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In einem sei­ner Fil­me, The Fatal Glass of Beer, zeigt ein Alt­meis­ter der ame­ri­ka­ni­schen Film­ko­mik, W. C. Fields, den erschröck­li­chen, unauf­halt­sa­men Nie­der­gang eines jun­gen Man­nes, der der Ver­su­chung nicht wider­ste­hen kann, sein ers­tes Glas Bier zu trin­ken. Der war­nend erho­be­ne (wenn auch vor unter­drück­tem Lachen leicht zit­tern­de) Zei­ge­fin­ger ist nicht zu über­se­hen: Die Tat ist kurz, die Reue lang. Und wie lang! (Man den­ke nur an eine ande­re bibli­sche Urmut­ter: Eva, und das biß­chen Apfel…)
Die­se Fata­li­tät hat ihre unleug­ba­ren Vor­tei­le, die bis­her scham­haft ver­schwie­gen wur­den, in unse­rem auf­ge­klär­ten Zeit­al­ter aber nicht län­ger ver­heim­licht wer­den dür­fen: Reue hin, Reue her – für unser The­ma ist es viel wich­ti­ger, daß die nie wie­der gut­zu­ma­chen­den Fol­gen des ers­ten Gla­ses Bier alle wei­te­ren Glä­ser wenn schon nicht ent­schul­di­gen, so doch zwin­gend begrün­den. Anders aus­ge­drückt: schön – man steht schuld­be­la­den da, man hät­te es damals bes­ser wis­sen sol­len, aber jetzt ist es zu spät. Damals sün­dig­te man, jetzt ist man das Opfer des eige­nen Fehl­tritts. Ide­al ist die­se Form der Unglück­lich­keits­kon­struk­ti­on frei­lich nicht, nur passabel.
Suchen wir daher nach Ver­fei­ne­run­gen. Was, wenn wir am ursprüng­li­chen Ereig­nis unbe­tei­ligt sind? Wenn uns nie­mand der Mit­hil­fe beschul­di­gen kann? Kein Zwei­fel, dann sind wir rei­ne Opfer, und es soll nur jemand ver­su­chen, an unse­rem Opfer-Sta­tus zu rüt­teln oder gar zu erwar­ten, daß wir etwas dage­gen unter­neh­men. Was uns Gott, Welt, Schick­sal, Natur, Chro­mo­so­me und Hor­mo­ne, Gesell­schaft, Eltern, Ver­wand­te, Poli­zei, Leh­rer, Ärz­te, Chefs oder beson­ders Freun­de anta­ten, wiegt so schwer, daß die blo­ße Insi­nua­ti­on, viel­leicht etwas dage­gen tun zu kön­nen, schon eine Belei­di­gung ist. Außer­dem ist sie unwissenschaftlich.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Zu mei­nen, wenn man allen glei­che wirt­schaft­li­che Mit­tel bereit­stel­le, gäbe man auch allen, sofern sie die uner­läß­li­che „Bega­bung“ mit­bräch­ten, glei­che Chan­cen (…), hie­ße in der Ana­ly­se der Hin­der­nis­se auf hal­bem Wege ste­hen­blei­ben und über­se­hen, daß die an Prü­fungs­kri­te­ri­en gemes­se­nen Fähig­kei­ten weit mehr als durch natür­li­che „Bega­bung“ (…) durch die mehr oder min­der gro­ße Affi­ni­tät zwi­schen den kul­tu­rel­len Gewohn­hei­ten einer Klas­se und den Anfor­de­run­gen des Bil­dungs­we­sens oder des­sen Erfolgs­kri­te­ri­en bedingt sind. (…) Das kul­tu­rel­le Erbe ist so aus­schlag­ge­bend, daß auch ohne aus­drück­li­che Dis­kri­mi­nie­rungs­maß­nah­men die Exklu­si­vi­tät garan­tiert bleibt, da hier nur aus­ge­schlos­sen scheint, wer sich selbst aus­schließt. (…) Die Mecha­nis­men, die zur Eli­mi­nie­rung der Kin­der aus den unte­ren und mitt­le­ren Klas­sen füh­ren, wären bei einer sys­te­ma­ti­schen Sti­pen­di­en- und Stu­di­en­bei­hil­fe­po­li­tik, die alle Gesell­schafts­klas­sen for­mal gleich­stel­len wür­de, fast eben­so (nur dis­kre­ter) wirk­sam; daß die ver­schie­de­nen Gesell­schafts­klas­sen auf den ver­schie­de­nen Stu­fen des Bil­dungs­we­sens ungleich ver­tre­ten sind, lie­ße sich dann mit noch bes­se­rem Gewis­sen auf unglei­che Bega­bung und unglei­chen Bil­dungs­ei­fer zurück­füh­ren. Kurz, die Trag­wei­te der sozia­len Ungleich­heits­fak­to­ren ist so groß, daß auch eine wirt­schaft­li­che Anglei­chung nicht viel ändern wür­de, da das Bil­dungs­sys­tem immer wei­ter sozia­les Pri­vi­leg in Bega­bung oder indi­vi­du­el­les Ver­dienst umdeu­ten und die Ungleich­heit dadurch legi­ti­mie­ren wür­de. (…) In der Über­zeu­gung, daß man nur ordent­lich zu rech­nen brau­che, um in der bes­ten aller denk­ba­ren Gesell­schaf­ten auch das bes­te aller Bil­dungs­we­sen zu schaf­fen, ver­fal­len die neu­en opti­mis­ti­schen Phi­lo­so­phen der Sozi­al­ord­nung in die alte Spra­che aller Sozio­di­ze­en, die zu bewei­sen ver­su­chen, daß die Sozi­al­ord­nung so ist, wie sie sein soll, weil man ihre schein­ba­ren Opfer nicht ein­mal mehr zur Ord­nung rufen muß, da sie ohne­hin bereit­wil­lig das sind, was sie sein sol­len. Die­se Bil­dungs­for­scher die­nen still­schwei­gend der Funk­ti­on der Legi­ti­mie­rung und Bewah­rung der Sozi­al­ord­nung, die das Bil­dungs­we­sen erfüllt, wenn es die Klas­sen, die es aus­schließt, von der Legi­ti­mi­tät ihres Aus­schlus­ses über­zeugt, indem es sie hin­dert, die Prin­zi­pi­en, auf­grund derer es sie aus­schließt, zu erken­nen und anzu­fech­ten. Die Urtei­le der Bil­dungs­in­stan­zen sind des­halb so defi­ni­tiv, weil sie mit der Ver­ur­tei­lung zugleich Ver­ges­sen über die sozia­len Impli­ka­tio­nen des Urteils ver­hän­gen. Damit sozia­les Schick­sal in freie Beru­fung und per­sön­li­ches Ver­dienst umge­deu­tet wer­den kann (…), muß das Bil­dungs­we­sen als „Obers­ter Pries­ter der Göt­tin Not­wen­dig­keit“ die Indi­vi­du­en erfolg­reich davon über­zeu­gen, daß sie ihr Schick­sal, das durch die sozia­le Not­wen­dig­keit längst über sie ver­hängt war, selbst gewählt oder ver­dient haben. Bes­ser als die poli­ti­schen Reli­gio­nen, deren kon­stan­tes­te Funk­ti­on (…) dar­in bestand, die herr­schen­den Klas­sen mit einer Theo­di­zee ihres Pri­vi­legs aus­zu­stat­ten, bes­ser als die Heils­leh­ren vom Jen­seits, die zur Per­p­etu­ie­rung der Sozi­al­ord­nung durch das Ver­spre­chen bei­tru­gen, die­se Ord­nung wer­de nach dem Tode umge­stürzt, bes­ser als die Dok­trin vom Kar­ma, die (…) den sozia­len Rang jedes Indi­vi­du­ums im Kas­ten­sys­tem aus dem Grad sei­ner reli­giö­sen Voll­kom­men­heit im Kreis­lauf der See­len­wan­de­rung ablei­te­te, ver­mag es heu­te das Bil­dungs­we­sen mit sei­ner Ideo­lo­gie der „natür­li­chen Bega­bung“ und der „ange­bo­re­nen Nei­gun­gen“, den Kreis­lauf der Repro­duk­ti­on der sozia­len Hier­ar­chien und der Bil­dungs­hier­ar­chien zu legitimieren.
(Pierre Bour­dieu / Jean-Clau­de Pas­se­ron – Die Illu­si­on der Chancengleichheit)

Wer sich nicht mit Poli­tik befaßt, hat die poli­ti­sche Par­tei­nah­me, die er sich spa­ren möch­te, bereits voll­zo­gen: er dient der herr­schen­den Partei.
(Max Frisch)

Wenn die Pflicht­er­fül­lung durch den sozia­len Druck zur dau­ern­den Antriebs­fe­der wird, ver­stärkt sich fort­wäh­rend die Bereit­schaft, sich dem Wil­len eines ande­ren zu unter­wer­fen. Außer­dem wird immer wei­ter beschnit­ten, was noch vom Gefühl der Eigen­ver­ant­wort­lich­keit – und der Fähig­keit zum Mit­ge­fühl – übrig­ge­blie­ben ist. Pflicht­er­fül­lung wird ein will­kom­me­ner Weg, auf dem man der per­sön­li­chen Ver­ant­wor­tung, die durch Mit­ge­fühl erwa­chen könn­te, ent­kom­men kann. Hat man sich für die Pflicht­er­fül­lung ent­schie­den, so ent­geht man auch dem Schmerz, der von dem eige­nen Mit­ge­fühl her­vor­ge­ru­fen wer­den könn­te. Ein so von der Pflicht beses­se­ner Mensch ist sogar dazu bereit, in treu­er Pflicht­er­fül­lung zu ster­ben – und die­se abs­trak­te Idee hält er für Verantwortlichkeit.

Gehor­sam wird dann zum eigent­li­chen Sinn des Lebens. Es sei an die Kriegs­ver­bre­cher erin­nert, die die­se Ent­schul­di­gung oft vor­brin­gen. Sie soll­ten uns end­lich die Augen öff­nen für die wah­re Bedeu­tung jeder Art von Gehor­sam. Unter dem Deck­man­tel des Befehls gescha­hen alle Arten von Grau­sam­kei­ten und Mord­ta­ten, ohne daß einer die Ver­ant­wor­tung dafür hat über­neh­men müs­sen. In einem gewis­sen Sinn ist die­se Ent­schul­di­gung sogar rich­tig: Die eige­ne See­le hat­te nichts damit zu tun, sie wur­de außer Reich­wei­te des­sen gehal­ten, dem man gehor­sam war. Die­ser trug schließ­lich die Ver­ant­wor­tung. Unter die­ser Vor­aus­set­zung fällt es sol­chen Men­schen auch nicht schwer, die Her­ren zu wechseln.
Nicht selbst die Ver­ant­wor­tung zu tra­gen ist Bestand­teil der Grund­lü­ge. Sie ver­deckt, was die ursprüng­li­che Ent­schei­dung – die Lebens­ent­schei­dung – war: näm­lich sich mit der Unter­wer­fung abzu­fin­den und sein inne­res Leben auf­zu­ge­ben, um an der Macht zu par­ti­zi­pie­ren. An genau die­sem Punkt fällt die Ent­schei­dung dar­über, ob ein Mensch Selbst­ver­ant­wor­tung und die Ver­ant­wor­tung ande­ren gegen­über entwickelt.

Am 27. März 1979 wur­de wäh­rend einer poli­ti­schen Demons­tra­ti­on in der Schweiz ein Schrift­stel­ler von zwei Poli­zis­ten fest­ge­nom­men und zusam­men­ge­schla­gen. Einer der Poli­zis­ten sag­te bei der spä­te­ren Gerichts­ver­hand­lung: »Was wol­len Sie denn von mir? Ich habe mein Leben lang gehorcht, als Kind, als Schü­ler, in der Aus­bil­dung, als Sol­dat und nun als Poli­zist. Ich habe nur mei­ne Befeh­le ausgeführt.«
Hier inter­es­siert nicht so sehr die Tat­sa­che, daß der Poli­zist dann vor Gericht für sich in Anspruch nahm, »auf Befehl« gehan­delt zu haben, son­dern daß er die Ent­wick­lungs­ge­schich­te des Gehor­sams vor­führ­te: Man wächst damit auf, daß man gehor­sam sein muß, nicht aber damit, daß man selbst – und für sich selbst – den­ken und füh­len kann. Und es bleibt ver­bor­gen, daß die­se Ein­übung genau das her­vor­ruft, wovor die Gesell­schaft Angst hat: näm­lich Destruk­ti­vi­tät – vor der sie sich ver­geb­lich durch die Ein­übung in Gehor­sam zu schüt­zen versucht.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Der chro­nisch Ver­bit­ter­te bemerk­te sei­ne Krank­heit nur ein­mal in der Woche: am Sonn­tag­nach­mit­tag. Dann, wenn weder sei­ne Arbeit noch die Rou­ti­ne ihm hal­fen, die Sym­pto­me zu lin­dern, bemerk­te er, daß irgend etwas nicht stimm­te. Denn der Frie­den die­ser Nach­mit­ta­ge war die reins­te Höl­le, die Zeit ver­ging nicht, und er war stän­dig gereizt. Doch dann wur­de es wie­der Mon­tag, und der Ver­bit­ter­te ver­gaß sei­ne Sym­pto­me, auch wenn er schimpf­te, daß er nie­mals Zeit hät­te, sich aus­zu­ru­hen, und sich dar­über beklag­te, daß die Wochen­en­den immer so schnell ver­gin­gen. Die­se Krank­heit hat­te jedoch einen Vor­teil. Sie war gesell­schaft­lich gese­hen bereits zur Regel gewor­den. Der größ­te Teil der Ver­bit­ter­ten konn­te drau­ßen wei­ter­le­ben, ohne die Gesell­schaft zu bedro­hen, da sie wegen der Mau­ern, die sie um sich errich­tet hat­ten, voll­kom­men iso­liert waren, obwohl es so aus­sah, als näh­men sie am sozia­len Leben teil.
(Pau­lo Coel­ho – Vero­ni­ka beschließt zu sterben)

Who are you? What a sad thing you are! Unable to ans­wer even such a simp­le ques­ti­on wit­hout fal­ling back on refe­ren­ces, and genea­lo­gies, and what other peo­p­le call you! Have you not­hing of your own? Not­hing to stand on that is not pro­vi­ded, defi­ned, delinea­ted, stam­ped, sanc­tion­ed, num­be­red and appro­ved by others?

Direkt­link: Teil 1, Teil 2

Eine der phi­lo­so­phischs­ten Sze­nen aus Baby­lon 5, abso­lut gran­di­os gespielt von Way­ne Alexander.

Will man sich davon über­zeu­gen, daß die ver­bor­gens­te und spe­zi­fischs­te Funk­ti­on des Bil­dungs­sys­tems in der Tar­nung sei­ner objek­ti­ven Funk­ti­on, das heißt der objek­ti­ven Wahr­heit sei­ner Rela­ti­on zur Struk­tur der Klas­sen­be­zie­hun­gen steht, braucht man nur einem kon­se­quen­ten Bil­dungs­pla­ner zuzu­hö­ren, wenn er nach dem sichers­ten Mit­tel fragt, um von vorn­her­ein die Schü­ler aus­zu­le­sen, die schu­li­schen Erfolg ver­spre­chen, und dadurch die tech­ni­sche Ren­ta­bi­li­tät des Bil­dungs­sys­tems zu stei­gern. Er muß sich die Fra­ge nach den Cha­rak­te­ris­ti­ka der betref­fen­den Kan­di­da­ten stel­len: „In einer Demo­kra­tie kön­nen die mit öffent­li­chen Mit­teln unter­hal­te­nen Insti­tu­tio­nen nicht unmit­tel­bar und offen auf­grund bestimm­ter Cha­rak­te­ris­ti­ka aus­le­sen. Sinn­vol­ler­wei­se müß­te man Cha­rak­te­ris­ti­ka wie Geschlecht, sozia­le Her­kunft, Dau­er der Schul­zeit, Aus­se­hen, Aus­spra­che und Into­na­ti­on, den sozio-öko­no­mi­schen Sta­tus der Eltern und das Pres­ti­ge der zuletzt besuch­ten Schu­le berück­sich­ti­gen (…). Aber selbst wenn man zei­gen könn­te, daß die Stu­den­ten nie­de­rer sozia­ler Her­kunft mit gro­ßer Wahr­schein­lich­keit schlech­te Stu­di­en­re­sul­ta­te erzie­len, wäre eine offen und unmit­tel­bar gegen die­se Kan­di­da­ten gerich­te­te Aus­le­se­po­li­tik untrag­bar. Den­noch weiß man, daß die­ser Fak­tor indi­rekt einen Ein­fluß aus­übt, der in den schlech­ten Ergeb­nis­sen der Abschluß­ex­ami­na oder in ande­ren Eigen­schaf­ten zum Aus­druck kommt“ (R. K. Kel­sall). Kurz, die ver­geu­de­te Zeit (und das ver­geu­de­te Geld) ist zugleich der Preis für die Ver­schleie­rung der Rela­ti­on zwi­schen sozia­ler Her­kunft und Stu­di­en­erfolg; denn, woll­te man bil­li­ger und schnel­ler voll­zie­hen, was das Sys­tem ohne­hin leis­tet, wür­de man eine Funk­ti­on offen­le­gen und damit hin­fäl­lig machen, die nur im ver­bor­ge­nen wir­ken kann. Das Bil­dungs­we­sen legi­ti­miert die Macht­über­ga­be von einer Gene­ra­ti­on auf die ande­re immer um den Preis einer Ver­geu­dung von Geld und Zeit, indem es die Rela­ti­on zwi­schen dem sozia­len Aus­gangs- und End­punkt des Bil­dungs­gangs mit­tels eines Berech­ti­gungs­ef­fekts kaschiert, der durch die demons­tra­ti­ve und oft hyper­bo­li­sche Län­ge des Bil­dungs­gangs ermög­licht wird. Die ver­lo­re­ne Zeit ist kein blo­ßes Ver­lust­ge­schäft, da sie einer Trans­for­ma­ti­on der Ein­stel­lung zum Sys­tem und sei­nen Sank­tio­nen dient, die uner­läß­lich ist, damit das Sys­tem funk­tio­nie­ren und alle sei­ne Funk­tio­nen erfül­len kann.
(Pierre Bour­dieu / Jean-Clau­de Pas­se­ron – Die Illu­si­on der Chancengleichheit)

In der Regio­nal­bahn, eine wah­re Bege­ben­heit. Zwei älte­re Her­ren betre­ten den Dop­pel­stock­wa­gen und suchen sich einen Sitz­platz im obe­ren Bereich:

#1: Das sind doch schö­ne Plät­ze. Ich mag es hier oben.

#2: Aber du weißt: Wenn man erst ein­mal oben ist …

#1: … will man nicht wie­der runter?

#2: Das auch. Vor allem aber will man immer höher. Wie Schil­ler schon sag­te: »Stre­ben wir nicht all­zu hoch hin­auf, daß wir zu tief nicht fal­len mögen«.

#1: Nun, das ist eben Risi­ko. Ich glau­be, risi­ko­be­wuss­te Men­schen sit­zen oben, anstatt unten in der Mas­se unterzugehen.

#2: Aber man braucht die da unten, um sich hier oben bes­ser füh­len zu können.

PAU­SE

#1: Ich mag die Aus­sicht hier oben. Man sieht so weit. Unten sieht man nur Büsche.

#2: Man sieht viel­leicht mehr, aber sieht man auch besser?

#1: Ich den­ke schon. Man kann ande­ren bes­ser hel­fen, wenn man oben ist. Man hat mehr Mög­lich­kei­ten und einen bes­se­ren Überblick.

#2: Da habe ich ande­re Erfah­run­gen: Oben sieht man über alles hin­weg. Solan­ge die von unten nicht nach oben kom­men, nimmt man sie nicht wahr.

#1: Da hast du Recht. Aber es scheint, die haben sich mit ihrem Platz da unten abgefunden.

#2: Viel­leicht weil sie noch nie oben waren.

#1: Das kann sein.

Fazit: So ein­fach kann man die Gesell­schaft grob zusam­men­fas­sen. Wäh­rend ges­tern noch vom so genann­ten Fahr­stuhl­ef­fekt gespro­chen wur­de, kommt es nun durch Auf­lö­sung der Mit­tel­schicht zur Doppelstockwagen-Gesellschaft.

You never chan­ge things by fight­ing the exis­ting rea­li­ty. To chan­ge some­thing, build a new model that makes the exis­ting model obsolete.
Buck­mins­ter Fuller

Eines der wich­tigs­ten Prin­zi­pi­en, das man erler­nen soll­te, wenn man sich – ob als Sozio­lo­ge oder ganz all­ge­mein – mit gesell­schaft­li­chen Phä­no­me­nen aus­ein­an­der­setzt und dabei Argu­men­ten, Sta­tis­ti­ken, Erklä­run­gen, Beschrei­bun­gen, Insti­tu­tio­nen, Tra­di­tio­nen oder Hand­lungs­wei­sen begeg­net, die auf den ers­ten Blick plau­si­bel und ein­leuch­tend erschei­nen, fasst fol­gen­de Aus­sa­ge recht prä­gnant zusammen:

I’m try­ing to break you of the habit of auto­ma­ti­cal­ly say­ing, „Yes, this makes sen­se. I’ll accept it.“ I’m try­ing to train you to pau­se and say, „Yes, this seems to make sen­se. But does it?“
(Dani­el Quinn – If They Give You Lined Paper, Wri­te Sideways)

Wir sind es gewohnt, ein der­art skep­ti­sches Ver­hal­ten an den Tag zu legen, wenn uns etwas ein wenig merk­wür­dig, zwei­fel­haft oder gar falsch vor­kommt. Weit­aus span­nen­der, weil grö­ße­ren Erkennt­nis­ge­winn ver­spre­chend, ist es aller­dings, die­ses Ver­hal­ten auch und gera­de bei den­je­ni­gen Phä­no­me­nen und Mecha­nis­men anzu­wen­den, die uns auf den ers­ten Blick, aus Gewohn­heit oder auf­grund des gesun­den Men­schen­ver­stands als durch­aus ver­nünf­tig erschei­nen – weil sie es näm­lich oft gar nicht sind, son­dern bloß so erschei­nen, da sie nie in Fra­ge gestellt werden.

Die ers­te Hand­lung des For­schers ist, die Fra­gen des gesun­den Men­schen­ver­stands (…) zu destru­ie­ren, sie völ­lig anders neu zu stellen.
(Pierre Bour­dieu – Was anfan­gen mit der Sozio­lo­gie?, in: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht)