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Als ich die Wor­te zum ers­ten Mal aus sei­nem Mund ver­nahm, fand ich sie furcht­bar flach: »Wir alle brau­chen manch­mal einen Lotsen«.

Die­ser nichts­sa­gen­de Satz, die­se inhalts­lee­re Belang­lo­sig­keit war einer sei­ner Lieb­lings­sprü­che, sein Man­tra, sei­ne Lösung für alles und sei­ne Lösung für jeden. Nun, für fast jeden, muss ich ergän­zen. Er selbst, der gro­ße Kapi­tän, schien kei­nen Lot­sen nötig zu haben, auf kei­ner Rei­se sei­nes Lebens, nein, im Gegen­teil, stets bot er sich ande­ren als Bei­stand an, weil er wohl glaub­te, er sei der ein­zi­ge, der ver­stan­den habe, wo im Leben die Untie­fen lie­gen und wel­che unsi­che­ren Gewäs­ser es zu mei­den gilt.

Es war ein Satz wie einer die­ser uner­träg­lich opti­mis­ti­schen Kalen­der­sprü­che, die Unzu­frie­de­nen das Leben etwas freund­li­cher gestal­ten sol­len und in ihrer Bot­schaft so belang­los, so stu­pi­de sind, dass nie­mand je etwas Ver­nünf­ti­ges dage­gen ein­zu­wen­den ver­mag. Was hät­te jemand auch gegen die­sen Satz ein­wen­den sol­len? Er war ja rich­tig. Das war es, was mich dar­an zur Weiß­glut brach­te. Aus­ge­rech­net er muss­te es sein, der mir die­sen bedeu­tungs­lo­sen Satz mit einer Ernst­haf­tig­keit vor­pre­dig­te, so als wüss­te er genau, wor­um es im Leben gehe und wie man es sich ein­zu­rich­ten habe. Er wähn­te sich nicht nur als stol­zer Kapi­tän sei­nes eige­nen, wind­schnit­ti­gen Lebens und Lot­se der Leben aller ande­ren, son­dern gleich als Kar­to­graf für Leben über­haupt. In mei­nen Augen war er ein arro­gan­ter, chau­vi­nis­ti­scher Idiot.

Mit der Zeit fing ich an, die­sen Satz zu has­sen, und dadurch letzt­lich auch des­sen Urhe­ber. Er mach­te mich rasend, zumin­dest inner­lich, und ich muss­te mich schier beherr­schen, ihm nicht offen ins Gesicht zu fau­chen. Mit einer gelas­se­nen Regel­mä­ßig­keit wag­te er es hin und wie­der, die­se Plat­ti­tü­de in Dis­kus­sio­nen ein­zu­streu­en, die er mit mir führ­te, oder den Satz zu vari­ie­ren, ihm ein Tro­ja­ni­sches Pferd als Vehi­kel zu kon­stru­ie­ren und ihn einer Meta­pher unter­zu­schie­ben, damit die Wor­te nachts her­vor­kom­men und in mei­nem Kopf ihre Wir­kung ent­fal­ten konn­ten. Wenn er sich mit ande­ren unter­hielt oder wenn wir in einer Grup­pe unter­wegs waren und er jeman­dem die­sen Tipp, die­se Nich­tig­keit zuteil­wer­den ließ, blick­te er mit einem süf­fi­san­ten Lächeln in mei­ne Rich­tung, so als woll­te er ganz sicher­stel­len, dass ich den Satz auch zwei­fel­los ver­nom­men hätte.

War­um war es ihm so wich­tig, mir die­sen Satz immer und immer wie­der unter die Nase zu rei­ben? Es kotz­te mich ehr­lich gesagt an. Ich war doch Kapi­tän mei­nes eige­nen Lebens und ich brauch­te kei­nen Lot­sen. Schon gar nicht ihn!

Was also woll­te er mir mit die­sem dümm­li­chen Satz sagen, was pass­te ihm nicht an mir? Ich ver­stand es nicht und ich wuss­te nicht, ob ich es über­haupt ver­ste­hen wollte.

In den fol­gen­den Mona­ten hat­ten wir sel­ten mit­ein­an­der zu tun, wir tra­fen uns nur dann und wann rein zufäl­lig, so auch an Sil­ves­ter. Wir plau­der­ten ganz ober­fläch­lich über die­ses und jenes, denn auch ihm muss­te auf­ge­fal­len sein, dass unser Kon­takt sich ver­rin­gert hat­te. Bei einem Bier erzähl­te ich ihm kurz von jenen Din­gen, die mich zu die­ser Zeit beweg­ten, belas­te­ten, ganz nor­ma­ler All­tags­kram, und er sprach bloß leicht ange­trun­ken von einem Schiff, das auf Grund lau­fen wür­de, wenn ihm ein Lot­se fehl­te, denn schließ­lich bräuch­te selbst der bes­te Kapi­tän manch­mal einen Lot­sen und so wei­ter. Er spul­te sein Pro­gramm ab.

Mir war klar, dass er mich mein­te. Ich wür­de mit mei­nen Pro­ble­men auf Grund lau­fen, wenn nicht er, der gro­ße, all­wis­sen­de Lot­se mich ret­ten wür­de. Arsch­loch! Er kam sich in die­sem Moment sicher unglaub­lich lus­tig und über­le­gen vor, und es war wie­der ein­mal typisch für ihn, der glaub­te, ich hät­te nur auf sei­ne, gera­de sei­ne ret­ten­de Hil­fe gewar­tet. Sah ich so aus, als hät­te ich das nötig? Nein! Er konn­te mich mal.

Als er mir von sei­ner neu­en Woh­nung vor­zu­schwär­men begann, hör­te ich ihm schon nicht mehr rich­tig zu. Völ­lig unver­bind­lich ließ ich mir das Ver­spre­chen abrin­gen, ihn irgend­wann ein­mal besu­chen zu kom­men, und ver­schwand sofort dar­auf im anony­men Tru­bel der Sil­ves­ter­fei­ern­den. Ich sah noch, wie er mir nach­wink­te. Er schien mit die­ser Ant­wort glück­lich zu sein, aber ich hat­te nicht vor, ihn tat­säch­lich zu besuchen.

Ein Jahr ver­ging, in dem ich ihn kaum sah. Jedes Mal, wenn es doch geschah, leb­te in mir die Erin­ne­rung an jenen Satz auf. Ich ver­mied es schließ­lich voll­ends, ihm zu begeg­nen, und ging ihm aus dem Weg. Es war kei­ne bewuss­te Ent­schei­dung, die mich dazu gebracht hat­te, son­dern die­ses auf eine vage Art ver­un­si­chern­de Gefühl, das mich über­kam, wenn ich durch ihn an sei­nen Satz erin­nert wur­de. Ich ertapp­te mich dabei und fand es albern, konn­te mich aller­dings nie über­win­den, ihn ein­fach anzu­ru­fen oder ein Tref­fen mit ihm zu ver­ein­ba­ren. Mir fiel wie­der ein, dass er in der Stadt eine neue Woh­nung gefun­den hat­te und ich nun weder sei­ne neue Anschrift noch sei­ne Tele­fon­num­mer besaß. Das beru­hig­te mich, denn selbst wenn ich ihn hät­te errei­chen wol­len, so hät­te ich es nicht gekonnt. Es lag nicht in mei­ner Macht.

Er wie­der­um mach­te eben­so weni­ge Anstal­ten, sich bei mir zu mel­den, und so ver­gaß ich ihn fast, bis ich eines Tages im Super­markt auf jeman­den traf, den er mir einst als einen Freund vor­ge­stellt hat­te. Unschlüs­sig, ob ich die­sen Freund ein­fach anspre­chen soll­te, blieb ich zwi­schen den Rega­len ste­hen und dach­te nach, bis mir die Ent­schei­dung abge­nom­men wur­de und er sei­ner­seits auf mich zukam. Von der Situa­ti­on über­rum­pelt, ent­fuhr mir ein »Hal­lo!«, er aber griff bloß nach einer Packung Corn­flakes. Ich stand genau davor. Das war alles. Wort­los mus­ter­te er mich, bis ich ihn schließ­lich unbe­hol­fen frag­te, ob er sich an mich erin­ne­re, wir hät­ten einen gemein­sa­men Freund, und wo die­ser gemein­sa­me Freund denn hin­ge­zo­gen sei. Sein Gesicht ver­riet mir, dass er mich erkann­te. Zunächst erstaunt, dann bedrückt sah er mich an, bejah­te, sah sich um, als sei­en sei­ne Wor­te für die­sen Ort unge­eig­net, und sprach in gedämpf­tem Ton:

„Du weißt es noch gar nicht, hm? Man fand ihn vor, ja, knapp andert­halb Mona­ten in sei­ner Woh­nung. Tablet­ten oder so. Er hat­te sogar einen Abschieds­brief geschrie­ben, na ja, mehr eine Abschieds­no­tiz: »Ohne dich lau­fe ich auf Grund«. Selt­sam, was? Nie­mand weiß, wen oder was er damit gemeint hat.“

Und da ver­stand ich sei­nen Satz.

Es stimmt, daß ich unge­schickt bin; ich kann kei­ne Gefüh­le aus­drü­cken; kaum habe ich ein paar Wor­te dazu gesagt, mache ich mich über mich sel­ber lus­tig, mache ich mich über den ande­ren lus­tig, zer­stö­re ich die gan­ze Wir­kung durch einen iro­ni­schen Satz. Es ist ein Miß­trau­en gegen mich selbst; ich stau­ne, mich mei­ne Emp­fin­dun­gen preis­ge­ben zu hören, wie alle ande­ren es tun. Ich höre mir zu, als wäre es jemand ande­res, der da spricht, und glau­be, nicht mehr auf­rich­tig zu sein; durch die Wor­te erschei­nen mir mei­ne Gefüh­le auf­ge­bla­sen und fremd. Ich mei­ne dann, man wird mich belä­cheln wie ein klei­nes Mäd­chen, das von Din­gen spricht, die es nicht kennt. Es ist nicht mög­lich, daß ich es bin, die sagt: Ich lie­be Sie. Wenn man mir nun glaub­te, und ich hät­te mich getäuscht! Also muß ich mei­ne Sät­ze immer mit einer Pirou­et­te been­den, die zu sagen scheint: «Sie lie­ben mich, da Sie es mir ja sagen; wenn ich jedoch lie­be, wie ich es tue, fürch­te ich, das ist so nicht rich­tig – gewiß kön­nen alle ande­ren bes­ser lie­ben und es bes­ser sagen als ich.» Ich habe Angst, eines Tages zu ent­de­cken, daß ich nicht lie­be, und las­se schon im vor­aus Zwei­fel an mei­nen Gefüh­len ent­ste­hen, da ich befürch­te, man könn­te mir am Ende Unauf­rich­tig­keit vor­wer­fen; also male ich mir tau­sen­der­lei Umstän­de aus, in denen mei­ne Lie­be ver­mut­lich nicht aus­rei­chen wür­de. Ich behaup­te, ich wür­de nicht treu sein, dabei ver­weh­re ich es jedem ande­ren, mich ins Thea­ter zu beglei­ten oder mir die Fin­ger­spit­zen zu küs­sen, um dem­je­ni­gen, dem ich gesagt habe, ich lieb­te ihn nicht, nicht zu miß­fal­len, und sei es nur in Gedan­ken. Indem ich also leug­ne, daß mein Herz liebt, bin­de ich mich stär­ker als der­je­ni­ge, der mir sagt: Ich lie­be dich.
Ich wünsch­te, man wür­de mich durch­schau­en; doch man sieht nur die Pirou­et­ten und die Ironie.
Mar­cel­le Sau­va­geot – Fast ganz die Deine

Ich habe letz­te Nacht von dir geträumt, von uns, von den Wegen, die wir gemein­sam hät­ten gehen, den Geheim­nis­se, die wir alle hät­ten tei­len kön­nen, von dem, was wir einst waren, und von dem, was wir noch alles hät­ten sein kön­nen. Die Träu­me sind der letz­te Ort, an dem ich dir noch nah sein kann. Es ist vor­bei, habe ich gedacht, und ich käme damit klar. Nun aber ver­brin­ge ich mei­ne Tage im Bett, manch­mal acht­zehn Stun­den und mehr, weil doch mit dir der letz­te Grund zum Auf­ste­hen schwand. Schla­fen jedoch kann ich kaum, und ob ich wach bin oder nicht, mei­ne Gedan­ken dre­hen sich um dich, um das, was von dir noch immer in mir übrig ist. Du bist in mir ein­ge­zo­gen, damals, als wir uns ken­nen­lern­ten, und als du gegan­gen bist, hast du dei­ne Sachen ein­fach in mir zurück­ge­las­sen. Sie ste­hen in mei­nen Räu­men her­um und erin­nern mich an dich, sie bele­gen so viel Platz in mei­nen Kam­mern, dass mir zum Leben kei­ner bleibt. Mein Appe­tit hat mir den Rücken zuge­kehrt, genau wie du, doch ohne Nah­rung kann ich über­le­ben, bloß ohne dich fällt mir das reich­lich schwer.

Mit Trä­nen gehe ich in jede Nacht und mei­ne Augen sind am nächs­ten Tag so schwer wie rot. Mor­gens treibt mich nur die Hoff­nung an, du könn­test dich heu­te bei mir mel­den. Abends ban­ge ich dann vor dem Schla­fen­ge­hen, viel­leicht ja mel­dest du dich mor­gen. Was zwi­schen die­sen Punk­ten liegt, ist jene Zeit, in wel­cher ich ein Leben simu­lie­re, frech und selbst­be­wusst, das sorg­lo­se Mäd­chen; die­se Zeit, in der ich hoff­nungs­los ver­su­chen muss, mit Kopf und Herz nicht jeden Augen­blick bei dir zu sein. Ohne ein Zei­chen von dir sind mei­ne Tage leer.

Wann immer ich in letz­ter Zeit durch die­se Stadt schlen­der­te, in der dein Leben das mei­ne zum ers­ten Mal betrat, fühl­te ich die Aura dei­ner Anwe­sen­heit. Hier lebst du, arbei­test du, ver­bringst du dei­ne Tage. Hier lach­ten wir, spra­chen wir, teil­ten wir ein Dasein mit­ein­an­der. Es ist dei­ne Stadt, das war sie schon, als wir uns ken­nen­lern­ten, und sie liegt vor mir wie ein Mahn­mal, wie ein Tor zu einer bes­se­ren Zeit. Hin­ter jeder Ecke könn­test du her­vor­kom­men, auf jeder Stra­ße könn­test du spa­zie­ren, und tat­säch­lich war­test du auf mich an jedem Ort. Nicht du, nicht als Per­son, aber als Erin­ne­rung, als Gespenst mei­ner Ver­gan­gen­heit, unse­rer Ver­gan­gen­heit, das mich auf Schritt und Tritt ver­folgt. Du hast die Stadt für mich unbe­nutz­bar gemacht, denn über allem liegt der Schlei­er dei­nes Wesens. Kei­nen Meter kann ich gehen, ohne dass du mir erscheinst. So wie du mich im Schlaf in jeder Nacht ver­folgst, ver­folgst du mich bei jedem Schritt.

Du weißt, es beschränkt sich nicht auf eine lee­re Meta­pher, wenn ich dir sage, dass du für mich die Welt gewe­sen bist. Alles hier erin­nert mich an dich. Die Stadt, sie schmeckt nach dir, sie riecht nach dir, der Wind ver­brei­tet dei­nen Duft, die Häu­ser erzäh­len Geschich­ten über dich, die Brun­nen spei­en dein Was­ser. Stra­ßen, Gebäu­de und Men­schen erschöp­fen sich in ihrer Rela­ti­on zu dir, ich neh­me sie wahr als Kulis­sen und Kom­par­sen unse­res ver­gan­ge­nen, gemein­sa­men Lebens. Ich beweg­te mich wie auf Schie­nen mit dir, war durch dich Zug gewor­den, der sei­ne Glei­se immer mit sich führt, was links und rechts von uns geschah, war mir egal, denn Augen hat­te ich doch bloß für dich. Mit dir war alles schön, schon weil du da warst. Heu­te aber sind die Wei­chen umge­stellt, die alten Tras­sen am Verrotten.

Mit beben­dem Her­zen kreu­ze ich in die­sen Tagen dann und wann den wei­ten Platz, auf dem der klei­ne Brun­nen steht, an dem wir uns so vie­le Näch­te um die Ohren schlu­gen, bis das Mor­gen­licht uns unter­brach. Fast jeden Tag betre­te ich den men­schen­lee­ren Bahn­steig, an des­sen Ende du so oft auf mich gewar­tet hast. Wenn ich irgend­wo bloß einen Zug vor­über­rau­schen sehe, fah­re ich im Traum zu dir. Mit mat­tem Blick ver­fol­ge ich die Stra­ßen­bahn, die auch zu dei­ner Stra­ße führt. An jeder Hal­te­stel­le suche ich nach dir. Manch­mal schlen­de­re ich durch den Park, in dem wir auf der Wie­se saßen, um uns die Ster­ne anzu­se­hen, doch wenn ich heu­te in den Him­mel bli­cke, zeigt jedes Ster­nen­bild bloß dein Gesicht. Wie Split­ter der Ver­gan­gen­heit sind all die Knei­pen, Clubs und Restau­rants, in denen wir zusam­men saßen, tanz­ten und lach­ten, lose über die­se Stadt ver­streut. Wenn ich dort heu­te etwas trin­ken gehe, trin­ke ich dabei auf dich, und wenn ich hier und da ein wenig Nah­rung zu mir neh­me, hun­ge­re ich dabei nach dir.

Wie gern wir bei­de im Thea­ter waren, wie oft wir Lesun­gen besuch­ten, das hat sich ein­ge­brannt in mei­nen Kopf und geht dort nie­mals wie­der raus. Bei jeder Vor­stel­lung, bei jedem Wort, bei jedem Kunst­werk und bei jedem Expo­nat bist du im Geist noch immer neben mir und dar­um mei­de ich das alles nun fast ganz, aus Furcht, du könn­test in der Men­ge sein. Manch­mal lese ich in dei­nen Brie­fen, die du mir geschrie­ben hast, und wenn ich heu­te Post emp­fan­ge, hof­fe ich, sie ist von dir. All die Bands, die du so moch­test, sind mir kei­ne Freu­de mehr, und in den Büchern, über die ich mit dir sprach, wohnst du auf ewig zwi­schen allen Zei­len. Alles Schö­ne, das ich neu für mich ent­de­cke, jedes Buch, in dem ich mich ver­lie­ren kann, jeden Film, der mich begeis­tert, alles will ich wei­ter­hin so ger­ne mit dir tei­len – und dann den­ke ich mit tie­fem Seuf­zen: ja, das wür­de dir gefallen.

Selbst mei­ne Woh­nung ist nicht län­ger mein Zuhau­se, die Din­ge spre­chen alle nur von dir. Ich bin hier nie­mals mehr allein. Jedes Klin­geln führt mich hoff­nungs­froh an mei­ne Tür, doch hat sie mich noch alle­mal ent­täuscht. Ich war­te auf E‑Mails, die nicht kom­men, star­re auf Tele­fo­ne, die nicht klin­geln. In mei­ner Küche stand ich nicht, seit wir gemein­sam dort zugan­ge waren, und lie­ge ich in mei­nem Bett, erdrückt mich dei­ne Abwe­sen­heit. Es fühlt sich leer an, denn du fehlst, nicht nur in mei­nem Bett, vor allem in mei­nem Leben.

Ich wer­de die­se Stadt nicht län­ger ertra­gen kön­nen. An jeder Ecke tref­fe ich auf dich, ohne dich je berüh­ren zu kön­nen; aller­orts erscheinst du mir, an jeder Wand, in jeder Spie­ge­lung auf einer Schei­be, auf dem Asphalt und in der Luft, ohne wirk­lich bei mir zu sein. Über­all ver­ste­cken sich Gespens­ter. Bei jedem Men­schen, der dir ähnelt, beginnt es schnell in mir zu pochen, bis die Hoff­nung still ver­welkt. Wie Fata Mor­ga­nas schrei­ten dei­ne Erschei­nun­gen durch die­se Stadt und blen­den mich, doch kei­ne davon stillt den Durst.

Nicht bloß die Stadt ver­kommt für mich zur Kryp­ta unse­rer Ver­gan­gen­heit. Bald wird er los­ge­hen, der unge­len­ke Tanz durchs Minen­feld mei­ner Freun­de, die sich zwei­fel­los an dich erin­nern wer­den, weil ich ihnen von dir vor­lieb­te, ihnen alles über dich erzähl­te, mit einer Ver­ve, wie das nur jemand kann, der dir von Kopf bis Fuß ver­fal­len ist. Erzählt man etwas, dann ver­fes­tigt es sich mit jedem noch so klei­nen Wort als Rea­li­tät, und wenn es schief­geht, dann wird es zur Höl­le. Sie wer­den sich nach dir erkun­di­gen, sie wer­den wis­sen wol­len, was du machst und wie es dir so geht. Wie war noch gleich sein Name, wer­den sie mich bei­läu­fig fra­gen, und wäh­rend ich genau weiß, von wem die Rede ist, weil ich dich nie­mals ver­ges­sen kann, wer­de ich doch nichts ande­res her­vor­brin­gen als: Wen meinst du? Wenn aber jemand dei­nen Namen aus­spricht, kann man für einen kur­zen Moment in mei­nen Augen sicher Wel­ten auf­blit­zen sehen, gan­ze Gala­xien, bevor sie kurz dar­auf als Schat­ten unbe­merkt vergehen.

Glau­ben kann ich es dir nicht, dass da bei dir nichts mehr war, kein Wunsch nach Zukunft, kein Gefühl, und ich den­ke nicht ein­mal, dass du dir selbst das alles glaubst. Wo wir nun ste­hen, wäre mir begreif­li­cher, wenn es nicht du gewe­sen wärst, der die­sen Stein erst ins Rol­len gebracht hat­te, der mit mir flir­te­te, ganz offen­siv, obwohl du sonst so schüch­tern bist. Dein Strah­len jedes Mal, wenn wir uns irgend­wie begeg­ne­ten, erwärm­te mei­ne gan­ze Welt. Ich fühl­te, du bist mein Zuhau­se, und ich woll­te dir das dei­ne sein. Mein Lächeln muss mich schon von Anfang an ver­ra­ten haben, die­se Mas­ke einer hoff­nungs­los Hoff­nungs­vol­len, die­ses gut­mü­ti­ge Grin­sen, weil ich gänz­lich glück­lich war, und du, du lächel­test zurück.

Immer warst du so bemüht, mich fas­zi­niert auf unse­re Gemein­sam­kei­ten hin­zu­wei­sen, auf alle noch so klei­nen Zufäl­le, auf die gewöhn­li­chen Ereig­nis­se, die nicht mehr so gewöhn­lich waren, weil du sie gleich mit mir ver­bun­den hast und ich sie wie­der­um mit dir. Zwi­schen uns gedieh eine Art geis­ti­ger Inti­mi­tät und wir ver­voll­stän­dig­ten uns, als hät­ten wir das immer schon getan. Du warst fröh­lich, wenn wir Din­ge zeit­gleich erle­dig­ten, ohne uns irgend­wie abge­spro­chen zu haben, oder wenn uns ein und das­sel­be völ­lig unab­hän­gig von­ein­an­der gefiel. Es waren sol­che Bana­li­tä­ten, die dich glück­lich mach­ten, selbst wenn die Welt dir gera­de läs­tig war, und ich war glück­lich, schon weil du es warst.

Du merk­test dir so vie­les, was ich dir erzähl­te, all die Din­ge, die ich mag. Ich stand für dich im Licht, war Sam­mel­stel­le dei­ner Auf­merk­sam­keit und das zeig­test du mir deut­lich, nur zuge­ge­ben hät­test du es nie. Noch über die dümms­ten mei­ner Wit­ze hast du gelacht, wie das nur jemand kann, der nicht mehr ganz bei Trost oder ernst­haft ver­liebt sein muss, was unterm Strich ja irgend­wie das Glei­che ist, mit einem herz­lich schö­nen Lachen, dem ich im ers­ten Augen­blick sofort verfiel.

Du hast dich ein­mal als einen Men­schen bezeich­net, der zual­ler­erst an sich denkt, und den­noch mach­test du so viel für mich, du sorg­test dich um mich, du woll­test, dass ich mich bei dir wohl­füh­le. Für jeman­den, der nur an sich denkt, hast du erstaun­lich viel an mich gedacht. Ich nahm in dei­nem Leben einen so gro­ßen Raum ein, dass es mir schon bei­na­he unan­ge­nehm wur­de. Am Ende unse­rer Tref­fen hast du mich kein ein­zi­ges Mal ein­fach so fort­ge­hen las­sen, ohne mir zwi­schen Tür und Angel nicht noch Vor­schlä­ge für ein Wie­der­se­hen ans Herz zu legen. Dei­ne Phan­ta­sie über­schlug sich bei dem höl­zer­nen Ver­such, neue Vor­wän­de für ein Tref­fen zu erdenken, mit einer bei­läu­fi­gen Art, die sicher dei­ne Schüch­tern­heit ver­ber­gen soll­te, die du immer schon für unmänn­lich gehal­ten hast. Dir lag etwas dar­an, dass wir uns wie­der­se­hen, das war es, was für mich von all­dem hän­gen­blieb. Du orga­ni­sier­test dei­ne Zeit um mich her­um, um mei­ne Mani­fes­ta­ti­on in dei­nem Leben, wäh­rend ich dich sach­te in dem mei­nen ver­an­ker­te, als bau­test du in mei­nem Vor­hof dein Quar­tier. Ich nahm mir mei­ne Zeit für dich, ich nahm mir alle Zeit der Welt. Heu­te willst du sie nicht mehr.

Es spielt kei­ne Rol­le, was ich glau­be und was tat­säch­lich dei­ne Grün­de waren, denn es bringt uns nicht wie­der zusam­men, macht aus den Trüm­mern nicht mehr eins.

Mei­ne Brie­fe, in denen ich dir schrieb, wie viel du mir bedeu­test, hast du lei­der nie beant­wor­tet, und mei­ne Vor­schlä­ge, was wir gemein­sam unter­neh­men könn­ten, schlägst du seit­dem alle aus. Du warst mit einem Mal wie aus­ge­wech­selt, kamst mir vor wie ein Magnet, des­sen Pola­ri­tät sich schlag­ar­tig ver­än­dert hat­te. Was mir gefiel, konn­test du plötz­lich nicht mehr aus­ste­hen. Bei jeder Ange­le­gen­heit, in der wir immer einer Mei­nung gewe­sen waren, behaup­te­test du nun das Gegen­teil. Wenn wir uns doch noch ein­mal tra­fen, brach­test du stets irgend­wel­che Freun­de mit, Bekann­te oder Arbeits­kol­le­gen. Mein Ein­druck war, es hät­ten Unbe­kann­te sein kön­nen, solan­ge das für dich bedeu­te­te, nicht mit mir allein zu sein, als sei ich über Nacht zu einer düs­te­ren Bedro­hung gewor­den, die nur als Grup­pe über­haupt bezwun­gen wer­den kann.

Du woll­test es mir ver­weh­ren, dich auch wei­ter­hin zu mögen, so wie jemand, der einem armen Bett­ler etwas Geld ver­wehrt, nicht weil er selbst ein böser Mensch ist, son­dern um die Brief­ta­sche nicht öff­nen zu müs­sen. Es sticht schon höl­lisch in der Brust, wenn man ernüch­tert fest­stel­len muss, dass eine Lie­be nicht erwi­dert wird, doch wenn die eige­nen Gefüh­le noch als Zumu­tung emp­fun­den wer­den, ist das wie Stark­strom mit­ten durch das Herz. Du hast kei­ne Vor­stel­lung davon, wie sehr es schmerzt, auf ein­mal so behan­delt zu wer­den. Nun muss ich mir anse­hen, wie aus­tausch­bar ich allem Anschein nach für dich gewor­den bin. Ich woll­te bei dir ankom­men, aber für dich war ich in dei­nem Leben nur zu Gast.

Du konn­test nie rich­tig begrei­fen, wie­so ich etwas an dir fand, wes­halb ich etwas an dir mag. Womög­lich war ich dir nicht über­zeu­gend genug, aber muss­te wirk­lich ich dich über­zeu­gen oder nicht viel eher du dich selbst von dei­ner Liebenswürdigkeit.

Men­schen wie du und ich machen sich mit ihrer Nach­denk­lich­keit das Leben so unnö­tig schwer. Gemein­sam hät­ten wir leich­ter sein kön­nen, leicht genug zum Flie­gen, doch abzu­he­ben trau­test du dich nie. Ich bau­te für dich Brü­cken, wo kei­ne Flüs­se, Häu­ser, wo kei­ne Städ­te, Tun­nel, wo kei­ne Ber­ge waren. Du warst mein Leucht­turm in der Nacht, der selbst noch strahlt und mir als Rei­sen­dem die Rich­tung weist, wenn alles Sons­ti­ge in Dun­kel­heit ver­sinkt. Es hat vor dir schon Ande­re in mei­nem Her­zen gege­ben, doch ich mach­te dich zum Aller­ers­ten und du wirst für mich der Letz­te blei­ben. Wel­che Zukunft es mit dir gege­ben hät­te, weiß ich nicht. Ohne dich gibt es kei­ne Zukunft. Nach dir kommt nichts. Es gibt kei­ne Zukunft mehr, nicht ein­mal Gegen­wart, bloß noch Vergangenheit.

Was ich noch an Hoff­nung hat­te, setz­te ich auf dich und ver­lor sie ein für alle Mal. Mit wach­sen­der Ver­zweif­lung habe ich ver­sucht, sie zu bewah­ren. Jedes dei­ner Wor­te, auch die unge­sag­ten, dreh­te ich in mei­nem Kopf her­um, bis ich schließ­lich einen Ansatz fand, eine Inter­pre­ta­ti­on, die mir ein wenig Zuver­sicht ver­sprach. Dei­ne Wor­te waren mei­ne Hypo­thek, auf deren Dar­le­hen ich mein Leben errich­te­te. Jeden mei­ner Schrit­te mach­te ich auf einem Steg aus Hoff­nung, den ich mir aus den Bret­tern dei­ner Wor­te gezim­mert hat­te, bis es jeden Tag etwas weni­ger wur­de, an dem ich mich noch fest­hal­ten, auf das ich mich noch stüt­zen, mit dem ich mir einen Weg nach vor­ne hät­te bau­en kön­nen. Du warst mei­ne letz­te gro­ße Hoff­nung auf Zukunft.

Sein gan­zes Leben ist der Mensch ein Baum im Wind. Er trotzt den Gewal­ten, die auf ihn ein­wir­ken, er stemmt sich ihnen ent­ge­gen, tag­ein und tag­aus, doch wenn der Baum erst ein­mal ange­sägt ist, genügt ein leich­ter Stoß, um ihn zu Fall zu brin­gen. Gesägt haben an mir schon vie­le, aber erst du hast mir den Stoß ver­setzt. Nun bin ich am Boden, habe kei­ne Ener­gie mehr, kei­ne Kraft, um wie­der auf­zu­ste­hen. Je näher man jeman­den an sich her­an­lässt, des­to kür­ze­re Mes­ser braucht er. Mei­ne Rüs­tung, die ich mit mir durchs Leben tra­ge, mein Pan­zer, der mich vor der Welt beschützt, er ist ver­braucht und abgenutzt.

Es gibt kei­nen unbe­grenz­ten Vor­rat an Ener­gie, den man in ein Leben ste­cken kann. Jede fri­sche Ver­let­zung zehrt an den Kräf­ten, bis irgend­wann die Kraft erlischt. Eines Tages wächst ein­fach kei­ne Haut mehr, wo eine neue Wun­de ent­steht. Der inne­re und der äuße­re Tod soll­ten in einer idea­len Welt zur glei­chen Zeit von­stat­ten­ge­hen, doch bei den meis­ten Men­schen ist das nicht der Fall, denn unse­re Welt ist alles ande­re als ide­al. Es heißt, die Hoff­nung stirbt zuletzt, doch meint das Sprich­wort wirk­lich deren Lang­le­big­keit, oder bedeu­tet es denn nicht viel mehr, dass nach dem Tod der Hoff­nung nichts mehr bleibt, das dann noch ster­ben kann. Wie sehr rühmt sich die moder­ne Medi­zin, Men­schen am Leben erhal­ten zu kön­nen, aber was hilft das, wenn man im Inne­ren schon lan­ge nicht mehr lebt. Es gibt kei­ne Maschi­nen, kei­ne lebens­ver­län­gern­den Maß­nah­men, an die man die Hoff­nung eines Men­schen anschlie­ßen könn­te. Der bio­lo­gi­sche Tod wird redu­ziert auf eine Formsache.

Mach dir nichts draus, das Leben geht wei­ter, sagen sie dir mit her­ab­las­sen­dem Mit­leid. Ja, es geht wei­ter, denn das Hin­ter­häl­ti­ge an gebro­che­nen Her­zen ist, dass der ande­re sei­ne Tat nicht voll­endet, sie nicht kon­se­quent zum Abschluss führt, weil er einen nie wirk­lich umbringt. Man ist leer, aus­ge­laugt, ver­braucht, man blickt in ein Schwar­zes Loch und über­schrei­tet den Ereig­nis­ho­ri­zont, man wird hin­ein­so­gen und kommt nicht mehr her­aus. Das Leben geht wei­ter, ja, aber man selbst lebt nicht wei­ter, man exis­tiert bloß noch vor sich hin.

Auch ich füge mich ein ins Heer der wan­deln­den Toten. Erst ver­liert man die Hoff­nung und dann sich selbst. Nichts hat für mich noch irgend­ei­ne Bedeu­tung. Ich kann nichts mehr füh­len, wenn es nicht mit der Ver­gan­gen­heit ver­bun­den ist, mit dir. Ich spü­re kei­ne Gegen­wart, nicht ein­mal Schmerz, nicht ein­mal Wut, schon gar nicht Lie­be. Wie das Archiv einer längst ver­gan­ge­nen Kul­tur ver­wal­te ich die Samm­lung mei­ner Emo­tio­nen, aber es kom­men kei­ne neu­en mehr hin­zu. Du hast den Men­schen aus mir entfernt.

Es gibt so vie­le wie mich. Ich sehe sie jeden Tag, kann sie durch­schau­en, sie sind leer, und doch simu­lie­ren sie ein Leben, genau wie ich, sie gehen ihrer Arbeit nach, sie essen und schla­fen wie jeder ande­re Mensch auch. Das Schei­tern beginnt, wenn man nicht mehr fragt, was man will, son­dern bloß noch, was man kann. Mein Schick­sal ist es, tot zu sein und wei­ter­le­ben zu müs­sen. Ich woll­te dir alles geben, du hast mir alles genom­men. Nicht aus böser Absicht, ver­mut­lich nicht ein­mal bewusst, doch unterm Strich zählt letzt­lich nur, wie alles endet. Du sag­test mir zum Abschied noch, ich sei ein unglaub­li­cher Mensch, wie du ihn nie zuvor getrof­fen hast, doch was bedeu­tet das schon, wenn du mich dar­auf­hin kalt abser­vierst. Ich bin in mei­nem Leben eine Frem­de geworden.

Ande­re wür­den sagen, ich hät­te mei­ne Zeit mit dir ver­schwen­det, aber ver­schwen­det war sie nie, denn sie hat mich, wenn auch nur vor­über­ge­hend, zu einem glück­li­chen Men­schen gemacht.

Es gäbe noch so vie­les, das ich dir ger­ne sagen wür­de, so viel Unaus­ge­spro­che­nes, das noch aus­zu­spre­chen wäre, doch ich wer­de dir nie wie­der schrei­ben, ich wer­de mit dir nie wie­der reden, ich wer­de dich nicht mehr zum Lachen brin­gen und dir kei­ne Nach­rich­ten mehr auf der Mail­box hin­ter­las­sen Ich wer­de dir kei­ne Fra­gen mehr stel­len und mich nicht län­ger für dein Leben inter­es­sie­ren, weil ich die Ant­wor­ten nicht ertra­gen wür­de. Du wirst kein Lebens­zei­chen von mir erhal­ten, weil es die­ses Leben nicht mehr gibt, das auf sich auf­merk­sam machen könn­te. Wie sagt man jeman­dem Lebe­wohl, ohne den man nicht leben kann.

In die­ser Stadt ist kein Platz mehr für mich, genau­so wenig wie in dei­nem Leben. Was mich hier noch hält, ist mir ein Rät­sel. Ziel­los strei­fe ich durch die Stra­ßen die­ser Stadt und ich wünsch­te mir dabei, ich wäre Nero. Ich möch­te dich nicht nur ver­ges­sen, dich in mei­nem Kopf nicht bloß ver­blas­sen sehen, ich möch­te sämt­li­che Andenken an dich voll­stän­dig aus­ra­die­ren, in mir wie in der Welt. Die­se Stadt soll bren­nen, sie soll ver­glü­hen und in Rauch auf­ge­hen, denn sie ist für mich unbe­geh­bar gewor­den. Ich möch­te Feu­er legen, rasend alles nie­der­rei­ßen, ich möch­te sie zer­stö­ren, noch bis hin­un­ter auf den letz­ten Stein. Die gan­ze Welt kann unter­ge­hen, es wäre mir egal. All die von dir besetz­ten Gebäu­de und mei­ne Erin­ne­rung an dich sol­len ein für alle Mal in Flam­men auf­ge­hen und zu Asche zer­fal­len, wor­aus ich als Phö­nix neu her­vor­ge­hen kann.

Viel­leicht ja wür­de es in eini­gen hun­dert Jah­ren eine Grup­pe von Archäo­lo­gen zu den Trüm­mern die­ses lieb­lo­sen Ortes füh­ren und sie wür­den sich even­tu­ell fra­gen, was hier wohl vor­ge­fal­len sein mag. Es wäre nur ein wei­te­res Puz­zle­teil in der unend­li­chen Geschich­te der Mor­de, Krie­ge und Zer­stö­run­gen aus purer Ver­zweif­lung an mensch­li­cher Lie­be. Sie ist die edels­te aller Kräf­te, die auf einen Men­schen jemals wir­ken kann, aber auch die unbarm­her­zigs­te und ver­nich­tends­te. Wie vie­le Bur­gen und Fes­tun­gen, wie vie­le Städ­te und Rei­che, wie vie­le Macht­ha­ber und Impe­ri­en gin­gen bereits zugrun­de, nur weil ein Mensch sein Herz verlor.

Auch ich habe dich bela­gert, wenn man es so aus­drü­cken möch­te, aber dei­ne Mau­ern waren zu stark, dein Boll­werk zu mas­siv, und den­noch rann­te ich voll Freu­de mit dem Herz dage­gen an. Du hast dich am Ende gegen mich ent­schie­den, hast dei­ne Zug­brü­cke hoch­ge­fah­ren, als ich noch auf ihr stand. Nur zu ger­ne wäre ich ein wüten­des Infer­no, das mich wie alles ande­re im Flam­men­meer ver­schlingt, doch statt den Glas­pa­läs­ten in der Innen­stadt, die mit Getö­se aus­ein­an­der­bre­chen, ist es bloß mein Glück. Die Welt bleibt kalt und unbe­rührt, wäh­rend mein Inners­tes heim­lich verbrennt.

Dann geht es wei­ter, das Leben, die dunk­len Wol­ken zie­hen aus dem Kopf, ich esse wie­der aus­wärts und mache mein Haar, ich trin­ke Cock­tails und gehe ins Büro, ich flir­te und lache und bin nor­mal und habe kei­ne Angst vor dem nächs­ten Tod. Der nächs­te wird wie­der der letz­te sein. Ich bin drei Mal schon gestor­ben und immer habe ich mir ein­ge­re­det, dies­mal sei es beson­ders schlimm, und ich glau­be, das ist gut. Das Lei­den gehört dazu, wenn es schief­geht, es zeugt von Bedeu­tung, es zeugt von Gefüh­len, es zeugt von mir. Schlimm ist es erst, wenn man nicht mehr stirbt.

Die Welt gehört dem, der nicht fühlt. Die Grund­vor­aus­set­zung, um ein prak­ti­scher Mensch zu wer­den, ist ein Man­gel an Sen­si­bi­li­tät. Die bes­te Vor­be­din­gung für die Pra­xis des Lebens ist die Trieb­kraft, die zum Han­deln führt, das heißt der Wil­le. Nun gibt es aber zwei Din­ge, die das Han­deln beein­träch­ti­gen – die Sen­si­bi­li­tät und das ana­ly­ti­sche Den­ken, das letzt­lich nichts ande­res ist als ein Den­ken mit Sen­si­bi­li­tät. Jedes Han­deln ist sei­ner Natur nach die Pro­jek­ti­on der Per­sön­lich­keit auf die Außen­welt, und da die Außen­welt zur Haupt­sa­che von mensch­li­chen Wesen bestimmt wird, folgt dar­aus, daß die­se Pro­jek­ti­on der Per­sön­lich­keit vor allem bedeu­tet, daß wir uns auf dem Weg unse­rer Mit­men­schen quer­le­gen, ihn hin­der­lich gestal­ten und sie je nach Art unse­res Vor­ge­hens ver­let­zen und erdrücken.
Fer­nan­do Pes­soa – Das Buch der Unruhe

Es ist ein ver­reg­ne­ter Sams­tag­abend und ich sit­ze mit dir in einer klei­nen Knei­pe in Frank­furt Bocken­heim. Du trägst Jeans und ein rotes Ober­teil, dein Haar ist zu Zöp­fen gebun­den, du rauchst. Zuvor sind wir essen gewe­sen, beim Per­ser, ich habe dich ein­ge­la­den, du hast einen ehe­ma­li­gen Mit­be­woh­ner getrof­fen, dann sind wir kurz durch die Nacht spa­ziert. Nun trin­ken wir Cock­tails, wir unter­hal­ten uns, wir wer­den kri­tisch, wir wer­den trau­rig, wir lachen und spin­nen her­um. Du bist jemand, bei dem ich sein kann, wer ich bin, ohne Unver­ständ­nis zu pro­vo­zie­ren, ohne mich ver­stel­len zu müs­sen, ohne Erwar­tun­gen zu begeg­nen, die mir so fremd sind wie eine außer­ir­di­sche Kul­tur. Wir tei­len eine Sicht auf die Welt, auf das, was uns stört, was wir mögen, und ich mer­ke, ich mag vor allem dich.

Wir ste­hen uns poli­tisch nahe, wenn man das so aus­drü­cken kann. Uns eint der Kampf gegen die Übel die­ser Welt, doch Hoff­nung treibt dich dabei nicht, eher sei es Rast­lo­sig­keit, man kön­ne eben etwas tun oder schwei­gend resi­gnie­ren. Eigent­lich aber möch­test du hier weg, sagst du, und mit hier meinst du Deutsch­land, nicht die­sen Moment in die­ser klei­nen, gemüt­li­chen Knei­pe. Ein Häus­chen, viel­leicht ein Bau­ern­hof, gemein­sam mit ein paar Freun­den, das wäre das Rich­ti­ge, erklärst du mir, und dei­ne Augen fun­keln ein wenig bei der Vor­stel­lung dar­an. Du nennst es andäch­tig Utopia.

Es man­gelt am Wil­len zur Umset­zung, ant­wor­te ich dir und es stimmt. Du bist nicht die ers­te, die mir von die­sem Traum vor­schwärmt, denn ich ken­ne vie­le, die vom Weg­ge­hen träu­men, vom selbst­be­stimm­ten Leben, nur kei­nen, der es macht. Auch für dich sei es eher ein Plan B, eine Rück­zugs­mög­lich­keit, gesellst du dich zu ihnen, für die Zeit, wenn dir das Leben hier in die­sem Land nicht mehr ange­nehm erscheint.

Ich fin­de es jetzt schon nicht mehr ange­nehm, geste­he ich dir, und du bist der ers­te Mensch, der bei die­sen Wor­ten nicht lacht, nicht min­des­tens schmun­zelt oder mich fra­gend ansieht. Du näm­lich schaust mich an, mit einem Blick, der mir sagt, dass du genau ver­stehst. Wir füh­ren den Gedan­ken wei­ter, bis du mir erklärst, wie du dir das Gan­ze vor­stellst, viel­leicht in Grie­chen­land, mit ein paar Tie­ren und Gemü­se und was man eben braucht, um so aut­ark zu sein, wie es die Umstän­de erlau­ben. Der Abend klingt aus und ich sto­ße mit dir dar­auf an, ihn umzu­set­zen, dei­nen Plan B, und du lachst und freust dich und sagst: Ja, das machen wir. Ich sehe Zukunft, wo ein Fra­ge­zei­chen war. Wir sind Kom­pli­zen, die den Aus­bruch wagen.

In den Tagen dar­auf rech­ne ich zusam­men, was ich gespart habe, dru­cke Immo­bi­li­en­an­ge­bo­te aus, rei­se um die hal­be Welt, um mir einen guten Ein­druck von den inter­es­san­tes­ten Objek­ten zu machen, lese Bestim­mun­gen, pla­ne vor­aus. Drei Wochen spä­ter tref­fen wir uns in dei­ner Woh­nung, ich lege dir Fotos vor, ohne dir mei­nen Favo­ri­ten zu ver­ra­ten, und dei­ne Wahl fällt auf das glei­che Haus. Wir lachen, freu­en uns, gehen Pla­nun­gen durch, über­schla­gen Finan­zen. Ganz die Rea­lis­tin, die du bist, wirfst du ein, du fän­dest das alles wun­der­bar, nur könn­test du nicht von heu­te auf mor­gen dei­ne Woh­nung auf­ge­ben und dei­nen Job kün­di­gen, da gäbe es Fris­ten, und dein Kater mache dir Sor­gen, der habe doch sein Revier, und all das Recht­li­che. Das macht nichts, beschwich­ti­ge ich, dann fah­re ich allei­ne schon mal vor, rich­te alles her, ich küm­me­re mich um unser Haus, wid­me mich dem Büro­kra­ti­schen, freue mich auf dich, und dem Kater wird es gefal­len. Du nickst und dann umarmst du mich auf eine Art, dass ich mich füh­le, als wür­de ich nach lan­ger Odys­see zu Hau­se ankommen.

Am nächs­ten Tag plün­de­re ich mei­ne Kon­ten, bestei­ge ein Flug­zeug und flie­ge einem neu­en Leben ent­ge­gen. Ich kau­fe ein Haus, das Haus, unser Haus, mit rie­si­gem Grund­stück und mod­ri­gem Holz­zaun rund­her­um, die Mau­ern in einem Rot­ton, der dir gefal­len wird, die Zim­mer groß genug, falls wir Besuch oder mal Kin­der haben wol­len. Das Dach ist nicht ganz dicht, wie ich beim ers­ten Regen fest­stel­len muss, aber wir sind es auch nicht. Ich reno­vie­re, ich strei­che, ver­le­ge Böden und ler­ne mau­ern, ich lege mich ins Zeug und füh­le mich zum ers­ten Mal als frei­er Mensch. So ver­brin­ge ich Wochen, dann Mona­te. Mit der Begeis­te­rung eines Kin­des schi­cke ich dir immer wie­der Fotos und selbst­ge­dreh­te Vide­os, und du sagst, du willst noch dei­ne Pro­mo­ti­on fer­tig­stel­len, dann kommst du. Ich freue mich wahn­sin­nig dar­auf, wenn du kommst, ant­wor­te ich dir.

Das Dach ist mitt­ler­wei­le gut, das Haus bezugs­fer­tig, was aus­zu­bes­sern war, habe ich aus­ge­bes­sert. Die Reno­vie­rung kommt vor­an, wenn auch lang­sam, und zwi­schen­drin ver­su­che ich mich als Gärt­ner, lese mich schlau, pflan­ze an, gie­ße, ver­tei­le Dün­ger, hof­fe und war­te. Eini­ges gedeiht, man­ches nicht, und ich bin stolz, weil das für einen ers­ten Ver­such gar nicht so schlecht ist. Du hast von uns bei­den den grü­ne­ren Dau­men, du wirst mich aus­la­chen, wenn du kommst.

Zwei Mona­te spä­ter bekommst du ein Ange­bot für eine Stel­le an der Uni, ein Ein­jah­res­ver­trag, und du sagst, so lan­ge sol­le ich mich noch gedul­den, danach aber kämst du. Mir macht es nichts aus, die Reno­vie­rung braucht noch etwas Zeit, und ich sage, ich freue mich dar­auf, wenn du kommst, du wirst ein wun­der­schö­nes Haus vorfinden.

Drau­ßen wird es lang­sam grün und ich fil­me auch das, schi­cke es dir, will dir zei­gen, dass selbst unter mei­ner Regie pflanz­li­ches Leben mög­lich ist. Du lachst so herz­lich über mei­ne ange­streng­ten Gärt­ner­ver­su­che, dass alle Kilo­me­ter zwi­schen uns ver­ges­sen sind. Kurz bevor du auf­legst, seufzt du, denn du wärst so ger­ne hier, und ich spie­le es her­un­ter, es ist doch nicht mal mehr ein Jahr.

Vier Mona­te ver­ge­hen, in denen wir mai­len, chat­ten, tele­fo­nie­ren, ich schi­cke dir wei­ter­hin Bil­der und Vide­os, hege Vor­freu­de, und dann schreibst du mir, du bist jetzt an einem For­schungs­pro­jekt betei­ligt, das du super inter­es­sant fin­dest, und man erwägt, dich fest ein­zu­stel­len, und wie groß­ar­tig das ist und ob ich mich freue.

Drei Tage spä­ter ant­wor­te ich dir, schi­cke dir einen Link auf ein klei­nes regio­na­les Nach­rich­ten­por­tal, schrei­be sonst nichts. Du rufst mich an, obwohl du nicht viel Zeit hast, wie du mir erklärst, du machst gera­de Pau­se, gleich musst du zurück. Du bist ver­wirrt, sagst du, und ob das ein Scherz sei, aber es ist alles echt, ver­si­che­re ich dir, das Feu­er und der Total­scha­den. Uto­pia ist abgebrannt.

Heu­te Mor­gen schloss ich eine Tür, obwohl ich wuss­te, sie wird sich nie wie­der für mich öff­nen. Man­che Türen ver­schlie­ßen ein Zim­mer, man­che Türen ver­schlie­ßen ein Haus. Die­se hier ver­schließt eine gan­ze Welt. Die Die­len knarz­ten, als ich in den Flur trat, ich schlich fast sanft dar­auf her­um, sie soll­ten dich nicht wecken, auch wenn ein Teil von mir ganz heim­lich hoff­te, sie wür­den es doch, du stün­dest auf und alles wäre gut. Ich zog mei­ne Jacke an und schau­te in dei­ne Rich­tung, ich ließ mir Zeit, blick­te auf mein Han­dy, prüf­te alle Taschen, leg­te mei­nen Schal um. Es war ein Abschied auf Raten, aber erst die Hand an der Tür ließ ihn wirk­lich offi­zi­ell wer­den, jener Moment, in dem sie hin­ter mir ins Schloss fiel, ein für alle Mal, quiet­schend und zäh, als wür­de sie es sich noch ein­mal über­le­gen. Wo bis­lang stets ein Durch­gang gewe­sen ist, ein Tun­nel zwi­schen den Wel­ten, war nun bloß eine Fort­set­zung der Wand. Als ich im Trep­pen­haus nach unten ging, war es der Abstieg vom Glück. Ich hät­te dich zum Abschied ger­ne noch geküsst.

Letz­te Nacht war ich dir so nah, und doch hät­test du nicht uner­reich­ba­rer sein kön­nen. Das Mond­licht fiel fra­gend durch ein Fens­ter oder viel­leicht waren es bloß die schim­mern­den Stra­ßen­la­ter­nen vor dei­nem Haus, aber was immer es auch war, Erleuch­tung brach­te es nicht. Hin und wie­der fuhr ein Auto vor­bei, zu schnell und mit grö­len­der Musik, und dann war es für einen Augen­blick dort drau­ßen so laut wie in mei­nem Kopf. Wenn ich die Augen schloss, erschienst du mir, du tanz­test quer durch mei­ne Phan­ta­sie, nahmst jede Kam­mer mei­ner Welt, dei­ne Stim­me besetz­te mein Ohr. Ich sprach mit dir zum aller­letz­ten Mal, als du müde aus dem Bade­zim­mer kamst, dein Kater saß schnur­rend neben mir, da husch­test du laut­los an uns vor­bei, du schau­test mich nicht an, ich weiß nicht, war­um. Geschla­fen habe ich in die­ser Nacht kaum, und wenn doch, dann träum­te ich von dir.

Ich schloss die Tür und ging, nun ste­he ich ver­lo­ren in der U‑Bahnstation. Eine Fast­nachts­ka­pel­le stapft fröh­lich die Trep­pen her­un­ter und spielt das trau­rigs­te Lied der Welt, nicht weil es selbst trau­rig ist, son­dern ich. Von rechts braust end­lich der Zug ins Unge­wis­se her­an, kommt mit Getö­se zum Ste­hen, dann stei­ge ich ein, wir rol­len ins Nichts. Hin­ter mir im Wagen sitzt ein Mäd­chen und weint. Ich fah­re mit der U‑Bahn durch die Stadt, bestimmt ein paar Stun­den; Men­schen kom­men und gehen, wie Land­schaf­ten zie­hen sie vor­bei, ver­wischt und unscharf, mein Fokus ruht immer­fort auf dir. Irgend­wann bin ich es leid, ver­las­se irgend­wo den Zug und trot­te in den Groß­stadt­schluch­ten her­um, apa­thisch und ziel­los, hun­gernd nach Leben. Gigan­ten aus Glas säu­men mei­nen Weg und bli­cken unbe­rührt auf mich her­ab. Eine Kiosk­ver­käu­fe­rin sagt, es sei ein wun­der­schö­ner Tag, dabei lächelt sie mich an, sie meint es ernst. Auf dem Heim­weg gera­te ich in Schnee­re­gen, der die Welt mit unschul­di­gem Weiß bedeckt, so als wäre alles gut, doch in mir ist es dun­kel. Um die Sehn­sucht zu über­tö­nen, höre ich Musik, und der Zufall wählt ein Lied von Ele­ment of Crime – natür­lich trägt es dei­nen Namen. Alles wirkt zuneh­mend sur­re­al und ich ver­ste­he, genau des­we­gen ist es Wirklichkeit.

Wenn ich auch trau­rig bin, gibst du mir doch Kraft, da ich nun weiß, dass du dort drau­ßen bist und lebst und lachst und dafür ein­stehst, wor­an du glaubst, mit gro­ßem Her­zen und so unbe­irrt wie Sisy­phos am Hang. Mein gan­zes Leben habe ich nach dir gesucht, dich ver­misst, das wur­de mir mit vol­ler Wucht bewusst, als ich lang­sam aus der Woh­nung trat. Jeman­den wie dich fin­det man nur ein Mal oder nie. Die gro­ßen Träu­me blie­ben hin­ter dei­ner Tür zurück, sie drin­gen bloß noch als Gespens­ter durch die Wand. Mein Kopf lebt immer noch bei dir, wenn du ihn fin­dest, stell ihn bit­te vor die Tür, der Rest ging irgend­wo ver­lo­ren. Die Zukunft wird Ver­gan­gen­heit, die Gegen­wart ver­fliegt. Nichts ist so ver­gäng­lich wie das Wun­der­ba­re, leben­dig wäre alles nur mit dir.

Du weißt das nicht, weil ich am Mor­gen durch die Tür gegan­gen bin, als du noch tief und fest geschla­fen hast.

Sie war eine Weit­sich­ti­ge: Was noch fern war oder schon wie­der ver­ab­schie­det, das sah sie scharf. Was aber nah war, was sie unmit­tel­bar umgab, das konn­te sie nicht genau erken­nen und hüll­te es des­halb in Ste­reo­ty­pe. Ihre Rhe­to­rik war lei­den­schaft­lich in der Erwar­tung und im Abschied, also bei den Din­gen, die noch nicht sind, und bei jenen, die nicht mehr waren. Was tun mit uns? Zunächst reis­ten wir auf­ein­an­der zu, um die Nähe, die wir in der Fer­ne emp­fun­den hat­ten, mit kör­per­li­cher Gegen­wart zu bele­ben, aber all­mäh­lich wuchs der Ver­dacht, dass wir am Ende einen Platz leer fin­den wür­den. Ja, wir reis­ten vol­ler Ver­lan­gen, doch ver­le­gen, weil jetzt ein Kör­per saß, wo ein Phan­tom gewe­sen war. (…) Von außen waren wir ein Paar, von innen ein Arrangement.
(Roger Wil­lem­sen – Die Enden der Welt)

Wer anders sein will, als er ist, der tut mir leid. Sein Wunsch ist ehren­wert, doch abge­dro­schen. Ich for­mu­lie­re tas­tend eine The­se: Die Men­schen­see­le mit allem Drum und Dran ist seri­el­ler Kitsch. Das Inners­te erwirbt sich jeder von der Stan­ge. Nichts von Mys­te­ri­um, nur Schmalz. Mit vio­let­ten Fin­ger­nä­geln kom­men sie zu mir, mit ori­gi­nel­len Kai­ser-Wil­helm-Schnäu­zen, abgren­zungs­wü­tig schwän­zeln sie her­um und füh­len sich weiß Gott wie ein­zig­ar­tig. Dann öff­nen sie den Mund und hus­ten Abzieh­bild­chen aus. Und was sie spü­ren, wün­schen, träu­men, das macht sie grau­sam gleich und hundsgewöhnlich.
Das Unver­wech­sel­ba­re an dir ist dei­ne Nase, die Kaprio­len dei­nes Her­zens aber sind ein Gassenhauer.
(Mar­kus Wer­ner – Froschnacht)

Was schon könn­te man an Loh­nens­wer­tem oder Nütz­li­chem beken­nen? Was uns wider­fah­ren ist, ist ent­we­der allen wider­fah­ren oder uns allein; in dem einen Fall ist es nichts Neu­es, im ande­ren unbe­greif­lich. Wenn ich schrei­be, was ich emp­fin­de, dann weil ich auf die­se Wei­se das Fie­ber mei­nes Emp­fin­dens sen­ke. Was ich beken­ne, ist nicht von Bedeu­tung, denn nichts ist von Bedeu­tung. Ich mache Land­schaf­ten aus dem, was ich emp­fin­de. Mache Feri­en von mei­nen Gefüh­len. Ich begrei­fe ohne wei­te­res, daß Frau­en aus Kum­mer sti­cken und Strümp­fe stri­cken, weil es Leben gibt. Mei­ne alte Tan­te leg­te end­lo­se Aben­de lang Pati­en­cen. Mei­ne Pati­en­cen sind mei­ne Gefühlsbekenntnisse.
Fer­nan­do Pes­soa – Das Buch der Unruhe

Sinn­kri­se. Ich komm in die Bera­tung, sagt sto­ckend ein Kli­ent, weil ich so komisch trau­rig bin die gan­ze Zeit, weil alles mich so sinn­los dünkt. – (Berich­ti­gung: Dies sagt nicht ein Kli­ent, sehr vie­le sagen es; ich wäh­le stell­ver­tre­tend einen und nenn ihn Zemp und refe­rie­re lückenhaft.)
Wuchs gedrun­gen. Flei­schi­ge Gestalt. Glied­ma­ßen kurz. Gang eher schlep­pend. Gute, blaue Augen. Tre­vi­ra-Hosen, bügel­frei, hand­ge­strick­te Wes­te. Zemp ist ein Volks­schul­leh­rer, Mit­te vier­zig, Fami­lie, im Mili­tär Major.
Weiß Ihre Frau um Ihren Zustand?
Neinnein.
Sie sagen zwei­mal nein, warum?
Ich will es ihr nicht sagen, es wür­de sie belasten.
Spürt sie’s nicht ohnehin?
Ich neh­me mich zusammen.
Sie haben also das Gefühl, es wür­de Ihre Frau belas­ten, wenn Sie ihr anver­trau­ten, wie’s Ihnen wirk­lich geht?
Ja, schon. Ich … ich bin sonst eben nicht so schwach. Ich muß dage­gen kämp­fen, und Sie als Fach­mann, dach­te ich, Sie ken­nen doch die Waffen.
Sie has­sen Ihre düs­te­re Gemütsverfassung?
Sehr.
Und das Gefühl, daß alles sinn­los ist, scheint Ihnen ungehörig?
Es ist ein Virus, wie ein Virus. Ein Überfall.
Ich kür­ze ab: Natür­lich besteht die ers­te Pha­se der »Behand­lung« dar­in, dem Zemp zu zei­gen, daß man auch als Major und Ehe­mann und Vater ein biß­chen schwach sein darf; daß zwei­tens Pro­ble­me sei­ner Art rein waf­fen­tech­nisch nicht zu lösen sind; daß drit­tens ein Sym­ptom so wenig feind­lich wie ein Leucht­turm ist, der auf Gefah­ren­zo­nen hin­weist. – Und in der nächs­ten Pha­se, die ich »poli­tisch« im wei­ten Wort­sinn nen­nen möch­te, geht es dann dar­um, zu erwä­gen, ob Sinn­lo­sig­keits­ge­füh­le und Betrüb­nis nicht allen­falls ver­stan­den wer­den könn­ten als durch­aus ange­mes­se­ne, Intakt­heits­sehn­sucht offen­ba­ren­de Reak­ti­ons­ge­bär­den gegen eine Wirk­lich­keit, die über wei­te Stre­cken so beschaf­fen ist, daß einer, der sich in ihr nicht trau­rig fühlt, sein Trau­er­de­fi­zit betrau­ern müßte.
(Mar­kus Wer­ner – Froschnacht)