In all den Diskussionen um die Vor- und Nachteile sowie die realen oder nur projizierten Gefahren sozialer Internet-Dienste vermisse ich bislang einen Aspekt, den ich für sehr zentral und für mit weitreichenden Folgen verbunden halte: Effizienz.

Versteht man beispielsweise Twitter, Facebook oder Formspring als charakteristische Stellvertreter der Social-Media-Dienste, bedeutet dies unterm Strich, die 1:1-Relationen in der Kommunikation zwischen Freunden oder „Freunden“ werden mittels dieser Dienste wesentlich leichter, wesentlich öfter in 1:n-Relationen umgewandelt.

Für einen Dienst wie Formspring, bei dem User anderen Usern Fragen stellen können, auch anonym, die dann inklusive der dazugehörigen Antworten allen anderen Usern zum Lesen zur Verfügung stehen, bedeutet dies konkret: Hat nur ein einziger der User eine Frage an einen bestimmten User gestellt, brauchen sämtliche anderen User dieselbe Frage diesem bestimmten User nicht noch einmal zu stellen. Im Gegenteil: Oft ist zu beobachten, dass es die Antwortenden in der Regel nervt, wenn ein Fragender eine bereits beantwortete Frage noch einmal stellt. Wenn nun beispielsweise ein User in seiner formspring-Karriere ungefähr 500 Fragen beantwortet hat, brauchen alle anderen, die jene Fragen und deren Antworten gelesen haben, diese 500 Fragen und zig Millionen andere Fragen, die zu ähnlichen Antworten geführt hätten, nicht mehr stellen und werden möglicherweise vom Antwortenden sogar darauf hingewiesen, er wolle diese Frage nicht noch einmal beantworten, denn das habe er ja bereits. Schon beim Umgang mit Blogs, Twitter oder Facebook ist bisweilen Ähnliches zu beobachten, sodass es dann mitunter zu Dialogen kommt, die wie folgt verlaufen: „Hab ich dir schon das Neueste erzählt?“ „Nein, aber ich hab’s in deinem Blog/in deinem Tweet/auf Facebook gelesen.“ „Ach so.“

Es ist nicht mehr nötig, jedem der eigenen Freunde die neuen Urlaubsfotos zu zeigen, wenn man sie einfach auf Facebook stellen kann, wo sie jeder bequem ansehen kann, wann immer es beliebt. Die Gespräche mit Freunden über den neuen Partner werden ersetzt durch eine Änderung des Beziehungsstatus, der sofort von allen Freunden zur Kenntnis genommen werden kann, ohne mit jedem von ihnen einzeln darüber sprechen zu müssen. Direkte Kommunikation weicht der Veröffentlichung von Informationen für ein Publikum, so als gebe man eine Pressekonferenz über die eigene Person.

All das bedeutet trotz bewusster Überzeichnung, die Kommunikation verschiebt sich aufgrund der neuen Einfachheit, die diese sozialen Dienste bieten, vom Schwerpunkt ein wenig weg von direkter 1:1-Kommunikation, die aber natürlich nicht verschwindet, hin zu breiteren 1:n-Kommunikationskanälen, was bedeutet, dass es möglich wird, via Facebook, Twitter oder auch Formspring viele Menschen gleichzeitig über seine Aktivitäten, Gedanken, Meinungen und so weiter zu informieren.

Eine ehemalige Kommilitonin hielt StudiVZ gerade deswegen für so praktisch, weil sie dann nicht mehr all ihren Freunden separat (1:1) von Neuerungen in ihrem Leben erzählen müsse, sondern das einfach nur noch ins StudiVZ zu schreiben habe (1:n). Das ist zwar nun in diesem Beispiel ein Extremfall, wenn auch wahr, dennoch lässt sich die allgemeine Tendenz all dieser Dienste damit beschreiben, dass sie objektiv ein Mittel zur Effizienzsteigerung der Kontaktverwaltung darstellen und Redundanz abbauen.

Wenn man fünf Freunden oder „Freunden“ nicht mehr separat erzählen muss, was man gestern gemacht, wen man kennengelernt, was man gekauft oder gesehen hat, sondern das lediglich ein einziges Mal auf einem Blog schreiben oder auf Facebook veröffentlichen muss, wo es alle fünf dann jederzeit nachlesen können, dann habe ich den Umgang mit meinen Freunden optimiert und dessen Effizienz gesteigert, weil ich Redundanzen abgebaut habe. Gleichzeitig erleichtert das den Aufbau eines wesentlich größeren „Freundes“-Kreises und erhöht das eigene »soziale Kapital« (Bourdieu), auf das man zugreifen kann. Zudem erstellt man gewissermaßen sein eigenes Dossier, das man Interessenten an der eigenen Person nur noch in die Hand zu drücken braucht – auch das Kennenlernen oder vielmehr das, was man dann für Kennenlernen hält, wird dadurch optimiert, beschleunigt, vereinfacht und letztlich effizienter. Das Soziale wird zunächst auf Daten reduziert.

Der Begriff der Objektivität ist hier von großer Relevanz. Meine beschreibenden Worte möchten nicht ausdrücken, dass dieser Effekt der Effizienzsteigerung in jedem Fall die subjektive Intention der Nutzer ist, aber er ist dennoch das objektive Resultat, so wie auch niemand mit der subjektiven Intention einkaufen geht, das Wirtschaftssystem zu erhalten oder den Staat mittels Steuern unterstützen zu wollen, während all diese Dinge jedoch gleichzeitig objektives Ergebnis des Einkaufens sind, ganz egal was die subjektive Intention sein mag.

Viele gesellschaftliche oder individuelle Entwicklungen haben teilweise verheerende Nebenfolgen, die uns in den seltensten Fällen wirklich bewusst sind und die wir keineswegs als Intention dieses Handelns anführen würden. Niemand beginnt mit dem Rauchen, weil es so schön gesundheitsgefährdend ist, und auch wenn das nicht subjektive Intention des Rauchens ist, so ist es doch objektiver Effekt. Das gleiche trifft auf Umweltzerstörung zu, da niemand (oder zumindest fast niemand) morgens mit dem Vorhaben aufsteht, heute bewusst die Umwelt zu zerstören, sondern weil es häufig der mehr oder weniger unbewusste Nebeneffekt vieler als völlig selbstverständlich erachteter Handlungsweisen ist, der nur dann überhaupt als Problem begriffen und beseitigt werden kann, wenn man sich dieses Nebeneffekts tatsächlich bewusst wird.

Bei all den Vorteilen, die solche Social-Media-Dienste bieten, ist dies, dieser gesellschaftlich sanktionierte bis bedingte, unter anderem durch prekäre Arbeitsverhältnisse und der Forderung nach zunehmender Mobilität und Flexibilität befeuerte und in Form dieser Dienste recht transparent auftretende Effizienzgesichtspunkt in zwischenmenschlichen Beziehungen, einer dieser unbewussten Nebeneffekte, über den etwas mehr Reflexion vielleicht angebracht wäre, um den Umgang mit diesen Diensten entsprechend bewusster zu gestalten. Letztlich stellt sich nämlich zumindest mir die Frage, in welchem Maße eine solche Effizienzsteigerung des Zwischenmenschlichen überhaupt wünschenswert erscheint und ob größtmögliche Quantität sowie der Gesichtspunkt der Effizienz dem Konzept ernsthafter Freundschaft nicht diametral widersprechen.

Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden durch Leute, die weder das Recht, noch das Wissen, noch die Kraft dazu haben… Regiert sein heißt, bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung versteuert, patentiert, notiert, registriert, erfasst, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, lizensiert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, behindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden. Es heißt, unter dem Vorwand der öffentlichen Nützlichkeit und im Namen des Allgemeininteresses ausgenutzt, verwaltet, geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepresst, getäuscht, bestohlen zu werden; schließlich bei dem geringsten Widerstand, beim ersten Wort der Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht, beleidigt, verfolgt, mißhandelt, zu Boden geschlagen, entwaffnet, geknebelt, eingesperrt, füsiliert, beschossen, verurteilt, verdammt, deportiert, geopfert, verkauft, verraten und obendrein verhöhnt, gehänselt, beschimpft und entehrt zu werden. Das ist die Regierung, das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre Moral.
(Pierre-Joseph Proudhon – Idée générale de la Révolution au dix-neuvième siècle, 1851)

Niemand sollte jemals arbeiten.
Arbeit ist die Ursache nahezu allen Elends in der Welt. Fast jedes erdenkliche Übel geht aufs Arbeiten oder auf eine fürs Arbeiten eingerichtete Welt zurück. Um das Leiden zu beenden, müssen wir aufhören zu arbeiten.
Das bedeutet nicht, daß wir aufhören sollten, Dinge zu tun. Vielmehr sollten wir eine neue Lebensweise schaffen, der das Spielen zugrundeliegt; sozusagen eine spielerische Revolution.
Spielerisches Leben ist völlig inkompatibel zur bestehenden Wirklichkeit. Das sagt alles über die „Wirklichkeit“, das Schwerkraftloch, das dem Wenigen im Leben, das es noch vom bloßen Überleben unterscheidet, die Lebenskraft absaugt. Seltsamerweise – oder vielleicht auch nicht – sind alle alten Ideologien konservativ, weil sie an die Arbeit glauben.
Die Liberalen fordern ein Ende der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Ich fordere ein Ende des Arbeitsmarktes. Die Konservativen unterstützen das Recht auf Arbeit. Mit Karl Marx‘ eigensinnigem Schwiegersohn Paul Lafargue unterstütze ich das „Recht auf Faulheit“. So wie die Surrealisten – abgesehen davon, daß ich es ernst meine – fordere ich volle Arbeitslosigkeit. Die Trotzkisten agitieren für die permanente Revolution. Ich agitiere für permanentes Feiern. Aber wenn alle Ideologen die Arbeit verteidigen, was sie ja tun, und das nicht nur, weil sie andere dazu bringen wollen, ihren Teil mitzumachen, geben sie es doch ungern zu. Sie führen endlose Debatten über Löhne, Arbeitsstunden, Arbeitsbedingungen, Ausbeutung, Produktivität und Gewinnchancen. Sie reden gern über alles – außer über die Arbeit selbst. Diese Experten, die sich anbieten, uns das Denken abzunehmen, teilen selten ihre Erkenntnisse über die Arbeit mit uns, trotz der Bedeutung für unser aller Leben. Untereinander streiten sie sich ein bißchen über die Einzelheiten. (…) All diese Ideologen haben ernste Differenzen über die Verteilung der Macht. Genauso klar ist, daß sie der Macht als solcher nicht widersprechen und daß sie uns alle am Arbeiten halten wollen.
Die Entwürdigung, die die meisten Arbeitenden bei ihren Jobs erleben, entspringt der Summe der verschiedensten Demütigungen, die unter dem Begriff „Disziplin“ zusammengefaßt werden können. Foucault hat dieses Phänomen komplexer dargestellt, aber es ist eigentlich ganz einfach. Disziplin besteht aus der Absolutheit der totalitären Kontrolle am Arbeitsplatz – Überwachung, Fließband, vorgegebenes Arbeitstempo, Produktionsziffern, Stechuhr usw. Disziplin ist das, was Fabrik, Büro und Geschäft mit dem Gefängnis, der Schule und dem Irrenhaus gemein haben. Es ist etwas historisch Einzigartiges und Furchtbares. Es überstieg die Fähigkeiten solch teuflischer Diktatoren wie weiland Nero oder Dschingis Khan oder Iwan des Schrecklichen. So schlecht ihre Absichten auch gewesen sein mögen, ihnen fehlte die Maschinerie, um ihre Untertanen so gründlich zu kontrollieren, wie es moderne Despoten vermögen. Disziplin ist die charakteristisch moderne Funktionsweise der gesellschaftlichen Kontrolle, es ist ein innovatives Eintrichtern, gegen das bei der ersten sich bietenden Gelegenheit eingeschritten werden muß.
So steht es mit der Arbeit. Spielen ist das gerade Gegenteil. Spielen ist immer freiwillig. Was ansonsten Spiel wäre, wird zur Arbeit, sobald es erzwungen wird.
Wir haben jetzt die Möglichkeit, die Arbeit abzuschaffen und den notwendigen Anteil Arbeit durch eine Vielfalt an neuen freien Aktivitäten zu ersetzen. Die Abschaffung der Arbeit erfordert eine Annäherung von zwei Seiten, einer quantitativen und einer qualitativen. Auf der einen, der quantitativen Seite, müssen wir die Menge geleisteter Arbeit massiv reduzieren. Gegenwärtig ist die meiste Arbeit einfach nutzlos und wir sollten sie loswerden. Auf der anderen Seite – und ich denke, diese qualitative Annäherung ist der Knackpunkt und der wirklich revolutionäre Aufbruch – müssen wir die wenige nutzbringende Arbeit in verschiedenste spielerische und handwerkliche Freuden verwandeln, nicht unterscheidbar von anderen freudvollen Tätigkeiten, außer dadurch, daß sie nebenbei nützliche Endprodukte hervorbringen. Das sollte sie aber keinesfalls weniger verlockend machen. In der Folge könnten alle künstlichen Schranken von Macht und Besitz fallen. Schöpfung wäre nicht mehr Erschöpfung. Und wir könnten alle aufhören, voreinander Angst zu haben.
Ich unterstelle nicht, daß diese Verwandlung bei jeder Art von Arbeit möglich ist. Aber dann ist die meiste Arbeit auch nicht wert, erhalten zu werden. Nur ein kleiner und sich noch verkleinernder Ausschnitt der Arbeitswelt dient letztlich einem Zweck, den nicht erst die Verteidigung und Reproduktion des Arbeitssystems und seiner politischen und rechtlichen Anhängsel nötig machen (…): die meiste Arbeit dient direkt oder indirekt der wirtschaftlichen oder sozialen Kontrolle. Es wäre also einfach so möglich, Millionen von Verkäufern, Soldaten, Managern, Polizisten, Börsianern, Priestern, Bankiers, Anwälten, Lehrern, Vermietern, Wachen und Werbeleuten von der Arbeit zu befreien, nebst allen, die für sie arbeiten.
(Bob Black – Die Abschaffung der Arbeit; im Original: The Abolition of Work)

In einem seiner Filme, The Fatal Glass of Beer, zeigt ein Altmeister der amerikanischen Filmkomik, W. C. Fields, den erschröcklichen, unaufhaltsamen Niedergang eines jungen Mannes, der der Versuchung nicht widerstehen kann, sein erstes Glas Bier zu trinken. Der warnend erhobene (wenn auch vor unterdrücktem Lachen leicht zitternde) Zeigefinger ist nicht zu übersehen: Die Tat ist kurz, die Reue lang. Und wie lang! (Man denke nur an eine andere biblische Urmutter: Eva, und das bißchen Apfel…)
Diese Fatalität hat ihre unleugbaren Vorteile, die bisher schamhaft verschwiegen wurden, in unserem aufgeklärten Zeitalter aber nicht länger verheimlicht werden dürfen: Reue hin, Reue her – für unser Thema ist es viel wichtiger, daß die nie wieder gutzumachenden Folgen des ersten Glases Bier alle weiteren Gläser wenn schon nicht entschuldigen, so doch zwingend begründen. Anders ausgedrückt: schön – man steht schuldbeladen da, man hätte es damals besser wissen sollen, aber jetzt ist es zu spät. Damals sündigte man, jetzt ist man das Opfer des eigenen Fehltritts. Ideal ist diese Form der Unglücklichkeitskonstruktion freilich nicht, nur passabel.
Suchen wir daher nach Verfeinerungen. Was, wenn wir am ursprünglichen Ereignis unbeteiligt sind? Wenn uns niemand der Mithilfe beschuldigen kann? Kein Zweifel, dann sind wir reine Opfer, und es soll nur jemand versuchen, an unserem Opfer-Status zu rütteln oder gar zu erwarten, daß wir etwas dagegen unternehmen. Was uns Gott, Welt, Schicksal, Natur, Chromosome und Hormone, Gesellschaft, Eltern, Verwandte, Polizei, Lehrer, Ärzte, Chefs oder besonders Freunde antaten, wiegt so schwer, daß die bloße Insinuation, vielleicht etwas dagegen tun zu können, schon eine Beleidigung ist. Außerdem ist sie unwissenschaftlich.
(Paul Watzlawick – Anleitung zum Unglücklichsein)

Zu meinen, wenn man allen gleiche wirtschaftliche Mittel bereitstelle, gäbe man auch allen, sofern sie die unerläßliche „Begabung“ mitbrächten, gleiche Chancen (…), hieße in der Analyse der Hindernisse auf halbem Wege stehenbleiben und übersehen, daß die an Prüfungskriterien gemessenen Fähigkeiten weit mehr als durch natürliche „Begabung“ (…) durch die mehr oder minder große Affinität zwischen den kulturellen Gewohnheiten einer Klasse und den Anforderungen des Bildungswesens oder dessen Erfolgskriterien bedingt sind. (…) Das kulturelle Erbe ist so ausschlaggebend, daß auch ohne ausdrückliche Diskriminierungsmaßnahmen die Exklusivität garantiert bleibt, da hier nur ausgeschlossen scheint, wer sich selbst ausschließt. (…) Die Mechanismen, die zur Eliminierung der Kinder aus den unteren und mittleren Klassen führen, wären bei einer systematischen Stipendien- und Studienbeihilfepolitik, die alle Gesellschaftsklassen formal gleichstellen würde, fast ebenso (nur diskreter) wirksam; daß die verschiedenen Gesellschaftsklassen auf den verschiedenen Stufen des Bildungswesens ungleich vertreten sind, ließe sich dann mit noch besserem Gewissen auf ungleiche Begabung und ungleichen Bildungseifer zurückführen. Kurz, die Tragweite der sozialen Ungleichheitsfaktoren ist so groß, daß auch eine wirtschaftliche Angleichung nicht viel ändern würde, da das Bildungssystem immer weiter soziales Privileg in Begabung oder individuelles Verdienst umdeuten und die Ungleichheit dadurch legitimieren würde. (…) In der Überzeugung, daß man nur ordentlich zu rechnen brauche, um in der besten aller denkbaren Gesellschaften auch das beste aller Bildungswesen zu schaffen, verfallen die neuen optimistischen Philosophen der Sozialordnung in die alte Sprache aller Soziodizeen, die zu beweisen versuchen, daß die Sozialordnung so ist, wie sie sein soll, weil man ihre scheinbaren Opfer nicht einmal mehr zur Ordnung rufen muß, da sie ohnehin bereitwillig das sind, was sie sein sollen. Diese Bildungsforscher dienen stillschweigend der Funktion der Legitimierung und Bewahrung der Sozialordnung, die das Bildungswesen erfüllt, wenn es die Klassen, die es ausschließt, von der Legitimität ihres Ausschlusses überzeugt, indem es sie hindert, die Prinzipien, aufgrund derer es sie ausschließt, zu erkennen und anzufechten. Die Urteile der Bildungsinstanzen sind deshalb so definitiv, weil sie mit der Verurteilung zugleich Vergessen über die sozialen Implikationen des Urteils verhängen. Damit soziales Schicksal in freie Berufung und persönliches Verdienst umgedeutet werden kann (…), muß das Bildungswesen als „Oberster Priester der Göttin Notwendigkeit“ die Individuen erfolgreich davon überzeugen, daß sie ihr Schicksal, das durch die soziale Notwendigkeit längst über sie verhängt war, selbst gewählt oder verdient haben. Besser als die politischen Religionen, deren konstanteste Funktion (…) darin bestand, die herrschenden Klassen mit einer Theodizee ihres Privilegs auszustatten, besser als die Heilslehren vom Jenseits, die zur Perpetuierung der Sozialordnung durch das Versprechen beitrugen, diese Ordnung werde nach dem Tode umgestürzt, besser als die Doktrin vom Karma, die (…) den sozialen Rang jedes Individuums im Kastensystem aus dem Grad seiner religiösen Vollkommenheit im Kreislauf der Seelenwanderung ableitete, vermag es heute das Bildungswesen mit seiner Ideologie der „natürlichen Begabung“ und der „angeborenen Neigungen“, den Kreislauf der Reproduktion der sozialen Hierarchien und der Bildungshierarchien zu legitimieren.
(Pierre Bourdieu / Jean-Claude Passeron – Die Illusion der Chancengleichheit)

Will man sich davon überzeugen, daß die verborgenste und spezifischste Funktion des Bildungssystems in der Tarnung seiner objektiven Funktion, das heißt der objektiven Wahrheit seiner Relation zur Struktur der Klassenbeziehungen steht, braucht man nur einem konsequenten Bildungsplaner zuzuhören, wenn er nach dem sichersten Mittel fragt, um von vornherein die Schüler auszulesen, die schulischen Erfolg versprechen, und dadurch die technische Rentabilität des Bildungssystems zu steigern. Er muß sich die Frage nach den Charakteristika der betreffenden Kandidaten stellen: „In einer Demokratie können die mit öffentlichen Mitteln unterhaltenen Institutionen nicht unmittelbar und offen aufgrund bestimmter Charakteristika auslesen. Sinnvollerweise müßte man Charakteristika wie Geschlecht, soziale Herkunft, Dauer der Schulzeit, Aussehen, Aussprache und Intonation, den sozio-ökonomischen Status der Eltern und das Prestige der zuletzt besuchten Schule berücksichtigen (…). Aber selbst wenn man zeigen könnte, daß die Studenten niederer sozialer Herkunft mit großer Wahrscheinlichkeit schlechte Studienresultate erzielen, wäre eine offen und unmittelbar gegen diese Kandidaten gerichtete Auslesepolitik untragbar. Dennoch weiß man, daß dieser Faktor indirekt einen Einfluß ausübt, der in den schlechten Ergebnissen der Abschlußexamina oder in anderen Eigenschaften zum Ausdruck kommt“ (R. K. Kelsall). Kurz, die vergeudete Zeit (und das vergeudete Geld) ist zugleich der Preis für die Verschleierung der Relation zwischen sozialer Herkunft und Studienerfolg; denn, wollte man billiger und schneller vollziehen, was das System ohnehin leistet, würde man eine Funktion offenlegen und damit hinfällig machen, die nur im verborgenen wirken kann. Das Bildungswesen legitimiert die Machtübergabe von einer Generation auf die andere immer um den Preis einer Vergeudung von Geld und Zeit, indem es die Relation zwischen dem sozialen Ausgangs- und Endpunkt des Bildungsgangs mittels eines Berechtigungseffekts kaschiert, der durch die demonstrative und oft hyperbolische Länge des Bildungsgangs ermöglicht wird. Die verlorene Zeit ist kein bloßes Verlustgeschäft, da sie einer Transformation der Einstellung zum System und seinen Sanktionen dient, die unerläßlich ist, damit das System funktionieren und alle seine Funktionen erfüllen kann.
(Pierre Bourdieu / Jean-Claude Passeron – Die Illusion der Chancengleichheit)

Die ernste Gefahr für unsere Demokratie besteht nicht in der Existenz totalitärer fremder Staaten. Sie besteht darin, daß in unseren eigenen persönlichen Einstellungen und in unseren eigenen Institutionen Bedingungen herrschen, die der Autorität von außen, der Disziplin, der Uniformität und Abhängigkeit vom Führer in diesen Ländern zum Sieg verhelfen. Demnach befindet sich das Schlachtfeld hier – in uns selbst und in unseren Institutionen.
(John Dewey, 1939)

Ein Mathematiker, der einige Soziologie-Veranstaltungen besuchte, resümierte beides wie folgt:

Während ihm die Mathematik mehr oder minder eindeutige Antworten liefere, zumindest aber meist Antworten, und ihm gleichzeitig als Bezugspunkt etwas biete, auf das er sich mit einer gewissen Sicherheit berufen könne – ein Axiom, eine Formel oder ähnliches -, fördere die Soziologie beim Versuch der Beantwortung einer Frage stets eine Vielzahl neuer Fragen zutage, ohne dabei aber die eigentliche Frage wirklich zu beantworten.

Diese Einschätzung meinte er dabei keineswegs negativ, sondern bezeichnete die Soziologie als die »Wissenschaft der guten Fragen«.

Gegenüber der imaginären Anthropologie der Wirtschaftswissenschaft, die sich noch nie der Formulierung universeller Gesetze der »zeitlichen Präferenz« entschlagen konnte, ist daran zu erinnern, daß die jeweilige Geneigtheit zur Unterordnung gegenwärtiger Wünsche unter zukünftige Befriedigungen davon abhängt, wie »vernünftig« dieses Opfer ist, d.h. von den jeweiligen Chancen, auf jeden Fall in der Zukunft mehr an Befriedigung zu erhalten als was gegenwärtig geopfert wurde. Unter die ökonomischen Bedingungen der Neigung, untermittelbare Wunscherfüllung zugunsten künftig erhoffter zurückzustellen, ist gleichermaßen die in der gegenwärtigen Lage angelegte Wahrscheinlichkeit der zukünftigen Befriedigung zu rechnen. (…) Für diejenigen, die – wie es so heißt – keine Zukunft haben, die jedenfalls von dieser wenig zu erwarten haben, stellt der Hedonismus, der Tag für Tag zu den unmittelbar gegebenen seltenen Befriedigungsmöglichkeiten (»die günstigen Augenblicke«) greifen läßt, allemal noch die einzig denkbare Philosophie dar. Verständlicher wird damit, warum der vornehmlich im Verhältnis zur Nahrung sich offenbarende praktische Materialismus zu einem der Grundbestandteile des Ethos, ja selbst der Ethik der unteren Klassen gehört: das Gegenwärtigsein im Gegenwärtigen, das sich bekundet in der Sorge, die günstigen Augenblicke auszunutzen und die Zeit zu nehmen, wie sie kommt, ist von sich aus Manifestation von Solidarität mit den anderen (die im übrigen häufig genug die einzige vorhandene Sicherheit gegen die Unbill der Zukunft bilden) insoweit, als in diesem gleichsam vollkommenen zeitlichen Immanenzverhalten sich doch auch die Anerkennung der die spezifische Lage definierenden Grenzen offenbart.
(Pierre Bourdieu – Die feinen Unterschiede)

In der Regionalbahn, eine wahre Begebenheit. Zwei ältere Herren betreten den Doppelstockwagen und suchen sich einen Sitzplatz im oberen Bereich:

#1: Das sind doch schöne Plätze. Ich mag es hier oben.

#2: Aber du weißt: Wenn man erst einmal oben ist …

#1: … will man nicht wieder runter?

#2: Das auch. Vor allem aber will man immer höher. Wie Schiller schon sagte: »Streben wir nicht allzu hoch hinauf, daß wir zu tief nicht fallen mögen«.

#1: Nun, das ist eben Risiko. Ich glaube, risikobewusste Menschen sitzen oben, anstatt unten in der Masse unterzugehen.

#2: Aber man braucht die da unten, um sich hier oben besser fühlen zu können.

PAUSE

#1: Ich mag die Aussicht hier oben. Man sieht so weit. Unten sieht man nur Büsche.

#2: Man sieht vielleicht mehr, aber sieht man auch besser?

#1: Ich denke schon. Man kann anderen besser helfen, wenn man oben ist. Man hat mehr Möglichkeiten und einen besseren Überblick.

#2: Da habe ich andere Erfahrungen: Oben sieht man über alles hinweg. Solange die von unten nicht nach oben kommen, nimmt man sie nicht wahr.

#1: Da hast du Recht. Aber es scheint, die haben sich mit ihrem Platz da unten abgefunden.

#2: Vielleicht weil sie noch nie oben waren.

#1: Das kann sein.

Fazit: So einfach kann man die Gesellschaft grob zusammenfassen. Während gestern noch vom so genannten Fahrstuhleffekt gesprochen wurde, kommt es nun durch Auflösung der Mittelschicht zur Doppelstockwagen-Gesellschaft.