Als ich die Wor­te zum ers­ten Mal aus sei­nem Mund ver­nahm, fand ich sie furcht­bar flach: »Wir alle brau­chen manch­mal einen Lotsen«.

Die­ser nichts­sa­gen­de Satz, die­se inhalts­lee­re Belang­lo­sig­keit war einer sei­ner Lieb­lings­sprü­che, sein Man­tra, sei­ne Lösung für alles und sei­ne Lösung für jeden. Nun, für fast jeden, muss ich ergän­zen. Er selbst, der gro­ße Kapi­tän, schien kei­nen Lot­sen nötig zu haben, auf kei­ner Rei­se sei­nes Lebens, nein, im Gegen­teil, stets bot er sich ande­ren als Bei­stand an, weil er wohl glaub­te, er sei der ein­zi­ge, der ver­stan­den habe, wo im Leben die Untie­fen lie­gen und wel­che unsi­che­ren Gewäs­ser es zu mei­den gilt.

Es war ein Satz wie einer die­ser uner­träg­lich opti­mis­ti­schen Kalen­der­sprü­che, die Unzu­frie­de­nen das Leben etwas freund­li­cher gestal­ten sol­len und in ihrer Bot­schaft so belang­los, so stu­pi­de sind, dass nie­mand je etwas Ver­nünf­ti­ges dage­gen ein­zu­wen­den ver­mag. Was hät­te jemand auch gegen die­sen Satz ein­wen­den sol­len? Er war ja rich­tig. Das war es, was mich dar­an zur Weiß­glut brach­te. Aus­ge­rech­net er muss­te es sein, der mir die­sen bedeu­tungs­lo­sen Satz mit einer Ernst­haf­tig­keit vor­pre­dig­te, so als wüss­te er genau, wor­um es im Leben gehe und wie man es sich ein­zu­rich­ten habe. Er wähn­te sich nicht nur als stol­zer Kapi­tän sei­nes eige­nen, wind­schnit­ti­gen Lebens und Lot­se der Leben aller ande­ren, son­dern gleich als Kar­to­graf für Leben über­haupt. In mei­nen Augen war er ein arro­gan­ter, chau­vi­nis­ti­scher Idiot.

Mit der Zeit fing ich an, die­sen Satz zu has­sen, und dadurch letzt­lich auch des­sen Urhe­ber. Er mach­te mich rasend, zumin­dest inner­lich, und ich muss­te mich schier beherr­schen, ihm nicht offen ins Gesicht zu fau­chen. Mit einer gelas­se­nen Regel­mä­ßig­keit wag­te er es hin und wie­der, die­se Plat­ti­tü­de in Dis­kus­sio­nen ein­zu­streu­en, die er mit mir führ­te, oder den Satz zu vari­ie­ren, ihm ein Tro­ja­ni­sches Pferd als Vehi­kel zu kon­stru­ie­ren und ihn einer Meta­pher unter­zu­schie­ben, damit die Wor­te nachts her­vor­kom­men und in mei­nem Kopf ihre Wir­kung ent­fal­ten konn­ten. Wenn er sich mit ande­ren unter­hielt oder wenn wir in einer Grup­pe unter­wegs waren und er jeman­dem die­sen Tipp, die­se Nich­tig­keit zuteil­wer­den ließ, blick­te er mit einem süf­fi­san­ten Lächeln in mei­ne Rich­tung, so als woll­te er ganz sicher­stel­len, dass ich den Satz auch zwei­fel­los ver­nom­men hätte.

War­um war es ihm so wich­tig, mir die­sen Satz immer und immer wie­der unter die Nase zu rei­ben? Es kotz­te mich ehr­lich gesagt an. Ich war doch Kapi­tän mei­nes eige­nen Lebens und ich brauch­te kei­nen Lot­sen. Schon gar nicht ihn!

Was also woll­te er mir mit die­sem dümm­li­chen Satz sagen, was pass­te ihm nicht an mir? Ich ver­stand es nicht und ich wuss­te nicht, ob ich es über­haupt ver­ste­hen wollte.

In den fol­gen­den Mona­ten hat­ten wir sel­ten mit­ein­an­der zu tun, wir tra­fen uns nur dann und wann rein zufäl­lig, so auch an Sil­ves­ter. Wir plau­der­ten ganz ober­fläch­lich über die­ses und jenes, denn auch ihm muss­te auf­ge­fal­len sein, dass unser Kon­takt sich ver­rin­gert hat­te. Bei einem Bier erzähl­te ich ihm kurz von jenen Din­gen, die mich zu die­ser Zeit beweg­ten, belas­te­ten, ganz nor­ma­ler All­tags­kram, und er sprach bloß leicht ange­trun­ken von einem Schiff, das auf Grund lau­fen wür­de, wenn ihm ein Lot­se fehl­te, denn schließ­lich bräuch­te selbst der bes­te Kapi­tän manch­mal einen Lot­sen und so wei­ter. Er spul­te sein Pro­gramm ab.

Mir war klar, dass er mich mein­te. Ich wür­de mit mei­nen Pro­ble­men auf Grund lau­fen, wenn nicht er, der gro­ße, all­wis­sen­de Lot­se mich ret­ten wür­de. Arsch­loch! Er kam sich in die­sem Moment sicher unglaub­lich lus­tig und über­le­gen vor, und es war wie­der ein­mal typisch für ihn, der glaub­te, ich hät­te nur auf sei­ne, gera­de sei­ne ret­ten­de Hil­fe gewar­tet. Sah ich so aus, als hät­te ich das nötig? Nein! Er konn­te mich mal.

Als er mir von sei­ner neu­en Woh­nung vor­zu­schwär­men begann, hör­te ich ihm schon nicht mehr rich­tig zu. Völ­lig unver­bind­lich ließ ich mir das Ver­spre­chen abrin­gen, ihn irgend­wann ein­mal besu­chen zu kom­men, und ver­schwand sofort dar­auf im anony­men Tru­bel der Sil­ves­ter­fei­ern­den. Ich sah noch, wie er mir nach­wink­te. Er schien mit die­ser Ant­wort glück­lich zu sein, aber ich hat­te nicht vor, ihn tat­säch­lich zu besuchen.

Ein Jahr ver­ging, in dem ich ihn kaum sah. Jedes Mal, wenn es doch geschah, leb­te in mir die Erin­ne­rung an jenen Satz auf. Ich ver­mied es schließ­lich voll­ends, ihm zu begeg­nen, und ging ihm aus dem Weg. Es war kei­ne bewuss­te Ent­schei­dung, die mich dazu gebracht hat­te, son­dern die­ses auf eine vage Art ver­un­si­chern­de Gefühl, das mich über­kam, wenn ich durch ihn an sei­nen Satz erin­nert wur­de. Ich ertapp­te mich dabei und fand es albern, konn­te mich aller­dings nie über­win­den, ihn ein­fach anzu­ru­fen oder ein Tref­fen mit ihm zu ver­ein­ba­ren. Mir fiel wie­der ein, dass er in der Stadt eine neue Woh­nung gefun­den hat­te und ich nun weder sei­ne neue Anschrift noch sei­ne Tele­fon­num­mer besaß. Das beru­hig­te mich, denn selbst wenn ich ihn hät­te errei­chen wol­len, so hät­te ich es nicht gekonnt. Es lag nicht in mei­ner Macht.

Er wie­der­um mach­te eben­so weni­ge Anstal­ten, sich bei mir zu mel­den, und so ver­gaß ich ihn fast, bis ich eines Tages im Super­markt auf jeman­den traf, den er mir einst als einen Freund vor­ge­stellt hat­te. Unschlüs­sig, ob ich die­sen Freund ein­fach anspre­chen soll­te, blieb ich zwi­schen den Rega­len ste­hen und dach­te nach, bis mir die Ent­schei­dung abge­nom­men wur­de und er sei­ner­seits auf mich zukam. Von der Situa­ti­on über­rum­pelt, ent­fuhr mir ein »Hal­lo!«, er aber griff bloß nach einer Packung Corn­flakes. Ich stand genau davor. Das war alles. Wort­los mus­ter­te er mich, bis ich ihn schließ­lich unbe­hol­fen frag­te, ob er sich an mich erin­ne­re, wir hät­ten einen gemein­sa­men Freund, und wo die­ser gemein­sa­me Freund denn hin­ge­zo­gen sei. Sein Gesicht ver­riet mir, dass er mich erkann­te. Zunächst erstaunt, dann bedrückt sah er mich an, bejah­te, sah sich um, als sei­en sei­ne Wor­te für die­sen Ort unge­eig­net, und sprach in gedämpf­tem Ton:

„Du weißt es noch gar nicht, hm? Man fand ihn vor, ja, knapp andert­halb Mona­ten in sei­ner Woh­nung. Tablet­ten oder so. Er hat­te sogar einen Abschieds­brief geschrie­ben, na ja, mehr eine Abschieds­no­tiz: »Ohne dich lau­fe ich auf Grund«. Selt­sam, was? Nie­mand weiß, wen oder was er damit gemeint hat.“

Und da ver­stand ich sei­nen Satz.

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