä­sen­tie­ren. Die Außer­ir­di­schen beein­druck­te weder das eine noch das ande­re. Mir schien es, als sei­en sie den Wir­bel um ihre Ankunft gewohnt, als sähen sie über all die­sen Tru­bel gleich­gül­tig, viel­leicht auch amü­siert hinweg.
Ihr Raum­schiff erschien uns auf den ers­ten Blick ziem­lich unspek­ta­ku­lär und war weder beson­ders impo­sant noch auf irgend­ei­ne Art mys­te­ri­ös, im Ver­gleich mit den Fan­ta­sie­ge­bil­den unzäh­li­ger Sci­ence-Fic­tion-Autoren kam es mir ganz und gar öde vor.
Die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit uns war für unse­re neu­ge­won­ne­nen Gäs­te kein Pro­blem, auch wenn sie uns nie ver­ra­ten haben, wie sie die­se Kennt­nis­se eigent­lich erlangt hat­ten. Viel­leicht hat­ten sie unse­re Radio- und Fern­seh­über­tra­gun­gen emp­fan­gen, bevor sie auf unse­ren Pla­ne­ten kamen. Eine intel­li­gen­te Lebens­form, die mensch­li­che Radio- und Fern­seh­über­tra­gun­gen emp­fängt und dann unse­rem Pla­ne­ten trotz­dem noch einen Besuch abstat­ten möch­te, ist ent­we­der extrem tole­rant und offen­her­zig oder ziem­lich idio­tisch. Die Mensch­heit mach­te sich, wohl zu ihrer eige­nen Ent­las­tung, dar­über aller­dings gar kei­ne Gedan­ken oder wenn doch, dann nahm sie zumin­dest ers­te­res an.
Die Außer­ir­di­schen inter­es­sier­ten sich sehr für die Geschich­te der domi­nan­ten Spe­zi­es auf die­sem Pla­ne­ten und wie es der Zufall ergab, waren wir das. Wir waren sogar so domi­nant, dass vie­le ande­re Lebens­for­men in einem mehr als devo­ten Ges­tus das Fort­set­zen der eige­nen Spe­zi­es mehr oder weni­ger frei­wil­lig auf­ga­ben, um uns noch domi­nan­ter wer­den zu las­sen. Rück­bli­ckend muss man sagen, dass wir ihnen dafür wenigs­tens mal eine Gruß­kar­te hät­ten schrei­ben kön­nen, doch wir Men­schen sind schon seit Beginn unse­rer gro­ßen Erfolgs­ge­schich­te sehr gut dar­in gewe­sen, mora­li­sche Grund­la­gen dafür zu erfin­den, wenn die­je­ni­gen Lebe­we­sen, die wir gut fin­den, jene Lebe­we­sen töten, die wir nicht so gut fin­den. Uns selbst fan­den wir schon immer ver­dammt gut. Unse­re Besu­cher jeden­falls baten uns um den Zugriff auf unse­re Archi­ve, auf Tech­no­lo­gie und auf das Know-how, das die Mensch­heit im Lau­fe ihrer Ent­wick­lung ange­sam­melt hat­te. Sie sag­ten uns, dass sie für genau ein Jahr unse­rer Zeit­rech­nung auf der Erde blei­ben wür­den, um ihre Expe­di­ti­on, wie sie es nann­ten, durch­zu­füh­ren und uns danach wie­der zu verlassen.
Das Mili­tär zeig­te sich zunächst skep­tisch, weil Mili­tär grund­sätz­lich jedem fried­li­chen Han­deln skep­tisch gegen­über­steht, aber nach­dem auch den aggres­sivs­ten Köp­fen klar­ge­wor­den war, dass wir tech­no­lo­gisch hoff­nungs­los zurück­la­gen und eine mili­tä­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung nie wür­den gewin­nen kön­nen, wur­de der voll­um­fäng­li­chen Koope­ra­ti­on schließ­lich zugestimmt.
Im Gegen­zug for­der­ten die Staa­ten der Erde von den Außer­ir­di­schen umfang­rei­che Ent­wick­lungs­hil­fe, die unse­rer Intel­li­genz und Stel­lung wür­dig sei. Sie haben es nicht so aus­ge­drückt, aber es wur­de klar, dass sie es genau so mein­ten. Die mäch­ti­gen Staats­män­ner sag­ten, sie wür­den es als Zei­chen der Koope­ra­ti­on und der gegen­sei­ti­gen Fried­fer­tig­keit betrach­ten, wenn uns die Außer­ir­di­schen mit ihrem gewal­ti­gen Wis­sens­vor­sprung unter die Arme grei­fen wür­den, doch unter all dem diplo­ma­ti­schen Gefa­sel lag die Dro­hung der nuklea­ren Zer­stö­rung, zur Not eben inklu­si­ve des Risi­kos der eige­nen Ver­nich­tung, soll­ten die Außer­ir­di­schen ihr Wis­sen nicht frei­wil­lig mit uns tei­len wollen.
Zwölf Mona­te lang weil­ten die Außer­ir­di­schen anschlie­ßend auf der Erde, betrie­ben For­schung, stell­ten Fra­gen, leb­ten unter uns und unter­such­ten unse­re Lebens­wei­se. Sie lasen unse­re Geschichts­bü­cher, erhiel­ten Zugriff auf staat­li­che Archi­ve, stu­dier­ten unse­ren All­tag und die Art, wie wir uns gesell­schaft­lich zu orga­ni­sie­ren gewohnt waren. Sie durch­wühl­ten unse­ren Müll, was uns ein wenig beun­ru­hig­te, weil wir sehr viel davon her­stell­ten und oft genug gera­de sol­che Din­ge in den Müll schmis­sen, von denen wir nicht ein­mal woll­ten, dass unser Nach­bar dar­über Bescheid wüss­te. Man­che unse­rer Medi­en mach­ten sich über sie lus­tig und bezeich­ne­ten sie als inter­ga­lak­ti­sche Pen­ner, weil sie so weit gereist waren, nur um dann unse­ren Müll zu durch­su­chen. In dem zu wüh­len, was ande­re müh­sam gekauft und dann weg­ge­schmis­sen hat­ten, das fan­den wir nicht in Ord­nung, weder im Fall ter­res­tri­scher noch im Fall außer­ter­res­tri­scher Müll­die­be, aber bei letz­te­ren mach­ten wir eine Aus­nah­me, weil sie uns im Gegen­satz zum Obdach­lo­sen von der Stra­ße nun ein­mal lei­der über­le­gen waren.
Sie durch­wühl­ten jedoch nicht nur unse­ren Müll und im meta­pho­ri­schen Sinn unse­re Geschich­te, son­dern beob­ach­te­ten auch sehr genau, wie wir Men­schen mit­ein­an­der umgin­gen und wie wir mit allem ande­ren haus­hiel­ten, was die­ser Pla­net uns zur Ver­fü­gung stell­te. Es gab vie­le ver­schie­de­ne Arten, die mensch­li­che Geschich­te zu betrach­ten, doch unterm Strich lief alles dar­auf hin­aus, dass ein­fach lau­ter Men­schen lau­ter ande­re Men­schen umge­bracht hat­ten oder, wenn gera­de kei­ne ande­ren Men­schen zur Ver­fü­gung stan­den, dann eben die nächst­bes­ten Lebe­we­sen. Wir haben das schon immer für ein Zei­chen von Intel­li­genz und Zivi­li­sa­ti­on gehal­ten, also gab es nichts, wofür wir uns hät­ten schä­men müssen.
Nach­dem sie die­se zwölf Mona­te mit For­schung und Beob­ach­tung ver­bracht hat­ten, erklär­ten sie uns, sie wür­den die Erde nun wie­der ver­las­sen, genau wie sie es uns ange­kün­digt hat­ten. Die Staats­män­ner aller Natio­nen zeig­ten sich ange­sichts die­ser Nach­richt sehr trau­rig, waren inner­lich aber froh, die­se über­le­ge­nen Kon­kur­ren­ten end­lich wie­der los­zu­wer­den und ver­säum­ten es auch nicht, mit Nach­druck auf die ver­spro­che­ne Unter­stüt­zung der Außer­ir­di­schen hin­zu­wei­sen. Wenn Staa­ten auf etwas hin­wei­sen, dann machen sie das oft sehr sub­til, bei­spiels­wei­se mit Pan­zern, Bom­ben und gro­ßen Kriegs­schif­fen. Auf die­sen Punkt also ähn­lich sub­til ange­spro­chen, ver­si­cher­ten uns die Besu­cher ohne auch nur einen Moment des Zögerns, sie wür­den selbst­ver­ständ­lich zu ihrem Ver­spre­chen ste­hen. Sie baten uns ledig­lich um etwas mehr Geduld und um die Mög­lich­keit, zum Abschied vor der Voll­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen spre­chen zu dürfen.
Es ließ sich kaum ver­heh­len, dass man ihnen alles Mög­li­che zuge­stan­den hät­te, wenn sie nur end­lich wie­der abge­flo­gen und unse­re eta­blier­ten Macht­struk­tu­ren in Ruhe gelas­sen hät­ten, also wur­de ihnen ihre Rede gewährt. Eine Rede vor der Voll­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen hat­te in der Regel auf die Welt­po­li­tik unge­fähr so viel Ein­fluss wie das betrun­ken von sich gege­be­ne Stamm­tisch­ge­schwätz in einer belie­bi­gen Knei­pe, nur war die Wahr­schein­lich­keit um eini­ges grö­ßer, an einem Knei­pen­tisch einen Ehren­mann vor­zu­fin­den. Mit gro­ßem Getö­se fei­er­te man den Tag des Abschieds, der wie ein Tag der Befrei­ung behan­delt wur­de, obwohl sie uns gegen­über nie als Besat­zer auf­ge­tre­ten waren. Reih­um hiel­ten die Regie­rungs­chefs der größ­ten Län­der ihre Anspra­chen, in denen sie sich vor Lob und auf­ge­setz­ter Dank­bar­keit gera­de­zu über­schlu­gen. Als letz­tes trat ein Ver­tre­ter der Besu­cher nach vor­ne ans Rednerpult.
Die Mensch­heit wur­de wegen zahl­rei­cher Ver­bre­chen gegen das Leben zum Aus­ster­ben ver­ur­teilt. Wäre das empör­te Gere­de im Saal nicht so laut gewe­sen, man hät­te das glo­ba­le Unter­kie­fer­her­un­ter­klap­pen tat­säch­lich hören kön­ne. Die Schwe­re des Ver­bre­chens und das dar­aus her­vor­ge­hen­de schar­fe Urteil, so erklär­ten sie uns, wur­den deut­lich bei Betrach­tung der geschicht­li­chen Ent­wick­lung unse­rer Spe­zi­es. Anstatt aus Ver­feh­lun­gen zu ler­nen, und an Ver­feh­lun­gen zeig­te sich die mensch­li­che Geschich­te reich, waren über Gene­ra­tio­nen hin­weg die Mög­lich­kei­ten ver­fei­nert wor­den, den eige­nen Erobe­rungs­feld­zug gegen den Pla­ne­ten und letzt­lich das gesam­te Uni­ver­sum zu opti­mie­ren, offen­sicht­lich ohne jedes Gefühl der Reue, ohne Skru­pel und ohne Rück­sicht auf mensch­li­ches oder nicht­mensch­li­ches Leben. Um eine Gefahr für ande­re Pla­ne­ten und deren Lebens­for­men abzu­wen­den, habe man sich dar­auf geei­nigt, prä­ven­tiv ein­zu­grei­fen. Wie um die­sen Ankla­ge­punkt sofort zu bestä­ti­gen, droh­ten eini­ge Staa­ten mit der ato­ma­ren Ant­wort auf die­ses in ihren Augen lächer­li­che Urteil, und es hät­te bloß eines durch­schnitt­li­chen mensch­li­chen Idio­ten bedurft, um die­se Dro­hung ernst­haft umzu­set­zen, doch war der zum Glück ent­we­der gera­de in der Knei­pe oder ein­fach zu unfä­hig für die gestell­te Aufgabe.
Wie unse­re Besu­cher uns erklär­ten, hat­ten sie der Erd­at­mo­sphä­re eine spe­zi­ell für die­sen Zweck ent­wi­ckel­te Art von Mikro­or­ga­nis­men bei­gefügt, die das Urteil bio­tech­no­lo­gisch umset­zen soll­ten, indem sie aus­schließ­lich die mensch­li­che Spe­zi­es befal­len und mit makel­lo­ser Effek­ti­vi­tät deren Unfrucht­bar­keit bewir­ken wür­den. Dann ver­lie­ßen sie unse­ren Pla­ne­ten wieder.
Natür­lich haben wir ver­sucht, uns mit ver­zwei­fel­ter Anstren­gung gegen die Fol­gen der extra­ter­res­tri­schen Inter­ven­ti­on zu weh­ren, wir tun es noch immer. Unse­re Wis­sen­schaft­ler waren sich bereits nach kur­zer Zeit sehr sicher, die ver­ant­wort­li­chen Mikro­or­ga­nis­men schnell ana­ly­sie­ren und unschäd­lich machen zu kön­nen, wie sie sich bereits bei allen ande­ren drän­gen­den Pro­ble­men der Mensch­heit zuvor stets schnell sicher gewe­sen waren, die­se unter Kon­trol­le brin­gen zu kön­nen. Die Stra­fe der außer­ir­di­schen Besu­cher hat ermög­licht, was zuvor nur blo­ße Uto­pie war. Zum ers­ten Mal in der Geschich­te der Mensch­heit ist zu beob­ach­ten, dass alle Staa­ten, alle Kon­ti­nen­te, alle Grup­pen und alle Frak­tio­nen fried­lich zusam­men­ar­bei­ten, denn es geht um nicht weni­ger als das ver­bin­den­de Pro­jekt, eine ret­ten­de Lösung zu fin­den, die der Mensch­heit das Über­le­ben ermög­li­chen soll. Je län­ger wir dar­an arbei­ten, des­to deut­li­cher wird jedoch auch, dass wir gegen den tech­no­lo­gi­schen Vor­sprung unse­rer Rich­ter ver­mut­lich kei­ne ernst­zu­neh­men­de Chan­ce haben wer­den. Die Zeit läuft uns davon. Seit sieb­zehn Jah­ren wur­de auf dem gesam­ten Pla­ne­ten kei­ne ein­zi­ge Schwan­ger­schaft mehr verzeichnet.
Wir for­der­ten von ihnen eine Form der Unter­stüt­zung, die unse­rer wür­dig sei, und ich fürch­te, genau das haben wir bekommen.

Jedes Mal, wenn sich ein Jahr sei­nem Ende ent­ge­gen­neigt, machen sich unzäh­li­ge Men­schen gut gemein­te Gedan­ken zum Ablauf des bald dar­auf anbre­chen­den Jah­res und nen­nen ihre Plä­ne, die dar­aus her­vor­ge­hen, gute Vor­sät­ze. Rau­cher wol­len Nicht­rau­cher wer­den, Sport­muf­fel zu Frei­zeit­ath­le­ten, Fau­len­zer zu Arbeits­tie­ren. Die­se guten Vor­sät­ze sind in der Regel noch vor Febru­ar wie­der vergessen.

Wenn es etwas gab, das sie in die­ser Zeit des Jah­res am meis­ten hass­te, dann waren es die guten Vor­sät­ze ande­rer Men­schen und deren auf­dring­li­che Art, die­se Vor­sät­ze jedem Inter­es­sier­ten und Des­in­ter­es­sier­ten glei­cher­ma­ßen unter die Nase zu rei­ben. Auch sie hat­te sich Gedan­ken zum Ablauf des kom­men­den Jah­res gemacht, war dabei aller­dings auf eine ande­re Idee gekom­men, die ihr wesent­lich sym­pa­thi­scher erschien. Sie hat­te sich vor­ge­nom­men, ab Neu­jahr täg­lich in einem klei­nen schwar­zen Büch­lein zu notie­ren, was ihr an jedem ein­zel­nen Tag Schö­nes wider­fah­ren wür­de. Es muss­te nichts Gro­ßes sein, nichts Über­wäl­ti­gen­des, ein­fach etwas Schö­nes, etwas Gutes, etwas Posi­ti­ves, das ihr den Tag und damit auch das Leben ein wenig auf­ge­hei­tert oder erhellt, das ihr viel­leicht sogar einen Blick auf die­ses so genann­te Glück ermög­licht hatte.

Das alles begann vor einem Jahr. Nun, drei­hun­dert­zwei­und­sech­zig Tage spä­ter, saß sie bei Nacht in ihrem Zim­mer und blät­ter­te durch das Notiz­buch, das sie mit ihren Erleb­nis­sen gefüt­tert hat­te, um sich so kurz vor Sil­ves­ter die ver­gan­ge­nen zwölf Mona­te noch ein­mal Tag für Tag durch den Kopf gehen zu las­sen, die ange­neh­men wie die bedrü­cken­den Zei­ten. Sie hat­te ein gutes Gefühl dabei, denn das letz­te Jahr war schnell ver­gan­gen, fast schon zu schnell, und wenn etwas schnell ver­geht, ja zu schnell gar, dann ist das in der Regel doch ein Zei­chen dafür, dass man eine gute Zeit ver­bracht hat­te. Die guten Zei­ten ver­ge­hen immer wie im Flug, das ist das Trau­ri­ge an ihnen und der Grund, wes­halb sie so sel­ten das Gewicht der schwe­ren Zei­ten auf­wie­gen kön­nen, die sich ihrer­seits wie Fuß­ket­ten an das Leben bin­den, sodass man sich fühlt, als wür­de man durch ein Moor waten und nicht vor­an­kom­men. Zwar waren in die­sem Jahr nicht alle ihre Wün­sche in Erfül­lung gegan­gen, aber wer konn­te das schon von sich behaupten.

Als sie anfing, die ers­ten Sei­ten durch­zu­blät­tern und dabei die täg­li­chen Ein­trä­ge zu stu­die­ren, muss­te sie schmun­zeln. Sie ging in die Küche, öff­ne­te sich eine Fla­sche Wein und wid­me­te sich der wei­te­ren Lek­tü­re. Was sie las, stimm­te sie zufrie­den. Es waren Klei­nig­kei­ten, aber es waren teils süße, teils herz­er­wär­men­de, teils völ­lig in Ver­ges­sen­heit gera­te­ne Gescheh­nis­se, die sie dort sah, und es waren Din­ge, die sie auch heu­te noch fröh­lich gemacht hät­ten, wür­den sie ihr erneut pas­sie­ren. Sie las die Ein­trä­ge des gesam­ten Janu­ars und dann die Noti­zen des fol­gen­den Febru­ars. Ihr fiel auf, dass sich eini­ge Erleb­nis­se bereits wie­der­hol­ten, doch das stör­te sie nicht wei­ter. Ganz im Gegen­teil, ent­wi­ckel­te sich beim Lesen eine gewis­se Span­nung, denn da Janu­ar und Febru­ar recht ruhig ver­lau­fen waren, fie­ber­te sie inner­lich dem ers­ten außer­ge­wöhn­li­chen, dem ers­ten auf­fäl­li­gen, dem ers­ten bedeu­ten­den Ein­trag ent­ge­gen, was nun wie­der­um nicht hieß, dass die bis­he­ri­gen Ein­trä­ge für sie unbe­deu­tend gewe­sen wären, nur waren es Bana­li­tä­ten, all­täg­li­che Gescheh­nis­se, die sicher­lich jedem zuteil­wur­den und sich jeder­zeit wie­der ereig­nen könn­ten, wenn sie ein­fach nur einen völ­lig nor­ma­len Tag ver­brin­gen oder durch die Fuß­gän­ger­zo­ne schlen­dern würde.

Sie setz­te ihre Hoff­nun­gen in den März, denn end­lich, ja end­lich muss­te doch etwas Auf­re­gen­des gesche­hen sein. Beim Lesen offen­bar­te sich ihr dann aller­dings das gewohn­te Bild, das Janu­ar und Febru­ar ihr bereits zur Genü­ge prä­sen­tiert hat­ten. Lang­sam wur­de sie unge­dul­dig. Viel­leicht ist es doch eine blö­de Idee gewe­sen, die­ses Büch­lein zu füh­ren, dach­te sie sich und blät­ter­te nun ganz zufäl­lig durch die Sei­ten, bis sie einen Tag im Juni auf­schlug, immer noch auf der Suche nach span­nen­den, irgend­wie berüh­ren­den Ereig­nis­sen. „Fünf Euro auf dem Weg zur Arbeit gefun­den“ las sie da und lach­te. Nein, das war nun wirk­lich weder span­nend noch berüh­rend. Der fol­gen­de Tag war dem­ge­gen­über schon etwas bes­ser, denn dort hat­te sie notiert: „Im Regen spa­zie­ren gegan­gen“. Sie lieb­te es, im Regen durch die Stra­ßen der Stadt spa­zie­ren zu gehen, inso­fern war dies nun für sie zwar ein irgend­wie berüh­ren­der, aber kein son­der­lich her­vor­ste­chen­der, kein außer­ge­wöhn­li­cher, kein befrie­di­gen­der Ein­trag. Sie blät­ter­te wei­ter­hin wahl­los im Juni her­um, las „Von einem Kol­le­gen ein Stück Kuchen bekom­men“ oder „Jeman­dem den Weg erklärt“, fand „Eine Frau hat mir lächelnd die Tür der Stra­ßen­bahn auf­ge­hal­ten“ und „Himm­lisch geschla­fen“, aber rein gar nichts, von dem sie sagen konn­te, es sei etwas Beson­de­res gewe­sen, das ihr ein Stück vom Glück dar­ge­bo­ten hät­te. Das müs­sen ziem­lich schlech­te Tage gewe­sen sein, dach­te sie und blät­ter­te wei­ter, doch was sie auf den Sei­ten der dar­auf­fol­gen­den Wochen lesen konn­te, kam ihr noch bana­ler, noch unwich­ti­ger, jeden­falls kei­nes­wegs erfül­lend oder ein­fach bloß gut vor, son­dern irgend­wie leer. Sie fühl­te sich wie jemand, der in der Lot­te­rie gewinnt und dann aber fest­stel­len muss, dass alle ande­ren eben­falls gewon­nen haben. Nun, dann sind es eben kei­ne schlech­ten Tage gewe­sen, schlech­te Wochen müs­sen es gewe­sen sein. Sie such­te wei­ter. Es waren kei­ne schlech­ten Tage gewe­sen, muss­te sie fest­stel­len, auch kei­ne schlech­ten Wochen, es waren die bes­ten Tage im gan­zen Monat gewe­sen, sogar in zwei Mona­ten, und der Rest des Jah­res war, von ein­zel­nen Aus­nah­men abge­se­hen, nicht viel besser. 

Konn­te das wirk­lich die Wahr­heit sein? Sie hat­te für jeden Tag des Jah­res jeweils nur das eine, das aller­bes­te Erleb­nis notiert, das ihr wider­fah­ren war, die bes­te Hand­lung, die sie voll­bracht, oder das schöns­te Gefühl, das sie an die­sem Tag emp­fun­den hat­te – und die­se Din­ge, die sie da lesen muss­te, die­se Bana­li­tä­ten, die­se Nich­tig­kei­ten, die­se lieb­lo­sen lee­ren Wor­te, die sie kaum zu lesen wag­te, die waren genau das, alles erschöpf­te sich in die­sen Belang­lo­sig­kei­ten? Die­se Ein­trä­ge vol­ler unbe­deu­ten­der All­täg­lich­kei­ten waren alles, was ihr Leben in die­sem einen Jahr aus­ge­macht hat­te? Das war das Bes­te, was die Welt ihr in die­sen Wochen und Mona­ten gebo­ten hat­te? Mehr war da nicht?

Was sie außer­dem beun­ru­hig­te, waren Ein­trä­ge wie der fol­gen­de: „Net­ter Kas­sie­rer hat mir zuge­zwin­kert“. Das gan­ze letz­te Jahr hat­te sie allein ver­bracht, genau wie auch das Jahr zuvor. Sie fand vie­le wei­te­re Ein­trä­ge, die Ähn­li­ches fest­ge­hal­ten hat­ten, ob es sich dabei nun um Kas­sie­rer, Jog­ger, U‑Bahn-Fahr­gäs­te oder irgend­wel­che Call­cen­ter-Mit­ar­bei­ter gehan­delt hat­te. Sie las die­se Ein­trä­ge und sah dar­in den Unter­ton, mit dem sie sie wahr­schein­lich auch geschrie­ben hat­te: Jemand fin­det mich gut, jemand mag mich, ich bin etwas wert. War sie so ver­zwei­felt nach mensch­li­cher Nähe, nach dem Gefühl, jeman­dem – irgend­je­man­dem – zu gefal­len? Ihre Zufrie­den­heit begann zu bröckeln.

Sie nann­te es ein Leben, was sie da geführt hat­te, nun aber frag­te sie sich, ob es denn wirk­lich mehr war als eine unbe­deu­ten­de Exis­tenz. Ver­zwei­felt such­te sie nach einem Ein­trag, der her­aus­stach, der beson­ders war, der es wert war, das Bes­te eines Tages, eines Monats, eines Jah­res zu sein. Sie fand abso­lut nichts, was sie über­zeugt, was sie beein­druckt oder was ihr das Gefühl gege­ben hät­te, ein gutes Jahr hin­ter sich zu haben. Sie ver­miss­te das gro­ße Glück.

Eines Tages blickt man in den Spie­gel und begreift, dass man nie­mals mehr sein wird als das, was man dort sieht. Mit die­ser Erkennt­nis kann man wei­ter­le­ben und sie akzep­tie­ren, man kann sich umbrin­gen, um allem zu ent­ge­hen, oder man blickt nie wie­der in einen Spiegel.

Es war weni­ge Tage vor Sil­ves­ter, als sie zum letz­ten Mal eine lee­re Sei­te in ihrem schwar­zen Büch­lein auf­schlug und mit zitt­ri­gen Fin­gern ledig­lich das Wort „Ende“ hineinschrieb.

Er erwach­te völ­lig ent­kräf­tet in einem Kran­ken­haus­bett und konn­te sich weder dar­an erin­nern wie noch war­um er hier­her­ge­kom­men war. Hat­te er einen Unfall gehabt, war er ein­fach bloß umge­kippt oder hat­te er viel­leicht einen Schlag­an­fall erlit­ten? Sei­ne Arme und sei­ne Bei­ne schmerz­ten ihn, und als er ver­such­te, sie mehr als ein paar Zen­ti­me­ter zu bewe­gen, gab er nach kur­zer Zeit erschöpft auf. Sei­ne Augen ver­nah­men eine mensch­li­che Sil­hou­et­te neben dem Bett, doch noch erkann­te er dar­in kein Gesicht. Ver­wirrt und ohne die­sen Schat­ten direkt anzu­spre­chen, stam­mel­te er bloß: „Wo… wo bin ich hier? Was ist mit mir passiert?“
„Pssst“, flüs­ter­te eine Frau­en­stim­me zärt­lich. „Sei unbe­sorgt, mein Schatz, alles wird wie­der gut. Hab kei­ne Angst. Du bist hier in den bes­ten Händen. “
Er erkann­te die­se Stim­me sofort. Sie gehör­te sei­ner Freun­din, genau­ge­nom­men sei­ner ehe­ma­li­gen Freun­din, die­ser Frau aus ver­gan­ge­nen Zei­ten, die ihn, wie er es aus­drü­cken wür­de, vor drei elend lan­gen Jah­ren aus Grün­den ver­las­sen hat, die er nie ver­ste­hen wird, nach­dem sie bei­de für fünf gute Jah­re eine Bezie­hung mit­ein­an­der geführt hat­ten. Als es zum Ende kam, ging sie fort und warf nie einen Blick zurück, doch er kam nie­mals über sie hin­weg. Er dach­te immer noch an sie und er ver­miss­te sie an jedem Mor­gen, wenn er auf­wach­te, an jedem Abend, wenn er ein­schlief, in jedem Bett, in dem er lag. Am Anfang glaub­te er, das gin­ge bald vor­bei, er wür­de das Ver­mis­sen hin­ter dem All­tag leicht ver­ber­gen kön­nen, und wäre erst etwas Zeit ver­gan­gen, dann wür­de er sie irgend­wann ver­ges­sen, doch es ver­strich erst ein Jahr, dann zwei Jah­re und schließ­lich drei, ohne dass es ihm gelang, sie aus sei­nen Gedan­ken und vor allem aus sei­nen Gefüh­len zu ver­ban­nen. Mehr­mals hat­te er in die­ser Zeit ver­sucht, eine Bezie­hung mit einer ande­ren Frau auf­zu­bau­en, also wei­ter­zu­ma­chen, die Wun­den der Ver­gan­gen­heit wenn schon nicht zu hei­len, dann doch wenigs­tens zu ver­bin­den, aber kei­nem die­ser Ver­su­che war letz­ten Endes ein lan­ger Bestand gegönnt. Er muss­te sich irgend­wann ein­ge­ste­hen, dass kei­ne die­ser Bezie­hun­gen einen Wert für sich hat­te, son­dern sie in Wahr­heit nur ein unbe­wuss­ter und ver­zwei­fel­ter Ver­such waren, sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din zu erset­zen, die für ihn so uner­setz­bar war. Kei­ne die­ser Ersatz­be­zie­hun­gen konn­te er für all­zu lan­ge Zeit auf­recht­erhal­ten, kei­ne die­ser Frau­en konn­te ihn ver­zau­bern, denn jede von ihnen ver­glich er mit ihr und kei­ne war für ihn so gut wie sie, kei­ne genüg­te sei­nem Ver­gleich, kei­ne war ein Dupli­kat sei­ner ein­zi­gen gro­ßen Liebe.
„Du? Wie­so bist du hier? Und… du nennst mich Schatz? War­um? Wir sind… schon so lan­ge nicht mehr zusammen.“
„Ich dach­te, es wür­de dir gefal­len. Ich weiß, wie sehr du mich vermisst.“
„Was weißt du schon“, seufz­te er.
„Ich kann es dir nicht ver­übeln“, ergänz­te sie kokett, beug­te sich zu ihm hin­un­ter und flüs­ter­te in sein Ohr: „Ich war das Bes­te, das dir je pas­siert ist, und ich wer­de es für immer sein.“
„War­um bist du hier?“ wie­der­hol­te er sei­ne Frage.
„Freust du dich denn nicht? Ich weiß, dass du bis heu­te stän­dig an mich denkst, selbst nach all den Jah­ren. Ich weiß, wie sehr du mich brauchst, jetzt noch mehr denn je, und dass du mich nicht los­las­sen kannst, selbst wenn du woll­test. Du ver­misst mich, du hast dich in dei­ner Sehn­sucht ein­ge­mau­ert und du kommst dort nicht her­aus. Kann es einen grö­ße­ren Lie­bes­be­weis geben als jenen, wel­chen du mit dir her­um­trägst? Ich bin hier, weil ich das weiß, und weil ich schät­zen gelernt habe, wie sehr du wirk­lich an mir hängst.“
Unter gro­ßer Anstren­gung dreh­te er sich in sei­nem Bett von ihr weg und ver­barg sein Gesicht, damit sie dar­in nicht sehen konn­te, wie sehr sie ihn mit die­sen Wor­ten erwischt hatte.
„Ent­schul­di­ge, mein Schatz, ich lass dich erst ein­mal allein. Du bist noch sehr schwach und sicher auch sehr müde. Wir reden spä­ter. Nimm die hier, die hel­fen dir“, sag­te sie und zeig­te auf zwei Pil­len und ein Glas mit Was­ser, das direkt dane­ben stand. Dann ging sie zur Tür, dreh­te sich noch ein­mal um, pus­te­te ihm einen Luft­kuss zu und ver­ließ den Raum.
In den dar­auf­fol­gen­den Tagen ver­bes­ser­te sich sein Zustand ein wenig, doch fiel es ihm noch immer schwer, Arme und Bei­ne zu bewe­gen, sodass an Auf­ste­hen noch lan­ge nicht zu den­ken war. Das Zim­mer, in dem er sich befand, war rela­tiv klein, er sah zwei Schrän­ke, ein Fens­ter und einen beschei­de­nen Tisch mit einem Stuhl. Jeden Tag besuch­te ihn sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din und umsorg­te ihn lie­be­voll. Sie brach­te ihm Bücher, Zeit­schrif­ten und Mahl­zei­ten, sie unter­hielt sich mit ihm über die alten, gemein­sa­men Zei­ten, erzähl­te ihm von den neu­es­ten Ereig­nis­sen und ver­sorg­te ihn mit neu­en Medi­ka­men­ten. Er fühl­te sich in ihren Hän­den gebor­gen und konn­te bei wei­tem nicht ver­heh­len, sich über ihre Anwe­sen­heit mehr als nur zu freu­en. Die Zeit ver­ging jedoch, ohne dass sich sein Zustand wesent­lich ver­bes­sert hät­te, doch was ihn viel mehr ver­wun­der­te, war die merk­wür­di­ge Tat­sa­che, dass er wäh­rend sei­nes Auf­ent­halts bis­lang kein Pfle­ge­per­so­nal oder einen Arzt zu Gesicht bekom­men hat­te. Selbst als er den klei­nen Knopf drück­te, um jeman­den an sein Bett zu rufen, kam nie­mand, es geschah nichts. Ein­zig sei­ne Ex-Freun­din erschien mit einer gewis­sen Regel­mä­ßig­keit, also sprach er sie dar­auf an:
„Ich habe hier noch nie eine Schwes­ter gese­hen, geschwei­ge denn einen Arzt.“
„Sei unbe­sorgt, mein Schatz, man küm­mert sich sehr gut um dich. Ich habe dem Per­so­nal klar­ge­macht, dass ich mich, soweit es geht, allei­ne um dich küm­mern wer­de und man dein Zim­mer wirk­lich nur im Not­fall zu betre­ten hat. Ich will kei­ne Leu­te hier um dich her­um, die dich stän­dig stö­ren oder mit irgend­was beläs­ti­gen, wenn du dich doch scho­nen musst.“
„Aber nicht ein­mal ein Arzt war hier…“
„Doch, doch“, beru­hig­te sie ihn, „der Arzt war ges­tern Abend bei dir, als du schon tief und fest geschla­fen hast. Ich war dabei. Du hast geschla­fen wie ein Stein, aber dei­nen Schlaf hast du auch bit­ter nötig. Der Arzt woll­te dich auf­we­cken, aber ich hab ihn ange­faucht, er soll dich bloß in Ruhe las­sen, solan­ge es kein Not­fall ist. Da ist er gegan­gen.“ Sie fing an zu lachen. „Du weißt, ich kann sehr über­zeu­gend sein.“
Als sie nach ein wenig Plau­de­rei schließ­lich ging, nahm er sich vor, an die­sem Abend ein­fach so lan­ge es ihm mög­lich sein wür­de wach zu blei­ben, soll­te der Arzt erneut nach sei­nem Zustand sehen wol­len. Er rang mit der Müdig­keit, aber er ließ sich von ihr nicht über­man­nen, und so war­te­te er bis in die frü­hen Mor­gen­stun­den. Es erschien weder ein Arzt noch sonst irgend­je­mand. Schließ­lich schlief er ein und wur­de eini­ge Stun­den spä­ter von sei­ner ein­zi­gen, treu­en Besu­che­rin geweckt, die ihm sein Früh­stück ans Bett servierte.
An die­sem Mor­gen jedoch war er auf­grund des weni­gen Schlafs völ­lig aus­ge­laugt, und als er die Pil­len zu sich neh­men woll­te, die schon seit dem ers­ten Tag jede sei­ner Mahl­zei­ten beglei­te­ten, ver­lor er sie aus den Fin­gern. Sie schie­nen unter sein Bett zu rol­len, aber so genau konn­te er das nicht beob­ach­ten. Sei­ne ehe­ma­li­ge Freun­din stand wäh­rend­des­sen am Fens­ter und bekam von alle­dem nichts mit, also beließ er es dabei. In den fol­gen­den Stun­den bemerk­te er, dass das Gefühl in sei­nen Armen und Bei­nen mehr und mehr zurück­kehr­te und es ihm zuneh­mend leich­ter fiel, sie zu bewe­gen. Er wuss­te nicht, ob er das als Zufall abtun oder auf das Aus­las­sen der Medi­ka­men­te zurück­füh­ren soll­te, also sprach er die­se Fra­ge am Abend an:
„Was sind das eigent­lich für Pil­len, die du mir jedes Mal mitbringst?“
„Die sind für dei­ne Schmer­zen, mein Schatz“, ent­geg­ne­te sie mit einem Lächeln auf den Lip­pen, in das er sich damals sofort ver­liebt hat­te, „die sol­len dich beruhigen.“
Unter Schmer­zen jedoch litt er nur, wenn er die­se Mit­tel zu sich nahm, doch dass er zu die­ser Erkennt­nis gekom­men war, woll­te er ihr nicht mit­tei­len. Er ent­schloss sich dazu, die Pil­len in Zukunft heim­lich zu mei­den. Irgend­et­was stimmt hier nicht, dach­te er bei sich, erst sah er weit und breit kein Per­so­nal und nun die­ser… Zufall.
Am nächs­ten Mor­gen fühl­te er sich wesent­lich bes­ser, sehr zu sei­ner Ver­wun­de­rung. Arme und Bei­ne konn­te er nun frei bewe­gen, so als sei nie­mals irgend­was gesche­hen. War denn je irgend­was gesche­hen? Er rich­te­te sich zunächst im Bett auf, schwang dann die Bei­ne her­aus und stand schließ­lich auf, ohne jene Glie­der­schmer­zen zu ver­spü­ren, die ihn seit sei­nem Auf­wa­chen ans Bett gefes­selt hat­ten. Nach kur­zem Zögern ging er zur Tür, doch als er die Klin­ke her­un­ter­drück­te, geschah gar nichts. Sie ließ sich nicht öff­nen. Und da ver­stand er. Die Pil­len soll­ten ihm nicht hel­fen, sie soll­ten ihn im Bett hal­ten. Sie woll­te ihn nicht gehen lassen.
Sein Blick fiel auf das Fens­ter, das der ein­zi­ge Aus­weg zu sein schien. Er zog den Vor­hang zur Sei­te, öff­ne­te es und muss­te fest­stel­len, dass er sich hier wohl im vier­ten oder fünf­ten Stock befand. Ein Sprung wür­de wahr­schein­lich töd­lich enden, und irgend­et­was, an dem er sich hät­te fest­hal­ten, an dem er nach unten hät­te klet­tern kön­nen, konn­te er nicht sehen. Er war gefan­gen. Plötz­lich hör­te er ein Geräusch an der Tür, und bevor er sich zurück ins Bett legen konn­te, stand sie schon im Raum und warf ihm einen über­rasch­ten Blick zu.
„Dein Zustand hat sich end­lich gebes­sert“, sag­te sie und ver­such­te, sich ihre Über­ra­schung nicht anmer­ken zu las­sen. „Ich bin so glück­lich, ich dach­te schon, du wür­dest für immer dort lie­gen bleiben.“
„Die Tür war abge­sperrt“, bemerk­te er knapp. „War­um?“
„Ach, mein Schatz, das ist nur zu dei­nem Besten.“
„Erklär mir das! Wie zum Teu­fel soll das denn zu mei­nem Bes­ten sein?“
„Ver­traust du mir nicht mehr?“
„Es fällt mir zuneh­mend schwer, jeman­dem zu ver­trau­en, der mich ein­sperrt und mit irgend­wel­chem Zeug voll­pumpt, das mir jede Hand­lung unmög­lich macht.“
„Reg dich bit­te nicht auf.“
„Bring mir einen Arzt!“
„Es gibt hier kei­ne Ärz­te. Ich küm­me­re mich um dich, nur ich.“
„Du bist verrückt!“
„Leg dich wie­der hin, mach es dir gemüt­lich und lass dich ein­fach von mir ver­sor­gen. Ich habe dich in den letz­ten drei Jah­ren im Stich gelas­sen, das tut mir leid, aber alles kann wie­der so wer­den, wie du es dir wünschst. Wir blei­ben zusam­men, nur wir bei­de. Du brauchst sonst nie­man­den. Niemanden!“
Er sah sie an und blick­te dann zum Fens­ter, das immer noch geöff­net war. Ihr über­rasch­tes Gesicht wich einem Aus­druck der Ver­zweif­lung, dann purer Wut. Als sie eini­ge Schrit­te auf ihn zuging, stieg er in das Fens­ter, hielt sich am Rah­men fest und sprach zu ihr, sie sol­le zurück­blei­ben, sie sol­le ihn nicht anrüh­ren, sonst wür­de er sprin­gen. Sie blieb ste­hen und setz­te wie­der ihr berau­schen­des Lächeln auf.
„Ich weiß, du ver­misst mich an jedem ein­zel­nen Tag, seit­dem ich dich ver­las­sen habe.“ Ihre Stim­me war süß und gleich­zei­tig vol­ler Ero­tik, so als wol­le sie ihn ver­füh­ren. „Ich weiß, du liebst mich heu­te noch genau wie vor drei Jah­ren, und ich weiß, dass du auch immer noch die Hoff­nung hegst, mit mir dein gan­zes Leben zu ver­brin­gen. Wir könn­ten zusam­men noch ein­mal anfan­gen, das hast du dir doch all die Jah­re gewünscht. Nur du und ich, für immer. Bleib bei mir, mein Schatz. Willst du dein Leben denn ein­fach weg­schmei­ßen, wenn du los­lässt und springst?“
„Du bist nicht mein Leben!“, schrie er sie an, blick­te in ihre Augen, lös­te die Fin­ger vom Rah­men und ließ sich aus dem Fens­ter fal­len. „Du warst es viel zu lang.“
Völ­lig benom­men wach­te er in einem Kran­ken­haus­bett auf und konn­te sich weder dar­an erin­nern wie noch war­um er hier­her­ge­kom­men war. Neben dem Bett erkann­te er eine mensch­li­che Sil­hou­et­te, die irgend­et­was zu irgend­je­man­dem sag­te, den er nicht sehen konn­te. Plötz­lich erschien eine zwei­te Gestalt, die sich ihm als Arzt vor­stell­te und ihm erklär­te, es habe lan­ge Zeit nicht gut für ihn aus­ge­se­hen: „Sie waren für eini­ge Zeit im Koma, aber nun haben Sie ja doch noch den Sprung zurück ins Leben geschafft.“

Es dau­er­te zwei gan­ze Tage, bis mir so lang­sam klar wur­de, was er wirk­lich zu mir gesagt hat­te. Er wol­le nicht den Teu­fel an die Wand malen, doch es sähe nicht gut aus, hat­te der Arzt mit einem kur­zen Kopf­schüt­teln gemeint, jedoch gleich noch hin­zu­ge­fügt, wahr­schein­lich um der Aus­sa­ge etwas von ihrer Bedroh­lich­keit zu neh­men, ein end­gül­ti­ges Ergeb­nis kön­ne er mir erst in eini­gen Tagen mit­tei­len. Wie schlimm denn „nicht gut“ sei, hat­te ich gefragt, und er ant­wor­te­te bloß knapp, im schlimms­ten Fall stün­den die Chan­cen nicht sehr gut, dass ich das Ende des Jah­res noch erle­ben wür­de, soll­te die genaue Unter­su­chung sei­ne Ver­mu­tung denn bestä­ti­gen. Viel­leicht war er etwas vor­schnell, doch ich schätz­te sei­ne Auf­rich­tig­keit, denn die meis­ten Ärz­te hät­ten sich davor gedrückt, solch eine Ver­mu­tung offen aus­zu­spre­chen, solan­ge sie nicht über eine defi­ni­ti­ve Dia­gno­se ver­füg­ten, um, wie sie sagen wür­den, ihre Pati­en­ten nicht unnö­tig zu ver­ängs­ti­gen. Zwei Tage spä­ter saß ich in einem Bus, es war Nach­mit­tag, und erst da begriff ich plötz­lich, wie mei­ne Per­spek­ti­ven sich ver­än­dert hat­ten. Ich wür­de viel­leicht ster­ben, und zwar sehr bald.
Ich sprach mit nie­man­dem dar­über, außer mit mei­nen Eltern. Wie­so auch? Noch stand das Ergeb­nis gar nicht fest und ich woll­te nie­man­den unnö­tig beun­ru­hi­gen, also ver­hielt ich mich wie jene Ärz­te, die ihre Pati­en­ten erst ein­mal im Dun­keln las­sen. Ich hät­te es nicht ertra­gen, von Freun­den oder den­je­ni­gen Men­schen, die sich dafür hiel­ten, mit­lei­di­ge Bli­cke und wohl­mei­nen­den Zuspruch zu erhal­ten, der bes­ten­falls gut gemeint und im schlimms­ten Fall ein­fach nur lächer­lich ist. Nein, ich behielt es für mich, denn es han­del­te sich ja um eine höchst pri­va­te Ange­le­gen­heit, die zual­ler­erst bloß mich etwas anging. Und wie sie mich etwas anging!
Was in mir geschah, nach­dem ich erst ein­mal begrif­fen hat­te, wie mei­ne Chan­cen stan­den und dass ich viel­leicht bald ster­ben wür­de, kann ich gar nicht so genau beschrei­ben. Es war jedoch nicht wirk­lich schlecht, was in mir vor­ging, so wie man es viel­leicht von jeman­dem erwar­ten wür­de, der dem Tod ins Auge blickt, denn genau das tat ich ja, mehr oder weni­ger. Ich ver­fiel nicht in tie­fe Depres­si­on, ich wur­de weder apa­thisch und hoff­nungs­los, noch begann ich plötz­lich, mich für Extrem­sport zu inter­es­sie­ren, um auf die letz­ten Tage noch mög­lichst vie­le Kicks zu bekom­men. Ich blieb, wenn man das so sagen kann, ober­fläch­lich betrach­tet ziem­lich normal.
Unter der Ober­flä­che jedoch voll­zog sich ein Wan­del, der zwar nicht beson­ders spek­ta­ku­lär erschien, aber mei­nem Leben eine gewis­se neue Rich­tung geben soll­te. Bis­lang hat­te ich ein Leben geführt, das sich in der Regel dar­an ori­en­tier­te, den Weg des gerings­ten Wider­stands zu gehen und mög­lichst wenig auf­zu­fal­len, weil Auf­fal­len in der Regel bedeu­te­te, ziem­lich schnell in Situa­tio­nen zu gera­ten, die sich zu Pro­ble­men ent­wi­ckeln könn­ten. Ich war der Mann, der immer da, aber nie dabei sein woll­te, der immer anwe­send, aber nie betei­ligt war. Das soll­te sich ändern.
Es gab da eine Frau. Ich wür­de nicht so weit gehen zu sagen, dass ich in sie ver­liebt gewe­sen sei. Ein wenig viel­leicht. Mehr woll­te ich mir nicht erlau­ben, weil es zu Pro­ble­men hät­te füh­ren kön­nen. Wir gin­gen eini­ge Male aus, ja, aber nur unter Vor­wän­den, nur mit Beglei­tung, und nie fiel das Wort Date, geschwei­ge denn ein Kuss. An schlech­ten Tage fühl­te ich mich fei­ge und hass­te mich dafür, nicht den Mut auf­zu­brin­gen, sie ein­fach zu küs­sen, doch an guten Tagen klopf­te ich mir auf die Schul­ter, die Sache nicht noch wei­ter zu ver­tie­fen, wür­de sie doch sowie­so in einer Kata­stro­phe oder auf eine ande­re pein­li­che Art enden, aber jeden­falls enden. Es gab Men­schen in mei­nem Leben, zu denen ich freund­lich war, obwohl ich sie nicht aus­ste­hen konn­te. Mein Chef zum Bei­spiel, um ein Kli­schee zu erfül­len, denn wer mag schon sei­nen Chef, aber auch Leu­te in mei­nem Freun­des­kreis, Freun­de von Freun­den, irgend­wel­che Bekann­te sowie natür­lich die­je­ni­gen, von denen man sich erhofft, für die gespiel­te Freund­lich­keit irgend­wann ein­mal etwas zurück­zu­be­kom­men. Ich war ordent­lich und brav, könn­te man sagen, denn ich erfüll­te Auf­ga­ben, die mir zuge­tra­gen wur­den, in der Regel ohne zu mur­ren, befolg­te die Regeln, auch wenn sie mir noch so unsin­nig erschie­nen, wag­te nichts und ord­ne­te mich unter, wo es nur ging, weil alles ande­re nur wie­der zu Pro­ble­men geführt hät­te. Es war kein unan­ge­neh­mes Leben, doch es war ein Leben, das mich auch nicht wirk­lich befrie­dig­te. Ich ließ mich treiben.
Nach den Wor­ten des Arz­tes jedoch war alles anders. Mei­ne Per­spek­ti­ve, mei­ne Rol­le in der Welt und auch mei­ne Selbst­be­trach­tung hat­ten sich ver­än­dert. Ich wür­de viel­leicht bald ster­ben. Haben wir nicht alle die­sen Gedan­ken in uns, schlicht und ein­fach das zu tun, was uns wirk­lich glück­lich macht, wenn wir nur noch einen Tag zu leben hät­ten. Wenn es für mich auch nicht ein ein­zel­ner sein soll­te, so schie­nen mei­ne Tage doch gezählt. Wie lan­ge hät­te ich noch gehabt? Sechs Mona­te? Ein Jahr? Was ist in einem sol­chen Fall schon der Unter­schied zwi­schen einem Tag und einem Jahr? Oder anders gefragt: Was ist der Unter­schied zwi­schen einem Tag und einem Leben? Wie­so tra­gen wir die­se Vor­stel­lung mit uns her­um, wir wür­den plötz­lich alles ganz anders leben und erle­ben, wenn wir wüss­ten, es wäre unser letz­ter Tag? Wenn ich mor­gen ganz unspek­ta­ku­lär in der Dusche aus­rut­schen soll­te, wäre mein letz­ter Tag dann nicht der heu­ti­ge, also belie­big? Immer und nie zugleich? War­um ändern so vie­le Men­schen ihr Leben, wenn sie ein mehr oder weni­ger vages Datum für ihren Tod erfah­ren? Ver­brin­gen wir unse­re Leben viel­leicht so unglück­lich, so unbe­frie­di­gend, so leer, weil wir glau­ben, wir leb­ten für immer, wir könn­ten alles noch irgend­wann nach­ho­len, was wir ver­säu­men – und erst das bal­di­ge Ende, die­ser Gedan­ke an End­lich­keit bringt uns dazu, unser Leben wahr­haft zu genie­ßen, wenn es dafür schon fast zu spät ist? Ich weiß es nicht.
Was ich jedoch wuss­te, war, mein Leben soll­te anders wer­den. Ich woll­te die weni­ge Zeit, die mir viel­leicht noch blieb, sinn­voll nut­zen, sinn­vol­ler als bis­her. In mei­nem Kopf mal­te ich mir aus, wie mein Leben in Zukunft aus­se­hen soll­te. Zual­ler­erst wür­de ich sie anru­fen und um ein Date bit­ten, ein kla­res, ein­deu­ti­ges Date, um dem vor­sich­ti­gen Antas­ten end­lich ein Ende zu berei­ten. Es wäre ris­kant, natür­lich, so wie jede Lie­bes­er­klä­rung, aber ich hat­te nichts mehr zu ver­lie­ren. Vor mei­nem Chef wür­de ich nicht län­ger krie­chen, wenn er mich für sei­ne eige­ne Inkom­pe­tenz bestraft. Anstatt zu heu­cheln, wür­de ich immer mei­ne ehr­li­che Mei­nung zum Aus­druck brin­gen, auch wenn sie eini­gen Men­schen viel­leicht nicht gefal­len mag. Ich wür­de die­je­ni­gen mei­den, die mir nicht gut­tun, und wür­de mir Zeit für Men­schen und Din­ge neh­men, die mir beson­ders am Her­zen lie­gen. Ich wür­de ein bes­se­rer Freund sein, ein bes­se­rer Sohn, ein bes­se­rer Lieb­ha­ber, ein bes­se­rer Mensch. Das war es, was ich mir vor­stell­te, was in mir brann­te. Ich wür­de, wenigs­tens auf mei­ne letz­ten Tage, end­lich das Leben füh­ren, das ich schon die gan­ze Zeit hät­te füh­ren sollen.
Drei Tage spä­ter erhielt ich die Ergeb­nis­se. Der Arzt sag­te zu mir, ich hät­te rie­si­ges Glück, und was er damit mein­te, war wohl, ich bekä­me mein ewi­ges, unda­tier­tes Leben zurück. Ich ging nach Hau­se, setz­te mich auf mei­ne Couch und ver­ar­bei­te­te, was eben gesche­hen war. Ich dach­te an die Frau, mit der ich schon seit lan­ger Zeit so ger­ne aus­ge­hen wür­de, und ver­teu­fel­te mich dafür, sie noch immer nicht ange­ru­fen zu haben. Dann end­lich nahm ich das Tele­fon in die Hand, wähl­te die Num­mer mei­ner Eltern, erzähl­te ihnen die gute Nach­richt, und führ­te mein Leben wei­ter­hin wie zuvor.

„Ich ver­ste­he das alles nicht. Was ist bloß mit mir los?“

„Bit­te?“

„Was stimmt nicht mit mir? Ich habe letz­te Nacht kein Auge zuge­tan. Für mehr als sechs Stun­den lag ich wach, sechs vol­le Stun­den, und die gan­ze Zeit habe ich fast aus­schließ­lich an sie gedacht und die gesam­te Situa­ti­on, in der ich mich befin­de. Nichts ergibt irgend­ei­nen Sinn.“

„Ich ver­ste­he nicht so recht, wor­um es geht.“

„Das Ers­te, wor­an ich den­ke, wenn ich mor­gens auf­wa­che, ist ihr Gesicht, ihr Lächeln. Ohne zu zögern möch­te ich sie anru­fen, ihr einen Brief schrei­ben oder mich ein­fach irgend­wie mit ihr tref­fen. Als ich das letz­te Mal mit ihr zusam­men­saß, ertapp­te ich mich dabei, auf ihre Hän­de, auf ihre Hand­ge­len­ke zu star­ren und bloß den einen Gedan­ken im Kopf zu haben, wie wun­der­schön sie sind und wie ger­ne ich sie berüh­ren wür­de, nicht mit sexu­el­lem Hin­ter­ge­dan­ken oder so, ein­fach nur… eine Berüh­rung, um ihre Hän­de zu hal­ten, um ihre Haut zu spüren.“

„Ich fan­ge an zu verstehen.“

„Ein­mal erwähn­te sie mir gegen­über irgend­ei­nen unbe­deu­ten­den Typen, den sie getrof­fen hat­te, ein namen­lo­ser Kerl, und ich fürch­te, ich wur­de eifersüchtig…“

„War­um?“

„Genau! War­um? Ich habe kei­ne Ahnung, war­um. Es gibt gar kei­nen Grund für mich, eifer­süch­tig zu sein.“

„Das heißt?“

„Es ist völ­lig hirnrissig.“

„Was?“

„Ich lie­be sie nicht. Gott, ich habe nicht mal irgend­wel­che Gefüh­le für sie. Den­noch… ver­wirrt mich das alles sehr.“

„Alles? Was alles?“

„Ich sehe Gespenster.“

„Gespens­ter?“

„Ja. Stän­dig sehe ich Men­schen, die so aus­se­hen wie sie, die mich an sie erin­nern, die sie in mei­nem Kopf leben­dig wer­den las­sen. In den Stra­ßen der Stadt, im Zug, in irgend­wel­chen Bars, eigent­lich über­all. Selbst wenn ich ganz genau weiß, sie kann es nicht sein, die in die­sem Moment genau da ist, wo ich auch bin, weil sie bei­spiels­wei­se auf der Arbeit ist, spü­re ich doch jedes Mal so ein Gefühl, so eine Hoff­nung, dass es ja doch tat­säch­lich sie sein könn­te, die ich da vor mir sehe. Ich füh­le den Drang, ein­fach hin­zu­ge­hen und sie anzu­spre­chen, die­se Gespens­ter anzu­spre­chen, die ich sehe, obwohl ich doch genau weiß, wie sinn­los das wäre. Wenn jemand nur vage Ähn­lich­keit mit ihr hat, geht das schon los und ich ver­hal­te mich so fremd, füh­le die­sen Drang. Klin­ge ich wie ein Idi­ot? Bin ich verrückt?“

„Ich den­ke, wir ken­nen alle die­se spe­zi­el­le Form von Verrücktheit.“

„Sobald mein Tele­fon klin­gelt oder ich bloß eine Email bekom­me, erwacht in mir sofort die Hoff­nung und der Wunsch, es könn­te viel­leicht sie sein, und jedes Mal bin ich dann regel­recht ent­täuscht, wenn sie es nicht ist. Am Anfang habe ich über all das gar nicht nach­ge­dacht, ja ich habe es nicht ein­mal wirk­lich bemerkt, wie selt­sam ich mich ver­hal­te, aber in letz­ter Zeit kann ich es nicht mehr über­se­hen, nicht mehr igno­rie­ren, und… es treibt mich in den Wahn­sinn. Es ist, als blick­te ich in einen Spie­gel und sähe dort mein Spie­gel­bild irgend­wel­che Din­ge tun, die ich selbst nie tun wür­de, doch zur glei­chen Zeit weiß ich ganz genau, dass es nie­mand ande­res ist als ich höchst­per­sön­lich, den ich da im Spie­gel sehe. Heu­te Mor­gen woll­te ich einem mei­ner Kol­le­gen eine Email schrei­ben, und als ich sei­ne Email­adres­se ins Emp­fän­ger­feld hät­te ein­tra­gen müs­sen, stell­te ich fest, dass ich schon ihre ein­ge­ge­ben hat­te, ohne dar­über nach­zu­den­ken. Es ist ver­rückt, oder? Das bin nicht mehr ich.“

„Du bist ein Ent­de­cker in einem Wun­der­land. Gewöhn dich bes­ser daran.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das möch­te. Aber war­te, da ist noch mehr. Als ich heu­te im Lau­fe des Tages an ihrer Woh­nung vor­bei­fuhr, muss­te ich kurz an einer roten Ampel anhal­ten, und als ich da so war­te­te, das habe ich mir zunächst nicht ein­ge­stan­den, hoff­te ich, sie käme aus ihrer Tür her­aus und gera­de­wegs auf mich zu. Ich wuss­te, sie war nicht zuhau­se, den­noch habe ich genau das gehofft. Aber weißt du was?“

„Was?“

„Wenn sie tat­säch­lich aus ihrer Tür her­aus­spa­ziert wäre, hät­te ich nicht die gerings­te Idee gehabt, wie ich mit die­ser Situa­ti­on umge­hen oder was ich zu ihr hät­te sagen sol­len. Es ist jedes Mal so, wenn ich sie sehe, ich füh­le mich berauscht und unbe­hag­lich zugleich, und ich ver­ste­he nicht, wie­so das so ist.“

„Aber du bist den­noch glück­lich dabei?“

„Letz­te Woche bin ich durch das hal­be Land gereist, nur um einen ein­zi­gen Abend mit ihr zu verbringen…“

„Nur ein Abend?“

„Nur ein Abend. Ich habe eine Ewig­keit gebraucht, um zu ihr zu kom­men, und es kos­te­te mich ein Ver­mö­gen, aber es hät­te mir nicht gleich­gül­ti­ger sein kön­nen, denn alles, was mir in die­sem Augen­blick etwas bedeu­te­te, war der Umstand, sie zu sehen, ihr nahe zu sein, Zeit mit ihr ver­brin­gen zu kön­nen. Oh Mann, ich kann immer noch nicht rich­tig glau­ben, dass ich das wirk­lich getan habe. Das ent­wi­ckelt sich alles in die fal­sche Richtung.“

„Um ehr­lich zu sein, klingst du sehr danach, als wür­dest du dir etwas vor­ma­chen, die Wahr­heit ver­leug­nen, und glaub mir, damit ken­ne ich mich aus, ich weiß, wovon ich rede.“

„Lang­sam bezweif­le ich, dass es eine gute Idee war, das mit dir zu diskutieren…“

„Es zu igno­rie­ren ist sicher kei­ne bessere.“

„Hör zu, es gibt nichts zu ver­leug­nen, aber selbst wenn dem so wäre, rein hypo­the­tisch gedacht, wäre ich sicher der Ein­zi­ge, der in die­ser Sache emo­tio­nal invol­viert ist, also muss ich dar­über gar nicht erst nachdenken.“

„Und den­noch tust du es. Es spielt außer­dem über­haupt kei­ne Rol­le, weißt du.“

„Was spielt kei­ne Rolle?“

„Es spielt kei­ne Rol­le, ob sie eben­falls emo­tio­nal invol­viert ist, wie du es so hoch­tra­bend aus­ge­drückt hast. Was immer sie für dich fühlt oder angeb­lich nicht fühlt, ändert rein gar nichts an dem, was du für sie emp­fin­dest. Du hast also Unrecht. Es hat durch­aus Sinn, über all das nach­zu­den­ken. Du denkst über all das nach, du denkst über sie nach, du denkst an sie.“

„Aber ich emp­fin­de doch gar nichts für sie!“

„Jaja, ist klar, wie auch immer. Lass mich kurz zusam­men­fas­sen, was du mir bis hier­hin erzählt hast: Jeden Mor­gen ist sie das Aller­ers­te, wor­an du denkst, wenn du auf­wachst, und du setzt Him­mel und Höl­le in Bewe­gung, nur um sie für eine kur­ze Zeit zu sehen, nur um ihr vor­über­ge­hend nah zu sein. Du bist ner­vös, wenn sie in dei­ner Nähe ist und du ver­misst sie, wenn sie das nicht ist, dar­um siehst du dei­ne so genann­ten Gespens­ter. Offen­sicht­lich geht sie dir nicht mehr aus dem Kopf, und anschei­nend geht sie dir auch nicht mehr aus dem Her­zen. Du bist mit ziem­lich gro­ßer Wahr­schein­lich­keit gera­de der dümms­te Mensch auf die­sem Planeten.“

„War­um soll­te ich das sein und wer denkst du, dass du bist, um das zu beurteilen?“

„Oh, ich exis­tie­re nur in dei­nem Kopf, mein Freund. Das ist dir aber klar, oder? Des­sen unge­ach­tet unter­hältst du dich bereits seit einer knap­pen hal­ben Stun­de mit mir – nun, mit dir selbst eigent­lich – dar­über, wie du ja so gar kei­ne Gefüh­le für sie hast, wäh­rend sie gleich­zei­tig ganz offen­sicht­lich das ist, was dich am meis­ten beschäf­tigt und dir am aller­wich­tigs­ten ist. Willst du mich ver­ar­schen? Soll das ein beschis­se­ner Scherz sein?“

„Bit­te was?“

„Pass auf, ich wer­de dir kei­ne defi­ni­ti­ve Ant­wort auf dei­ne ursprüng­li­che Fra­ge geben, aber wenn wir uns ein­mal anse­hen, wel­che Hin­wei­se und Anhalts­punk­te du dir selbst gege­ben hast, bin ich mir ver­dammt sicher, du wirst das Rät­sel lösen. Ich hof­fe für dich, du wirst es tun, andern­falls bist du ein rie­si­ger Idi­ot. Ich habe erle­digt, wofür ich kam. Viel Glück!“

Wer von Geheim­nis­sen lebt, ver­schreibt sein Dasein der stän­di­gen Angst vor Offen­ba­rung. Heu­te weiß ich, du hat­test eine selbst­zer­stö­re­ri­sche Vor­stel­lung, die jeden Zug dei­nes Han­delns bestimm­te und der du treu warst wie einem Dog­ma. Du warst so sehr von die­sem Grund­satz über­zeugt, den du dir aus Grün­den kul­ti­viert hat­test, die mir für immer ver­bor­gen blei­ben wer­den, dass für dich die Kon­se­quen­zen dei­ner Über­zeu­gung weder über­schau­bar waren noch beach­tens­wert erschienen.
Jede ernst­haf­te Ver­bin­dung zwi­schen zwei Men­schen kön­ne nur Bestand haben, so pre­dig­test du mir und jedem ande­ren, der das Unglück hat­te, die­ses The­ma ein­mal anzu­schnei­den, wenn man die Impul­se und Geheim­nis­se des Ande­ren nicht hin­ter­fra­ge. Was du mit die­sem Satz zum Aus­druck brach­test, das hieß in letz­ter Kon­se­quenz, dem Ande­ren auf ewig ein Frem­der zu blei­ben, den Abstand nie­mals zu ver­lie­ren, der zwi­schen jenen steht, die sich nicht ken­nen. Aber was waren dei­ne Geheim­nis­se? Es war vor allem Angst, muss ich rück­bli­ckend heu­te sagen. Du hat­test Angst, ich könn­te alles über dich erfah­ren, so als gäbe es ein fes­tes Kon­tin­gent an Infor­ma­tio­nen über eine leben­de Per­son. Du hat­test Angst, ich könn­te das Inter­es­se an dir schnell wie­der ver­lie­ren, wenn du mir nicht län­ger ein Mys­te­ri­um offe­rierst, als wäre eine sol­che Geheim­nis­lo­sig­keit zwi­schen zwei Men­schen jemals möglich.
Da waren kei­ne bestür­zen­den Sün­den, kei­ne gefähr­li­chen Geheim­nis­se, die du vor mir ver­bargst, die du aus Scham hin­ter einer Nebel­wand hät­test ver­ste­cken müs­sen, son­dern nur die­ses eine: Dei­ne tief ver­wur­zel­te Angst, ohne streng gehü­te­te Geheim­nis­se, ohne den Schlei­er des Mys­te­riö­sen für einen ande­ren, für mich, auf ein­mal völ­lig unin­ter­es­sant zu erschei­nen. Du hat­test Angst, du wür­dest dann bere­chen­bar, du hat­test Angst, du wärst durch­schaut, wärst für mich fer­tig, ich wür­de dann an dir nichts mehr ent­de­cken wol­len und auch gar nichts mehr ent­de­cken können.
Bei jeder Gele­gen­heit, bei jeder noch so bana­len Mei­nungs­ver­schie­den­heit hast du mich immer wie­der dar­auf hin­ge­wie­sen, wie wich­tig dir dei­ne ver­bor­ge­nen Geheim­nis­se sind, und du mach­test mir wil­des­te Sze­nen, wenn ich es jemals wag­te, eine dei­ner Hand­lun­gen auch nur im Ansatz zu hin­ter­fra­gen. Es war für dich bequem. Du führ­test dich auf wie eine Regie­rung unter Para­noia, die jede Anfra­ge mit einem schnip­pi­schen Ver­weis auf natio­na­le Sicher­heit ver­wehrt, weil ihre läs­ti­ge Bevöl­ke­rung das alles gar nicht wis­sen muss. Woll­test du etwas nicht erklä­ren – viel­leicht konn­test du es dir selbst gar nicht erklä­ren -, dann dekla­rier­test du es als Geheim­nis, dein Geheim­nis, und ich durf­te es nicht hin­ter­fra­gen, weil das in dei­ner Logik doch bedeu­tet hät­te, ich wür­de dich nicht lie­ben. Das war dein Vor­wurf, noch jedes Mal, wenn du dei­ne Geheim­nis­se in Gefahr gera­ten sahst. „Du musst das nicht ver­ste­hen“, sag­test du anläss­lich jeder Irri­ta­ti­on, wenn mir dei­ne Hand­lun­gen ein Rät­sel auf­ga­ben, und genau das freu­te dich dar­an, denn es war ein wei­te­res Geheim­nis, das ich nicht ergrün­den konn­te, das ich nicht ergrün­den durfte.
Du öff­ne­test dich nur in klei­nen, peni­bel abge­grenz­ten Stü­cken, du teil­test mir nur mit, was du mir mit­tei­len woll­test, all die guten Din­ge, die schö­nen Sei­ten, all das, von dem du dach­test, es wür­de dich am bes­ten prä­sen­tie­ren. Das war dei­ne Vor­stel­lung von Kom­mu­ni­ka­ti­on. Stets hieltst du etwas vor mir zurück, umgingst die offe­ne Dis­kus­si­on, ja jede Kon­fron­ta­ti­on, weil dies für dich zugleich bedeu­te­te, sich einer mög­li­chen Ver­let­zung zu offen­ba­ren, die dir so unver­meid­lich schien, wenn du aus dei­nem Geheim­nis­bun­ker gekro­chen wärst. Du hat­test so viel Angst vor die­sen Chi­mä­ren, so viel Furcht vor Frak­tur, dass du die wirk­li­chen Ver­let­zun­gen gar nicht wahr­ge­nom­men hast, die dei­ne Geheim­nis­krä­me­rei uns mehr und mehr zuge­fügt hat.
Aber wer von uns war es nun, der nicht lieb­te? Im Krieg und in der Lie­be ist alles erlaubt, so sagt man, und was du für dich aus die­sem Sprich­wort mit­nahmst, das war die Vor­stel­lung, bei Lie­be han­de­le es sich um eine Art von Krieg. Jedes Geheim­nis, das du mir offen­bar­test, stell­te für dich ein kapi­tu­lie­ren­des Ein­ge­ständ­nis dar, eine ver­lo­re­ne Schlacht, eine schlei­chen­de Ver­schie­bung der Front hin zu dir, was am Ende zu dei­ner Nie­der­la­ge in die­sem Krieg füh­ren wür­de und füh­ren müss­te, denn es war ja Lie­be, und Lie­be war Krieg, und Krieg bedeu­te­te, dass einer am Ende der Ver­lie­rer sein muss. Du warst nicht gewillt, dich wirk­lich auf einen ande­ren Men­schen ein­zu­las­sen, sonst hät­test du gewusst, dass du dein Spiel mit den Geheim­nis­sen gar nicht brauchst; du mach­test dich durch sie bloß künst­lich inter­es­sant. Alles an dir ver­steck­test du in einem Pan­zer­schrank, den du mit Ker­be­ros‘ Ver­bis­sen­heit bewach­test, weil in dir die Befürch­tung wuchs, ich wür­de dich ganz unbarm­her­zig aus­plün­dern und zurück­las­sen, wenn ich denn erst den Code zu dei­nem Leben wüss­te, wenn ich Zugang zu dei­nem Inne­ren bekäme.
Du heg­test nie den Wunsch, von mir ver­stan­den zu wer­den, du woll­test dich nie öff­nen, nie unse­re Wel­ten mit­ein­an­der tei­len. Immer hat­test du die Furcht, ich wür­de dich ver­las­sen, wären da nicht die Geheim­nis­se an dir, die mich für alle Ewig­keit wie einen Schatz­su­cher an dich bin­den soll­ten. Hät­test du dich wirk­lich auf mich ein­ge­las­sen, dann hät­test du den Köder nicht gebraucht. Lie­be bedarf kei­ner Geheim­nis­se. Lie­be akzep­tiert Geheim­nis­se, aber sie hat sie nicht nötig, weil es für Lie­ben­de ohne­hin auf ewig Neu­es zu ent­de­cken gibt. Lie­be sucht, ent­deckt, erforscht, ohne dass du etwas weg­schlie­ßen musst, weil der gelieb­te Mensch an sich doch das Geheim­nis ist, das Lie­ben­de so gern ergrün­den, solan­ge ihre Lie­be währt. Noch heu­te hof­fe ich für dich, du wirst das irgend­wann verstehen.

Wünschst du dir nicht auch manch­mal, du fän­dest eine Insel? Wenn du dich schla­fen legst und das nicht kannst, wenn du durch Stra­ßen einer Groß­stadt gehst, wenn du in frem­de Augen blickst, dann tust du es viel­leicht. Ein Ort, der nir­gend­wo ver­zeich­net ist, ein Platz fern­ab vom trau­ri­gen Gewühl, ein Unter­schlupf, der dich mit Kraft ver­sorgt, mit Glück und Mut und Eupho­rie, ja ein Idyll, das nur für dich dein Eden ist. Suchst du das auch?
In all dem Cha­os die­ser Welt, da fand ich eine Insel. Wenn­gleich sie kei­nen Gold­schatz birgt, so über­trifft sie doch an Reich­tum alles ande­re auf die­ser Welt. Ein Eiland fand ich und erkor es mir zum Para­dies. Nichts hat je so gro­ßen Wert gehabt wie die­ses klei­ne Stück­chen Land; weder König­rei­che, Staa­ten noch die größ­ten Dynas­tien besa­ßen jemals so viel Ein­fluss wie die­ser unschein­ba­re Fleck. Als eine Art Schiff­brü­chi­ger bin ich durch puren Zufall hier gestran­det, doch für nichts auf die­ser Erde gin­ge ich hier jemals wie­der fort.
Es wird nach mir gesucht wer­den, denn man wird mich ret­ten wol­len, fürch­te ich, doch mei­ne Ret­tung habe ich bereits gefun­den, sie liegt hier und nir­gends sonst. Man wird mich für ver­lo­ren erklä­ren und nie erfah­ren, wie falsch man doch in Wahr­heit liegt, denn alles, was es sich zu fin­den lohn­te, fin­de ich allei­ne hier. Kraft einer glück­li­chen Strö­mung setz­te ich einen Fuß auf die­sen Strand. Was ich hier fand, das ist ein Eiland weit, allein im Meer, das ich zu mei­ner Hei­mat nahm, weil eine bes­se­re die Welt mir nie­mals bie­ten kann. Was ich hier fand, bedeu­tet für mich alles, wofür es sich zu leben lohnt.
Ist es Iso­la­ti­on, mich nun an die­sen Ort zurück­zu­zie­hen? Viel­leicht ver­schlie­ße ich die Augen vor dem Rest der Welt, doch hier erst wuch­sen mir die Augen, dank derer mir die Welt beach­tens­wert erscheint. Hier erst neh­me ich die Far­ben wahr, in denen schil­lernd alles strahlt, wäh­rend sich doch mei­ne Umwelt vor­mals oft genug in Grau ertrank. Es ist kei­ne Flucht, kein Eska­pis­mus, wie manch Zyni­ker viel­leicht behaup­ten mag, wenn ich mich auf die­ser Insel nun häus­lich ein­rich­te. Sie gibt mir jene Kraft, der Welt mit offe­nen Augen ent­ge­gen­tre­ten zu kön­nen, sie aus­zu­hal­ten, so wie sie ist. Sie kann einen nicht län­ger erschüt­tern, nicht mehr bedrän­gen, sie kann einen nie wie­der aus der Bahn wer­fen, jene Welt, wenn man die­ses Eiland erst ein­mal für sich gefun­den hat, das allen Gewal­ten so stand­haft trotzt.
Kei­ne Legen­den und kei­ne Erzäh­lun­gen ver­mö­gen die Ein­zig­ar­tig­keit die­ses wun­der­ba­ren Ortes ange­mes­sen zu beschrei­ben, er ist undenk- und nicht mal vor­stell­bar, solan­ge man nicht selbst sein Leben hier ver­bringt. All jene Belang­lo­sig­kei­ten, nach denen ein Mensch im Lau­fe sei­nes Lebens strebt, ver­lie­ren voll­ends an Bedeu­tung, wenn man die Wun­der die­ser Insel kennt, all ihre Schön­heit, wenn man Fuß auf sie gesetzt, sie bloß ein­mal betre­ten hat. Es gibt hier alles, was ein Mensch zum Über­le­ben braucht, zum Leben gar, nicht bloß zum Existieren.
Was ich hier fand, ist eine Insel jen­seits aller Schiff­fahrts­rou­ten. Ein Stück der Welt, das kei­ne Kar­te offen­bart, weil sich das Land hier nicht ver­mes­sen lässt. Ein Platz, der kei­ne Gren­zen kennt, der kei­ne Mau­ern hat und kei­ne Grä­ben zieht, der blin­de Orts­kennt­nis ver­langt und an zwei Tagen nie der glei­che ist. Ein Land so weit von aller Zivi­li­sa­ti­on. Kei­ne Armeen, kei­ne Legio­nen, kei­ne Heer­scha­ren die­ser Welt, wie groß und mäch­tig sie auch sein mögen, wer­den im Stan­de sein, auf die­ser Insel jemals ein­zu­fal­len und damit alles zu zer­stö­ren. Sie haben es ver­sucht und sie sind jedes Mal geschei­tert. Wäh­rend die größ­ten Rei­che unter­ge­hen, hat die­ses Eiland hier bestand. Auf die­ser Insel lebt, was all­seits sonst bereits im Ster­ben liegt. Hier wächst, was auf dem Rest der Welt verdorrt.
Ent­ge­gen einer kal­ten Welt, die mehr und mehr in Arg­wohn zu ver­sin­ken droht, ist die­ses Eiland hier ein Ort der Wär­me und des völ­li­gen Ver­trau­ens. Immer und immer wie­der gelingt es den Eigen­ar­ten die­ser Insel, mir ein herz­li­ches Lächeln ins Gesicht zu zeich­nen, und noch in den dun­kels­ten Stun­den der Trau­er fin­de ich hier etwas, das mich die gan­ze Welt umar­men, das sie lie­bens­wert erschei­nen lässt. Alles, was es wert ist, gewusst zu wer­den, habe ich hier gelernt und ler­ne ich hier noch heu­te. Es gibt Din­ge, die so wun­der­voll beschaf­fen sind, dass man gar nicht mehr bemerkt, wie man lau­fend älter wird und eines Tages ster­ben muss, die sogar so uner­hört bezau­bernd sind, dass man ent­ge­gen aller land­läu­fi­gen Furcht das Älter­wer­den und sogar das Ster­ben als etwas Gutes betrach­tet, als Voll­endung sei­nes Lebens, weil man rund­um glück­lich ist.
Nichts auf die­ser Welt ist es wert, hier jemals wie­der fort­zu­ge­hen, weil kei­ner, der sie je betrat, ver­ges­sen kann, was die­se Insel einem offe­riert. Was ich bis­her mein Leben genannt habe, die­ses Dasein, die­se blo­ße Exis­tenz, wur­de erst zu einem Leben, als ich die­sen Ort hier fand. Mein Eiland, das bist du.

Man braucht nur eine Insel
allein im wei­ten Meer.
Man braucht nur einen Menschen,
den aber braucht man sehr.
(Mascha Kaléko)

Es gibt kaum etwas, das so schwer zu fin­den und so leicht wie­der zu ver­lie­ren ist wie Glück. In ihrem Leben ist Glück schon immer eine Sel­ten­heit gewe­sen und sie litt unter den Man­gel­er­schei­nun­gen, die die­ses Defi­zit an Glück in ihr bewirk­te. Sie war als Halb­wai­se auf­ge­wach­sen, allein mit ihrem Vater, da ihre Mut­ter kurz nach der Geburt gestor­ben war. Ihre nicht all­zu unbe­schwer­te Kind­heit war von ste­ti­ger Ent­beh­rung geprägt, unter deren alles über­schat­ten­dem Ein­fluss nicht nur ihre per­sön­li­che Ver­fas­sung, son­dern auch ihre schu­li­schen Leis­tun­gen haben lei­den müs­sen, also hat sie die Schu­le ver­las­sen, sobald die­se Mög­lich­keit in Sicht­wei­te gera­ten war, um Geld zu ver­die­nen für das, was sie Fami­lie nann­te. Ihr Ein­kom­men reich­te kaum zum Über­le­ben. Sie hat­te eine Arbeit, denn sie han­gel­te sich von Aus­hilfs­tä­tig­keit zu Aus­hilfs­tä­tig­keit, doch war die­ser Job nicht mehr als eine Über­gangs­lö­sung, ein schlecht bezahl­ter Lücken­fül­ler für Men­schen ohne Qua­li­fi­ka­ti­on, den sie, des­sen war sie sich bewusst, recht bald wie­der ver­lie­ren würde.

Zwar hat­ten ihre Eltern eini­ge Erspar­nis­se ange­sam­melt, die ihr Vater nun mehr schlecht als recht ver­wal­te­te, doch wur­den die­se klei­nen finan­zi­el­len Reser­ven haupt­säch­lich dadurch auf­ge­zehrt, die monat­li­chen Rech­nun­gen zu beglei­chen und das in die Jah­re gekom­me­ne Haus irgend­wie instand zu hal­ten, in wel­chem sie mit ihrem Vater wohn­te und in dem schon ihre Ur-Groß­el­tern vor ihr gewohnt hat­ten. Die­ses Fami­li­en­erb- und Bruch­stück trieb sie in den schlei­chen­den Ruin und so hat­te sie in der Ver­gan­gen­heit beacht­li­che Schul­den ange­häuft, die sie nicht mehr wür­de beglei­chen kön­nen, wenn das Erspar­te ein­mal auf­ge­braucht wäre. Zu ihren mate­ri­el­len Sor­gen gesell­ten sich zudem auch zwi­schen­mensch­li­che Wir­run­gen. Wäh­rend ihr Vater zunächst sie gepflegt und auf­ge­zo­gen hat­te, war es nun an ihr, ihren alters­schwa­chen Vater zu ver­sor­gen. Sie hat­ten kein beson­ders gutes Ver­hält­nis zuein­an­der, denn er schien von ihr ent­täuscht zu sein und ließ sie das jeden Tag deut­lich spü­ren, doch war er immer noch ihr Vater und sie fühl­te sich für ihn verantwortlich.

Auch ihr Bezie­hungs­le­ben konn­te sie nicht glück­lich machen. Traf sie ein­mal einen Mann, auf den es sich in ihren Augen ein­zu­las­sen lohn­te, was in ihrem Leben wirk­lich sel­ten geschah, dann waren all die­se Bezie­hun­gen doch nie von all­zu lan­ger Dau­er und lie­ßen sie in einem emo­tio­na­len Trüm­mer­hau­fen zurück, wenn sie schließ­lich wie ein Kar­ten­haus zer­fie­len. Kein eines Mal in ihrem Leben hat­te sie je so etwas wie völ­li­ge Zufrie­den­heit erlebt. Zwar hat­te sie ab und an das so genann­te Glück gefun­den, doch ver­ging es stets so schnell wie es gekom­men war. Falls sich tat­säch­lich so etwas wie Hoff­nung vor ihrer Nase befand, so konn­te sie es jeden­falls nicht sehen. Kurz gesagt, ihr Leben war eine Groß­bau­stel­le, deren Archi­tekt ein Zyni­ker und deren Vor­ar­bei­ter ein hoff­nungs­lo­ser Unglücks­ra­be war.

Als sie zu einem ihrer vie­len Bewer­bungs­ge­sprä­che ging, zu einem Vor­stel­lungs­ter­min in einem anony­men Glas­pa­last, bei dem sie wie­der ein­mal abge­lehnt wur­de, traf sie einen auf­ge­weck­ten jun­gen Mann. Bei­de teil­ten das glei­che Schick­sal, zumin­dest in Hin­blick auf die ent­täusch­te Hoff­nung, die die­ses Bewer­bungs­ge­spräch ihnen ein­ge­pflanzt hat­te, und bei­de führ­ten sie ein Leben, mit dem sie nicht zufrie­den sein konn­ten, selbst wenn sie es gewollt hät­ten. Anstatt nach Hau­se zu fah­ren, wo nichts auf sie gewar­tet hät­te außer ihrem miss­ge­laun­ten Vater, setz­te sie sich gemein­sam mit die­sem Mann in ein Café, bestell­te Kuchen, den sie sich nicht leis­ten konn­te, und ver­brach­te den gesam­ten Nach­mit­tag mit ange­reg­ter Unter­hal­tung, mit Lachen und gar mit so etwas wie Eupho­rie. Die Zeit ver­ging, als ob sie es nicht bes­ser wüsste.

Spät am Abend stand sie vor der Wahl, den Tag mit die­ser kur­zen Epi­so­de der Freu­de zu been­den oder aber auf sein Ange­bot ein­zu­ge­hen, denn er hat­te sie char­mant in sei­ne Woh­nung ein­ge­la­den. Schließ­lich ver­brach­te sie die Nacht mit die­sem Mann. Er war nicht ihre gro­ße Lie­be, dar­über mach­te sie sich kei­ne Illu­sio­nen, doch zum ers­ten Mal seit lan­ger Zeit fühl­te sie sich wie­der glück­lich. Es war nicht bloß ein bei­läu­fi­ges Glücks­ge­fühl, wie sie es ab und an ein­mal erleb­te, son­dern völ­lig und unbe­dingt in sei­ner Art. Ihr Glück ver­dräng­te jedes ande­re Gefühl in ihr, all die Sor­gen und Ängs­te, deren schwe­res Gewicht sie stän­dig mit sich her­um­zu­tra­gen hat­te, das sie her­un­ter­zog und an den Boden presste.

Als sie am nächs­ten Mor­gen nach Hau­se kam, tanz­te sie ganz unbe­schwert her­um, schweb­te lächelnd durch die Räu­me und summ­te lei­se vor sich hin, wäh­rend ihr Vater, der all das über­rascht zur Kennt­nis nahm, sie bloß jäh und rup­pig anblaff­te, ob sie denn dies­mal end­lich einen ernst­zu­neh­men­den Arbeits­platz gefun­den hät­te. Sie aber woll­te das nicht hören, sie moch­te in die­sem Augen­blick von alle­dem nichts wis­sen, denn sie war glück­lich und sie woll­te die­ses zer­brech­li­che Glück nicht wie­der zer­fal­len sehen. Sie woll­te die­sen glück­li­chen Moment so lan­ge kon­ser­vie­ren wie irgend mög­lich. Sie blick­te auf die Fotos frü­he­rer Tage, die in die­sem Haus an den Wän­den hin­gen, fest­ge­hal­te­ne Erin­ne­run­gen an eine trau­ri­ge Ver­gan­gen­heit. „Du wirst glück­lich sein“, sprach sie sanft zu einem die­ser Bil­der, zu die­ser unglück­li­chen jun­gen Frau, die bis­lang so wenig Hoff­nung für sich gese­hen hat­te. Dann schritt sie fröh­lich in das Arbeits­zim­mer ihres Vaters, öff­ne­te eine Schreib­tisch­schub­la­de, griff hin­ein, nahm die gela­de­ne Pis­to­le her­aus, die ihr Vater dar­in auf­be­wahr­te, steck­te sich den Lauf in den Mund und drück­te ab.

Weißt du, was mir das Herz zer­reißt, jeden Mor­gen, wenn ich auf­ste­he, und jeden Abend, wenn ich mich schla­fen lege? Ich füh­le mich, als hät­te mich ein Last­wa­gen ange­fah­ren, und nicht nur das, als sei der Fah­rer has­tig aus­ge­stie­gen, um sich das Unglück näher anzu­se­hen, hät­te sich wie­der hin­ters Lenk­rad bege­ben, kalt den Rück­wärts­gang gewählt und mich erbar­mungs­los zer­quetscht, womit er schließ­lich noch ganz sicher gehen will, dass ich von hier nie wie­der auf­ste­hen wür­de. Wäh­rend es mir das Herz zer­reißt, zer­reißt du nur mei­ne Brie­fe, als wären es längst begli­che­ne Schuld­schei­ne aus einer klam­me­ren Ver­gan­gen­heit. Über­haupt behan­delst du mich, als sei es eine rui­nö­se Quar­tals­ab­rech­nung, die du nun mit mir durch­füh­ren musst, eine emo­tio­na­le Insol­venz, die mit den Wor­ten endet: Wir müs­sen Sie lei­der ent­las­sen, aber neh­men Sie es bit­te nicht per­sön­lich. Ja, wie denn sonst?
Du konn­test so schnell Anschluss fin­den, nach­dem wir aus­ein­an­der bra­chen. Weni­ge Stun­den danach kehr­test du zurück zum unbe­schwer­ten Tages­ge­schäft, du trafst dich mit dei­nen Freun­din­nen und Freun­den, du konn­test lachen und du gingst abends fröh­lich aus, so als hät­te es die­se Ver­bin­dung zwi­schen uns nie­mals gege­ben. Mich hin­ge­gen warf es aus der Bahn, tage­lang aß ich nicht genug, wochen­lang schlief ich nicht sehr viel, mona­te­lang war ich eine ande­re Per­son und noch für Jah­re wirst du in Gedan­ken immer bei mir sein. Für dich aber war es, als wür­dest du umstei­gen. Du ver­ließt den Zug, mit dem du bis hier­her gekom­men warst, und wo die­ser Zug ohne dich dann hin­fah­ren wür­de, was wei­ter­hin mit ihm geschah, das war dir egal, denn du stiegst bloß in einen neu­en. Kein Blick zurück, für dich war jeder Zug so gut wie jeder ande­re, und falls der alte Zug ent­gleist, nach­dem du aus­ge­stie­gen bist, dann umso bes­ser, dass du ihn recht­zei­tig ver­las­sen hast. Es riss mir den Boden unter den Füßen weg, doch du standst da wie eine Wächter­sta­tue, gleich­mü­tig und uner­schüt­ter­lich. Tag um Tag starr­te ich für Stun­den auf das Post­fach mei­ner Mails, jede SMS, die ich bekam, ver­setz­te mei­nem Her­zen einen hoff­nungs­fro­hen Schock, und wenn es klin­gel­te, dann rann­te ich zur Tür. Ich wuss­te, ich war­te­te ver­ge­bens, denn du warst schon längst wei­ter­ge­zo­gen, und den­noch konn­te ich nicht auf­hö­ren, ver­ge­bens auf dich zu war­ten. Mei­ne Gefüh­le koch­ten über und du nahmst dei­ne unge­rührt vom Herd, du stell­test sie nicht ein­mal auf die Warm­hal­te­plat­te. Du sag­test zu mir mit nai­ver Ernst­haf­tig­keit in der Stim­me, ich sol­le mei­ne Gefüh­le für dich ganz ein­fach ver­ges­sen, und du konn­test und kannst noch immer nicht ver­ste­hen, wie ich, wie irgend­je­mand Gefüh­le hegen kann, die sich nicht ein­fach wie das Licht belie­big ein- und aus­schal­ten las­sen. Ein­fach, für dich war alles ein­fach. Wie machst du das und wie konn­test du je lie­ben, wenn du Emo­tio­nen so stark unter ratio­na­le Kon­trol­le zwingst?
In dei­nen Augen haben wir uns zu unver­söhn­li­chen Gegen­spie­lern ent­wi­ckelt. Was zwi­schen uns geschah, das ist für dich zu einer Übung in Logik ver­kom­men, ein Debat­tier­club zu zweit, in dem gewinnt, wer sei­nen Geg­ner argu­men­ta­tiv zu Boden wirft. Du bist dar­in ver­bis­sen uner­bitt­lich, weil du die Deu­tungs­ho­heit über das Gesche­he­ne ver­langst. Wir waren für den jeweils ande­ren zu tra­gen­den Wän­den sei­nes Lebens gewor­den, und wäh­rend mein Haus nun in den Trüm­mern des Ver­gan­ge­nen liegt, hast du sie ein­ge­ris­sen, als wären sie aus Papp­ma­ché. Mit rück­sichts­lo­ser Prä­zi­si­on plat­zier­test du Spreng­stoff an allen Brü­cken, die wir uns zuvor mit Mühe erbaut hat­ten, damit die Welt für uns begeh­bar war, und als sie am Ende hin­ter dir zer­fie­len, stand ich noch immer drauf. Du hät­test all das nie so ernst genom­men, sagst du heu­te kalt zu mir, weil es von Anfang an mir wich­ti­ger gewe­sen sei als dir, was wir uns bei­de dort errich­te­ten, und beken­ne ich dir dann, dass du für mich auf ewig unver­gleich­bar blei­ben wirst, erwi­derst du in knap­pem Ton, du seist doch bloß wie all die ande­ren. Hast du die Lie­be je verstanden?
Ich ver­krie­che mich in mir selbst, wäh­rend du so bei­läu­fig neue Kon­tak­te knüpfst, als wäre nichts gesche­hen, als wäre dir jeder belie­bi­ge Mensch genug, um mich ganz gleich­gül­tig zu erset­zen. Wäh­rend du für mich die eine Schnee­flo­cke bist, die ich kein zwei­tes Mal auf die­ser Erde fin­den wer­de, wur­de ich für dich zu einem aus­tausch­ba­ren Was­ser­trop­fen, der völ­lig unsicht­bar im Meer ver­geht. All die Eigen­hei­ten unse­rer Bezie­hung, die mir für uns so exklu­siv erschie­nen, die klei­ne Welt, die ein­mal unse­re eige­ne war, teilst du so unbe­küm­mert mit mir Unbe­kann­ten, als hät­te sie dir nie etwas bedeu­tet. Jene Magie, die ein­mal zwi­schen uns bestand und die noch immer in mir wirkt, ist nun für dich bloß fau­ler Zau­ber, an dem du dich mit einer Ver­ve ver­gehst, die mir zer­stö­re­risch erscheint. Was dir einst wich­tig war und mir stets ist, das ist für dich wie aus­ge­löscht. Du tust, als sei da kein Gefühl, und die­ser Part liegt dir so gut, dass ich mich manch­mal fra­ge, ob das nun wirk­lich Schau­spiel ist oder ob Lie­be denn für dich schon immer bloß die Rol­le war. Was mir das Herz zer­bricht, das ist, dass dei­nes kei­nen Krat­zer trägt.

„Wie­so bist du hier?“

„Ich bin gekom­men, um end­lich das zu tun, wor­auf ich schon so lan­ge warte.“

„Du kannst mich nicht töten, das weißt du. Er wird es nicht zulas­sen. Du wur­dest ver­bannt, das ist nicht mehr dein Reich.“

„Er war glück­li­cher, bevor du kamst, und er fängt an, das zu begreifen.“

„Er war nicht glücklich.“

„Dei­ne gewohn­te Über­heb­lich­keit, mein Freund. Nein, er war nicht glück­lich, aber war nie so unglück­lich wie jetzt, nach alle­dem, was du ihm ange­tan hast.“

„Was ich ihm ange­tan habe? Du bist so selbst­ge­recht wie eh und je. Ich war für ihn Prometheus!“

„Du warst für ihn Pandora.“

„Ich gab ihm Hoffnung…“

„Ent­täuscht!“

„…ich gab ihm Zuversicht …“

„Ernüch­tert!“

„…ich gab ihm Glau­ben an das Gute.“

„Und was hat es gebracht? Was hat es ihm gebracht?“

„Er führt end­lich ein Leben, ein rich­ti­ges Leben. Was für ein Leben war es denn zuvor, bevor ich kam, als er noch füg­sam auf dich hör­te? Was waren dei­ne Leis­tun­gen für ihn, was hast du Gutes je für ihn getan? Du hast ihn mit dem Wahn infi­ziert, die Welt habe ihm nichts, aber auch gar nichts zu bie­ten, hast ihn ent­mu­tigt und ihn mit­lei­dig beschwo­ren, sich hin­ter einer Mau­er zu ver­ste­cken, die du bereit­wil­lig für ihn errich­tet hast. Alles, was er sah, das war für ihn nur schlecht, böse und es nicht wert, sich dar­auf einzulassen.“

„Bis du kamst, nicht wahr, und ihm gesagt hast, er brau­che nur in das Gute zu ver­trau­en, und das Gute wür­de gesche­hen. Oh, du Narr! Er war naiv genug, um dir zu glau­ben, doch was bekam er dann dafür? Ent­täu­schung, Wut, Ver­zweif­lung. Es hat sich nie gelohnt. Das Gute, das du ihm ver­sprachst, hat er bis heu­te nicht gesehen.“

„Er wird es sehen und das War­ten wird sich für ihn loh­nen, wenn er bloß jetzt nicht resi­gniert, wenn er sich Offen­heit bewahrt und nicht in sei­nem Gram ver­schließt. Bleib von ihm fern, und auf lan­ge Sicht wird alles gut.“

„Das War­ten, das War­ten, das War­ten. Wie lan­ge soll er denn noch war­ten? Schau ihn dir an, er hat genug vom War­ten. Wer kann es ihm ver­übeln? Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr ver­trös­test du ihn mit die­sem vor­lau­ten, hane­bü­che­nen Opti­mis­mus, er müs­se nur Geduld haben, und das Gute wer­de ihn erei­len. Nie hat er irgend­was davon gese­hen, bis heu­te wur­de es nicht wahr. Zum Teu­fel mit der Geduld! Zum Teu­fel mit der Offenheit!“

„Du wirst ihn nicht wie­der bekom­men. Er ist ein bes­se­rer geworden.“

„Ach ja? Wie war er denn, bevor du ihn ver­füh­ren kamst?“

„Zynisch. Er war ein Pes­si­mist, er hat­te kei­ner­lei Erwar­tun­gen an die Welt, denn da warst du und hast sie ihm genommen.“

„Aber du gabst ihm Erwar­tun­gen, Hoff­nun­gen und Vertrauen…?“

„Ganz recht, ich gab ihm Erwar­tun­gen, Hoff­nun­gen und Ver­trau­en, wäh­rend du ihm alles nahmst.“

„Du gabst ihm Luft­schlös­ser, Träu­me und Illu­sio­nen! Du hast ihm die ver­bo­te­ne Frucht prä­sen­tiert und er, er hat sie sich genom­men. Hat sich eine sei­ner Erwar­tung erfüllt, die du in ihm gesät hast? Irgend­ei­ne? Sein Unglück, das ihn nun so quält, was glaubst du wohl, woher es rührt? Jede ernst­haf­te Erwar­tung wur­de ent­täuscht, jede auf­rich­ti­ge Hoff­nung, jedes offe­ne Ver­trau­en. Wo du auf­trittst, endet es immer wie­der gleich. Quel­len der Pein sind alles, was du ihm gege­ben hast. Das ist sein Unglück! Ohne dich hät­te er all das Leid nie erfah­ren, und er leb­te gut so, bevor du anfingst, alles zu zerstören.“

„Ja, denn das war dei­ne Lösung für ihn: Lee­re. Natür­lich, er konn­te nicht ent­täuscht wer­den, wenn er kei­ner­lei Erwar­tun­gen heg­te, aber kann ein Mensch so je glück­lich wer­den? Er wird sein Glück nur fin­den kön­nen, wenn er das Risi­ko wagt, von Zeit zu Zeit ent­täuscht zu wer­den. Du aber hast ihm alles genom­men, für das es sich zu leben lohnt. Er hat­te kei­ner­lei Hoff­nung für die Zukunft. Es gab nie­man­den, dem er sein Ver­trau­en schenk­te. Kein Mensch war ihm wich­tig, die Welt für ihn ein schlech­ter Ort. Und du besitzt die Unver­schämt­heit, es zu wagen, das ein gutes Leben zu nen­nen, was er da führte?“

„Ein bes­se­res als du es ihm geschaf­fen hast. Zynis­mus hat ihn nie so hart ent­täuscht wie du. Frü­her war er stär­ker, frü­her hat­te er sein Boll­werk gegen die Welt. Doch dann kamst du, mein Freund, der edle Befrei­er, und du erst hast ihm ein­ge­re­det, er kön­ne so nicht leben, das mache ihn nicht glück­lich, er sol­le alle Tore sei­ner Fes­tung öff­nen, um das Gute in sein Leben zie­hen zu las­sen. Aber was kam wirk­lich durch die Tore? Sieh ihn dir an! Er ist unglück­li­cher als je zuvor.“

„Er kann nicht ein­fach wie­der zurück­ge­hen, nicht nach­dem er so weit gekom­men ist. Wenn er die Hoff­nung fah­ren lässt, ist er so gut wie tot, das siehst auch du. Ich zei­ge ihm das Leben, du zeigst ihm bloß Verzweiflung.“

„Ich zei­ge ihm, wie er Ver­zweif­lung aus dem Weg geht, die du erst in sein Leben gebracht hast. Er hat genug von dir. Sei­ne Geduld ist am Ende, des­we­gen bin ich hier. Er wird dich nicht län­ger beschüt­zen. Du hat­test dei­ne Chan­ce und du hast versagt.“

Wer mit Unge­heu­ern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Unge­heu­er wird, schreibt Nietz­sche, und wenn du lan­ge in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.