Das Märchen von der Leistungsgesellschaft

Leistungsgesellschaft oder Meritokratie bedeutet sinngemäß eine „Herrschaftsordnung nach Maßgabe von Begabung und Leistungsfähigkeit des Einzelnen“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 39), wonach soziale Unterschiede nicht per se als ungerecht angesehen werden, solange sie das Ergebnis individueller Leistungsunterschiede sind (vgl. Hillmert, 2007). Hervorgehoben wird von einem liberalen Standpunkt, dass eine meritokratische Gesellschaft fairer und freiheitlicher erscheine als ein Wohlfahrtsstaat, der „durch gezielte Eingriffe in die Lebensumstände von Menschen individuelle und kollektive Chancengleichheit herzustellen“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 38) versucht. Chancengleichheit wird nach dieser Auffassung lediglich als Sicherung gleicher Startchancen verstanden, auf deren Basis individuelle Leistung den weiteren Erfolg determinieren soll, womit der Staat seine gesellschaftsformenden Ansprüche aufgibt und ein Modell formaler Gleichbehandlung zugrunde legt. Beides ist ebenso zutreffend für das Schulsystem als Vertreter der staatlichen Ordnung. Einkommens- und Machtunterschiede wie auch Bildungsungleichheiten werden in diesem Kontext zunächst als legitim betrachtet, wenn keine leistungsfremden Einflüsse diese Ungleichheiten mitbestimmen, denn die „Regelung des Zugangs zu begehrten und knappen sozialen Positionen sollte in einer demokratischen Gesellschaft nach Leistung, Können und Anstrengung, d.h. nach nachvollziehbaren und gesellschaftlich akzeptierten bzw. allgemein als gerecht empfundenen Kriterien, erfolgen“ (Ditton, 2007, S. 244; vgl. Becker & Hadjar, 2011).

Sind die resultierenden Leistungsunterschiede in der Vergangenheit hauptsächlich mit der ungleichen Verteilung von Intelligenz und sogenannten Begabungen und Talenten erklärt worden, die allerdings ihrerseits bereits soziale Konstruktionen und keine natürlichen Eigenschaften darstellen (vgl. Solga, 2005), so sind derartige Biologismen heutzutage gegenüber der Vorstellung von Fleiß und Anstrengung in den Hintergrund getreten[1] (vgl. Hillmert, 2007), was bedeutet, wer eine erfolgreiche schulische Ausbildung und vielleicht ein Studium absolviert hat, habe sich gemäß der meritokratischen Idee für diese Bildungszertifikate und die mit ihnen einhergehenden Einkommens- und Lebenschancen folglich durch Kompetenz und Anstrengung qualifiziert. Diese Erklärung ist allerdings in Frage zu stellen, da unterschiedliche Anstrengungen kaum Beachtung finden – ein Arbeiterkind beispielsweise hat auf dem Weg zum erfolgreichen Abschluss eines Studiums weitaus höhere Hürden zu überwinden als ein Akademikerkind, doch findet dies in den Bildungszertifikaten keinerlei Würdigung, sondern wird als Folge der formalen Gleichheit aller Bildungsteilnehmer vielmehr neutralisiert (vgl. Solga, 2005, S. 26). Vergessen wird zudem, dass Leistung, Fleiß und Anstrengung nicht als objektive Kategorien vorausgesetzt werden können (vgl. Becker & Hadjar, 2011, S. 54), da die Definition von Leistung stets nur aus einer sozialen Position heraus und mit bestimmten Vorstellungen dessen, was sich hinter dem Begriff verbirgt, definiert und durchgesetzt werden kann, und zwar von jenen Akteuren, die die gesellschaftliche (Deutungs-)Macht innehaben.

Generell wird soziale Ungleichheit im Sinne der meritokratischen Ordnung als vermeintlich notwendiges gesellschaftliches Anreizsystem betrachtet, in dem die Knappheit hoher, prestige- und einkommensträchtiger Positionen die gesellschaftlichen Akteure zum allgemeinen – vorranging über Bildung vollzogenen – Wettbewerb motivieren und so schließlich die Leistungsfähigsten offenbaren soll (vgl. Becker & Hadjar, 2011; Solga, 2005). Diese Annahme erscheint schon logisch-deduktiv fragwürdig, da ein solcher Anreiz vor allem Akteure motivieren dürfte, die Interesse an einem hohen Einkommen und Ansehen haben, ohne aber verlässliche Aussagen über (relative) Leistungsfähigkeit zuzulassen. Paradox ist weiterhin der Umstand, dass Meritokratie nach den eigenen Maßstäben prinzipiell nur in einer nicht-hierarchisierten Gesellschaft überhaupt störungsfrei funktionieren kann, wenn also keine Effekte sozialer Hierarchisierung wirken können, was das Prinzip als solches allerdings ad absurdum führt, da Meritokratie ihrerseits eine Hierarchisierung zur Folge hat und diese legitimiert.

Innerhalb der real existierenden Meritokratie hingegen können Leistungsmerkmale nicht unabhängig von leistungsfremden Einflüssen durch die soziale Herkunft betrachtet werden, womit „entgegen aller (meritokratischen) Rhetorik die Zertifizierung von Bildungsleistungen sowie institutionell unterschiedliche Bildungslaufbahnen, deren Zugang über die (gezeigte und bewertete) vorangegangene Leistung gesteuert wird, notwendigerweise (!) mit Herkunftsunterschieden in der Schule verbunden sind“ (Solga, 2005, S. 20; vgl. Arens, 2007). Das Ergebnis der meritokratischen Logik, die auf formale Gleichbehandlung aller Akteure ohne Berücksichtigung ihrer sozialen Herkunft setzt und die herkunftsspezifischen kulturellen Unterschiede damit vollständig ignoriert, steht infolgedessen im Widerspruch zu deren Verheißungen: „Gerade weil Leistung zählt und nicht die Herkunft, ergibt sich, dass schlussendlich (…) durch die Anwendung des Leistungsprinzips die Herkunft darüber entscheidet, wer an den gleichen Anforderungen scheitert und wer sich im schulischen Leistungsvergleich durchsetzt“ (Huisken, 2005, S. 37; vgl. Solga, 2005):

„[I]ndem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur“ (Bourdieu, 2001a, S. 39).

Strukturelle Ursachen der Bildungsungleichheit werden durch die individualisierte Erklärung über Leistung in den Hintergrund gedrängt, es findet eine vermeintliche „Ablösung kategorial definierter Ungleichheit nach Status/Klasse/Schicht (sowie auch Geschlecht) durch eine individuell definierte Ungleichheit nach Leistung“ (Solga, 2005, S. 28; vgl. Solga & Wagner, 2007; Bittlingmayer, 2006) statt, infolge derer sich die vom Bildungssystem Beurteilten ihren Erfolg oder Misserfolg selbst zuschreiben:

„Die hier gleichermaßen erfahrbaren Formen struktureller und symbolischer Gewalt werden für die Deklassierten und Dequalifizierten umso leidvoller und entwaffnender, als sie unter den Vorzeichen und Verheißungen einer an individueller Selbstverwirklichung  und -behauptung orientierten ‚Gesellschaft der Individuen‘ die Schuld für ihr Versagen zwangsläufig bei sich selbst suchen und dann wohl auch entdecken werden müssen“ (Schultheis, 2009, S. 264).

In Anbetracht der bisherigen Ausführungen und der in Bildungsstudien immer wieder festgestellten sozialen Bildungsungleichheiten kann Meritokratie nicht anders denn als Ideologie begriffen werden, die „die Akzeptanz der sozialen Ordnung und damit die Stabilität der Gesellschaft“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 50) fördern soll und als „normative Selbstdefinition moderner Gesellschaften für die Begründung und Legitimation sozialer Ungleichheiten“ (Solga, 2005, S. 23) fungiert, sodass die gesamtgesellschaftlichen sozialen Ungleichheiten wie auch Bildungsungleichheiten als legitime Ungleichheiten wahrgenommen werden. Sie ist somit unter Einnahme einer systemfunktionalen Perspektive allenfalls ein ‚necessary myth‘, „weil die Akzeptanz des meritokratischen Prinzips in der Gesellschaft zum einen die Heranziehung askriptiver Prinzipien bei der Vergabe von Positionen und Belohnungen verdrängt hat und zum anderen das Prinzip dennoch (sic!) motivierend wirkt, durch Leistung eine privilegierte Position in der Gesellschaft zu erreichen“ (Becker & Hadjar, 2011, S. 58) – ersteres ist allerdings eine relativistische Perspektive, die nicht einmal zutreffend ist, da das meritokratische Prinzip die Heranziehung askriptiver Merkmale bloß verschleiert (vgl. Bourdieu & Passeron, 1971, S. 225f), nicht ersetzt, wohingegen letzteres schon fast zynisch erscheint, denn „[w]ie weit eine soziale Gruppe im meritokratischen Wettbewerb gekommen ist, hängt dabei entscheidend von ihrem Startkapital an Bildung, Besitz und sozialen Beziehungen ab“ (Vester, 2004, S. 19).

Hierarchisierung von Bildung & Kultur

„Die Schule ist eine gesellschaftliche Institution zur Vermittlung der legitimen Kultur“ (Krais, 2004, S. 122).

Das mit der meritokratischen Ideologie verbundene Konzept der formalen Gleichheit, das im Kontext der Schule kulturelle und habituelle Unterschiede der Schüler ignoriert, obwohl sie entscheidend zu Erfolg oder Misserfolg beitragen, führt damit zu Formen kultureller Passung als Produkt einer „systemischen Standardisierung, die sozusagen zwangsläufig soziale Erfahrungsdifferenzen in den Bildungsumwelten außerhalb des institutionalisierten Bildungswesens unberücksichtigt lässt“ (Grundmann, Groh-Samberg, Bittlingmayer, & Bauer, 2003, S. 36). Diese Standardisierung, die blind gegenüber kulturellen Herkunftsunterschieden und milieuspezifischen Bildungsinhalten ist, führt de facto zu einer Hierarchisierung von Kultur und der sie inkorporierenden Habitus, da sie die Schüler unabhängig von deren Herkunft anhand ein und derselben normativen Schablone bewertet, weshalb schulbildungsnahe Milieus von dieser Standardisierung profitieren – sie „muss als Standardisierungsinstanz des Wissens mit offensivem Neutralitätsanspruch verstanden werden, die bestimmte Wissensformen vermittelt und die besondere kindliche und jugendliche Handlungsstrategien belohnt oder bestraft“ (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Edelstein, 2006, S. 16; vgl. Grundmann, Dravenau, & Bittlingmayer, 2006).

Einem Schüler bleibt nichts anderes übrig, als die herkunftsspezifische Kultur in die Schule hineinzutragen, dort anzubieten und von dieser in die kulturelle Hierarchie einordnen zu lassen, was allerdings nicht explizit geschieht, sondern unter dem Deckmantel der formalen Gleichbehandlung. Unterschiedliche Habitus und kulturelle Praxen unterscheiden sich letztlich nur darin, „dass sie von unterschiedlichen sozialen Gruppen unterschiedlich wertgeschätzt werden“ (Bittlingmayer, 2006, S. 47), die Schule diese unterschiedliche Wertschätzung allerdings absolut setzt und ihr zu Allgemeingültigkeit verhilft – die abstrakte Bildung beispielsweise, die in der Schule vorherrschend ist, erfährt Wertschätzung vor allem in den oberen Milieus, während sie in unteren Milieus den alltäglichen Anforderungen widerspricht, dennoch wird sie qua Schule zum allgemeinen Maßstab der Bewertung und zum Inbegriff von Bildung an sich. Es kommt zu einer Aufwertung bzw. Anerkennung der einen und gleichzeitigen Abwertung der anderen Alltagspraktiken der jeweiligen Herkunftsmilieus, d.h. „die Institutionalisierung von Bildung ist gleichbedeutend mit der selektiven Bewertung von Bildungsprozessen und der hierarchischen Differenzierung von Bildungsgängen und -zertifikaten“ (Dravenau & Groh-Samberg, 2005, S. 117; vgl. Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2004).

Jene kulturelle Ignoranz gegenüber milieuspezifischen Bildungsprozessen, Alltagspraxen und Habitus führt unweigerlich zu einer Defizitlogik, die von den schulischen Standards abweichende Praxen als unzulänglich betrachtet und somit mit dem Ziel der Selektion aus einer qualitativen Differenz eine Hierarchie ableitet, was der Durchsetzung einer spezifischen Deutung legitimer Kultur und legitimer Bildung mittels Ausübung symbolischer Gewalt gleichkommt: „Gemessen wird daher nicht das Können, sondern die Abweichung des Könnens von den politisch gesetzten Leistungsstandards“ (Grundmann, 2006, S. 71; vgl. Kalthoff, 2004; Lange-Vester, 2009). Diese legitime Kultur fehlt den unteren Milieus in der Regel, „denn diese Kultur und Bildung ist im allgemeinen gegen sie gerichtet“ (Bourdieu, 1992a, S. 39), weshalb die Schule keine neutrale Handlungsinstanz, sondern stets „eingebunden in die Herrschaftsbeziehungen und -auseinandersetzungen in einer Gesellschaft“ (Krais, 2004, S. 122) ist. Zwar verfügen auch diese Milieus über ihre eigenen Formen von Kultur und Bildung, nur ist diese auf dem Markt der schulischen Institutionen nichts wert:

„Diese Kinder lernen das Schweigen, das Nicht-Können in der Schule, weil ihre Habitusformen durch die Schule stigmatisiert werden. Dementsprechend lernen sie auch eine Form der Selbsteinschätzung, die zwar den Stolz auf praktische Überlebensfähigkeiten, aber gleichzeitig die Anerkennung der Legitimität der Überlegenheit der anderen und der eigenen Unterlegenheit enthält. Sie übernehmen das Stigma in ihr Selbstbild; der Reproduktionskreislauf ist wiederum geschlossen“ (Liebau, 2009, S. 51).

Scheinbar defizitäre Handlungsschemata und kulturelle Praktiken, wie etwa die Sprache, bewertet anhand institutioneller Erfordernisse und entsprechender Vorstellungen, sind also nicht unbedingt defizitär, sondern lediglich adäquat zu den Erfordernissen der erfahrenen Umwelt, die aber von der Schule entwertet werden, wodurch die produzierten Bildungsungleichheiten „bis in die Erfahrungswelt der Familie hineinwirken“ (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2007, S. 48). Erst diese schulische Standardisierung und Hierarchisierung von Kultur macht es möglich – und aus dieser Perspektive erforderlich –, von bildungsnahen und bildungsfernen Milieus zu sprechen (Bittlingmayer, 2006, S. 44), wobei stets Schulbildung gemeint ist und diese Nähe oder Ferne die Anschlussfähigkeit bzw. Passung oder eben Anpassung und damit letztlich die eigene Unterordnung unter die herrschenden Vorstellungen legitimer Kultur bedeutet.

Schule als Legitimationsinstanz sozialer Ungleichheit

„Die symbolische Macht ist eine Macht, die in dem Maße existiert, wie es ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Anerkennung zu verschaffen; d.h. eine (ökonomische, politische, kulturelle oder andere) Macht, die die Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür verkennen zu lassen“ (Bourdieu, 1992b, S. 82).

Das Schulsystem kann angesichts der meritokratischen Ideologie, die zu einer Hierarchisierung von Kultur und milieuspezifischen habituellen Praktiken führt, und „gerade durch die Entwicklung der Schulbildung zu einem alternativlosen Pfad des gesellschaftlichen Aufstiegs“ (Bittlingmayer & Grundmann, 2006, S. 77) keineswegs als neutrale Institution betrachtet werden, die soziale Ungleichheiten lediglich reproduziert oder um deren Auflösung bemüht ist, sondern ist zudem Ort der Produktion sozialer Ungleichheiten, die sie zugleich legitimiert, womit kulturelle und institutionelle Diskriminierung und Privilegierung eng miteinander verknüpft sind (vgl. Dravenau & Groh-Samberg, 2005, S. 114; Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2004). Da Privilegien und die soziale Stellung nicht mehr über Verwandtschaft und Herkunft legitimierbar sind, erfolgt die Reproduktion der sozialen Ordnung nun über das Bildungssystem (vgl. Bourdieu & Passeron, 1971; Solga, 2005), denn die „Unterschiede, die innerhalb der Gesellschaft gesetzt werden und sich durchsetzen können, sind durch schulische Differenzen legitimiert und werden durch die Verteilung sozialer Zugangsmöglichkeiten, die die Schule über ihre Zertifikate und Zeugnisse vergibt, verobjektiviert und sanktioniert“ (Hepp, 2009, S. 24).

Die Schule legitimiert in letzter Instanz vermittels des kulturellen Passungsverhältnisses die Übertragung des kulturellen Erbes, das somit – im Gegensatz zum ökonomischen Erbe – als Erbe verkannt wird. Durch das Prinzip der formalen Gleichheit, das von allen fordert, was nur einigen dank Herkunft zugänglich ist (vgl. Bourdieu, 2001a), und den von staatlicher Seite recht hohen Einsatz von Zeit und Geld innerhalb des Schulsystems, das von sich behauptet, allen gleiche Chancen zu bieten, wird hinter dem Anschein von Fairness und gutem Willen die objektive Funktion des Bildungssystems verborgen[2], „denn, wollte man billiger und schneller vollziehen, was das System ohnehin leistet, würde man eine Funktion offenlegen und damit hinfällig machen, die nur im verborgenen wirken kann“ (Bourdieu & Passeron, 1971, S. 226).

Zugleich vollzieht sich innerhalb des Schulsystems eine „Transformation der Einstellung zum System und seinen Sanktionen (…), die unerläßlich ist, damit das System funktionieren und alle seine Funktionen erfüllen kann“ (ebd.). Diese Transformation wird aufgrund der scheinbar konsequenten Weise, wie Leistung und Bildungszertifikate die Statuszuweisung bestimmen bzw. dieser Anschein verbreitet wird, selbstredend von den vom Schulsystem Privilegierten, aber auch vom Großteil der von ihm Diskriminierten vollzogen (vgl. Solga, 2005), denn „in dem Maß, wie es eliminiert, gelingt es ihm, die Verlierer davon zu überzeugen, dass sie selbst für ihre Eliminierung verantwortlich sind“ (Bourdieu, 2001b, S. 21; vgl. Bourdieu & Passeron, 1971, S. 225), womit die Autorität der Schule als Gatekeeperin, die die weiteren Lebenschancen maßgeblich mitbestimmt, und als vermeintlich objektive Bewertungsinstanz in der Regel unhinterfragt bleibt, da den Akteuren „die Einsicht in die soziale Konstitution dieser Prozesse (…) systematisch versperrt“ (Liebau, 2009, S. 52) wird.

Während die Verlierer des Systems meist nach einiger Zeit die individualisierte Erklärung für ihren Misserfolg, die ihnen immer wieder vorgehalten wird, akzeptieren und sich diesen Misserfolg selbst zuschreiben, wird die Verklärung der Bildungswege als selbstbestimmte, nur von der eigenen Leistung abhängige Ergebnisse selbstverständlich auch von den Gewinnern des Systems mitgetragen, jedoch nicht primär, um etwa bewusste Distinktion zu betreiben oder gezielt die Verschleierung der Mechanismen zu unterstützen, sondern vor allem, um die Illusion von Selbstbestimmung aufrechtzuerhalten, die für die Habitus schulbildungsnaher Milieus charakteristisch ist – so „versuchen sie sich von der unerträglichen Idee zu distanzieren, daß eine so wenig selbstgewählte Determinante [die soziale Herkunft; MM] den, der alles daran setzt, sich selbst frei zu bestimmen, prägen könnte“ (Bourdieu & Passeron, 1971, S. 54).

Gerade in schulbildungsfernen Milieus steht die in der Schule durchgesetzte legitime Kultur der eigenen, milieuspezifischen Kultur gegenüber und übt symbolische Gewalt aus, weshalb schulische Bildung als Durchsetzung kultureller Hegemonie begriffen werden kann; der Glaube an einen über Leistung vermittelten, herkunftsunabhängigen Zugang zu Bildung erhält folglich die soziale Ungleichheit des Bildungswesens am Leben und bewirkt, dass die betroffenen Akteure die auf sie einwirkende symbolische Gewalt und symbolische Macht als legitim anerkennen und damit „die Sichtweisen, die die Herrschenden [und das Schulsystem als verlängerter Arm der herrschenden Verhältnisse; MM] auf sie haben, als legitime anerkennen und selbst übernehmen“ (Grundmann, Bittlingmayer, Dravenau, & Groh-Samberg, 2007, S. 57). Es werden also durch institutionelle Sanktionen dauerhafte Unterschiede produziert und legitimiert, die von den Betroffenen wiederum habituell verinnerlicht werden, was vor allem für von Versagenserlebnissen geprägte Schüler mit emotionalen Stresssymptomen, Prüfungsangst, Vermeidungsverhalten und ähnlichem verbunden sein kann, d.h. diese „Schüler werden im Hinblick auf ihre je eigene Leistungsfähigkeit und in der Wertschätzung ihrer Person systematisch abgewertet, degradiert und damit zu quasi-pathologischen Fällen“ (Grundmann, 2006, S. 71).

Zusammenfassend kann das Schulsystem nicht einfach als nach dem Leistungsprinzip operierender Faktor sozialer Mobilität begriffen werden, da eine solche Auffassung die ihm spezifischen Prozesse und Mechanismen der Reproduktion sowie der Produktion sozialer Ungleichheiten bestenfalls verkennt und schlimmstenfalls zusätzlich legitimiert, „[d]eutet doch im Gegenteil alles darauf hin, dass es einer der wirksamsten Faktoren der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung ist, indem es der sozialen Ungleichheit den Anschein von Legitimität verleiht und dem kulturellen Erbe, dem als natürliche Gabe behandelten Vermögen, seine Sanktion erteilt“ (Bourdieu, 2001a, S. 25).


[1] Diese Umdeutung soll vielleicht den immanenten Widerspruch auflösen, der der biologistischen Erklärung von Leistungsunterschieden zugrunde liegt, denn letztlich ist Bildung kein erworbenes Merkmal und folglich auch keine Leistung, wenn Bildungserfolg nur von ‚natürlicher‘ Ausstattung abhängt (vgl. Solga, 2005).

[2] Lehrern und anderen Verantwortlichen soll damit nicht per se jeder gute Wille abgesprochen werden, der subjektiv durchaus vorliegen mag (und teilweise selbst zur Produktion sozialer Ungleichheit beiträgt), doch die objektive Funktion des Schulsystems in der Regel nicht beeinträchtigt.


Literatur:

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