Der andere Trick besteht darin, dem Partner ebenso heftige wie nebelhafte Vorwürfe zu machen. Wenn er dann wissen will, was Sie eigentlich meinen, können Sie die Falle mit dem zusätzlichen Hinweis hermetisch schließen: »Wenn du nicht der Mensch wärest, der du bist, müßtest du mich nicht erst noch fragen. Der Umstand, daß du nicht einmal weißt, wovon ich spreche, zeigt klar, welch‘ Geistes Kind du bist.« Und a propos Geist: Im Umgang mit sogenannten Geisteskranken wird diese Methode seit längster Zeit mit großem Erfolg angewendet. In den seltenen Fällen nämlich, in denen der Betreffende es wagt, klipp und klar darüber Auskunft zu verlangen, worin in der Sicht der anderen seine Verrücktheit denn bestehe, läßt sich diese Frage als weiterer Beweis für seine Geistesgestörtheit hinstellen: »Wenn du nicht verrückt wärest, wüßtest du, was wir meinen.« Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich – denn hinter einer Antwort dieser Art steht Genialität: Der Versuch, Klarheit zu schaffen, wird flugs ins Gegenteil umgedeutet. Der andere gilt also für verrückt, solange er die Beziehungsdefinition »Wir sind normal, du bist verrückt« stillschweigend hinnimmt, und für verrückt, wenn er sie in Frage stellt. Nach diesem erfolglosen Exkurs in die menschliche Umwelt kann er entweder sich in hilfloser Wut die Haare ausraufen, oder in Schweigen zurückfallen. Aber auch damit beweist er nur zusätzlich, wie verrückt er ist, und wie recht die anderen schon immer hatten. (…) In den Etablissements, die sich für die Behandlung solcher Zustände für kompetent halten, läßt sich diese Taktik mit Erfolg anwenden. Man stellt es dem sogenannten Patienten zum Beispiel frei, nach eigenem Ermessen zu entscheiden, ob er an den Gruppensitzungen teilnehmen will oder nicht. Lehnt er dankend ab, so wird er hilfreich-ernsthaft aufgefordert, seine Gründe anzugeben. Was er dann sagt, ist ziemlich gleichgültig, denn es ist auf jeden Fall eine Manifestation seines Widerstandes und daher krankhaft. Die einzige ihm offenstehende Alternative ist also die Teilnahme an der Gruppentherapie, doch darf er nicht anmerken lassen, daß ihm ja nichts anderes übrigbleibt, denn seine eigene Lage so zu sehen, bedeutete immer noch Widerstand und Einsichtslosigkeit. Er muß also »spontan« teilnehmen wollen, gibt aber gleichzeitig mit seiner Teilnahme zu, daß er krank ist und Therapie braucht. In großen Gesellschaftssystemen mit Irrenhauscharakter ist diese Methode unter dem respektlos-reaktionären Namen Gehirnwäsche bekannt.
(Paul Watzlawick – Anleitung zum Unglücklichsein)
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Sag ja zum Leben, sag ja zum Job, sag ja zur Karriere, sag ja zur Familie. Sag ja zu einem pervers großen Fernseher. Sag ja zu Waschmaschinen, Autos, CD-Playern und elektrischen Dosenöffnern. Sag ja zur Gesundheit, niedrigem Cholesterinspiegel und Zahnzusatzversicherung. Sag ja zur Bausparkasse, sag ja zur ersten Eigentumswohnung, sag ja zu den richtigen Freunden. Sag ja zur Freizeitkleidung mit passenden Koffern, sag ja zum dreiteiligen Anzug auf Ratenzahlung in hunderten von Scheiß-Stoffen. Sag ja zu Do-It-Yourself und dazu, auf deiner Couch zu hocken und dir hirnlähmende Gameshows reinzuziehen und dich dabei mit scheiß Junkfraß vollzustopfen. Sag ja dazu, am Schluss vor dich hinzuverwesen, dich in einer elenden Bruchbude vollzupissen und den missratenen Ego-Ratten von Kindern, die du gezeugt hast, damit sie dich ersetzen, nur noch peinlich zu sein. Sag ja zur Zukunft, sag ja zum Leben. (…) Bald bin ich genau wie ihr: Job, Familie, pervers großer Fernseher, Waschmaschine, Auto, CD und elektrischer Dosenöffner, Gesundheit, niedriger Cholesterinspiegel, Krankenversicherung, Eigenheim-Finanzierung, Freizeitkleidung, dreiteiliger Anzug, Heimwerkertum, Gameshow, Junkfraß, Kinder, Spazierengehen im Park, geregelte Arbeitszeit, Fitnesscenter, Autowaschen, ’ne Menge Pullover, traute Weihnacht mit der Familie, inflationssichere Rente, Steuerfreibeträge, Abfluss sauber machen, über die Runde kommen, mich auf den Tag freuen, an dem ich sterbe.
(Trainspotting)
Menschen sind überall gleich. Ich kam in diese Stadt und ich tat es ohne die geringsten Erwartungen. Es war etwas Neues für mich, eine ungewohnte Umgebung, und diese Stadt war so gut wie jede andere. Selbst wenn ich es mir zunächst nicht eingestand, war es für mich ein Ort der Hoffnung, ein Ort der Träume, ein Ort der Illusionen.
Der erste Eindruck überraschte mich. Man nahm mich freundlich auf, einfach so, ohne Bedingungen und ohne jede Umschweife. Es war für diese Menschen nichts Ungewöhnliches, einen Neuen, einen Fremden in ihren Reihen zu begrüßen. Das unterschied diesen Ort von beinahe allem, was ich kannte, denn wie schwer, wenigstens aber aufwändig war es doch in der Regel, mit offenen Armen als Fremder in eine bestehende Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Nicht so hier. Einwohner kamen und gingen, und manchmal blieben sie nur wenige Wochen. Es war eine Freundlichkeit, eine Selbstverständlichkeit, die mich begeisterte. Den schmalen Grat zwischen kindlichem Vertrauen und unbarmherziger Distanz pflegte ich stets mit einer Art von Grundvertrauen zu beschreiten, das ausgleichend begrenzt wurde durch eine über die Jahre hinweg gewachsene Menschenkenntnis, derer es bedarf, um nicht der blinden Naivität anheimzufallen.
Im Allgemeinen vertraute ich selbst völlig unbekannten Menschen, solange sie mir keinen Grund lieferten, daran zu zweifeln. Was wäre die Alternative gewesen. Gesundes Misstrauen ist ein Widerspruch in sich, so etwas gibt es nicht, und lieber wollte ich bisweilen in meinem Vertrauen enttäuscht werden, als mit paranoider Grundhaltung durch die Welt zu gehen, denn Misstrauen fördert unablässig Misstrauen.
Ich fühlte mich hier zuhause. Niemanden interessierte, warum ich gekommen war. All die menschlichen, nur allzu menschlichen Kategorien, die bisweilen dafür sorgten, Keile zwischen die Individuen zu treiben, schienen hier ohne Bedeutung zu sein. Alter, Geschlecht, Herkunft, Aussehen oder Status, Erfolg, Bildungsgrad und noch die verrücktesten Interessen waren für das Miteinander dieser Menschen allem Anschein nach völlig nebensächlich, zumindest ließen sie sich nicht im geringsten anmerken, darauf irgendeinen Wert zu legen. Es war zu gut, um wahr zu sein. Es war nicht wahr – aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Ich hätte es wissen müssen, aber ich tat es nicht, denn wer stellt schon Fragen, wenn ihm Einlass in das Paradies geboten wird.
Nun, da ich ihn verlasse, muss ich rückblickend auf diesen Ort leider sagen, dass die Enttäuschung überwiegt. Es gab sehr viel Freude, schöne Momente, gute Erfahrungen, aber letztlich auch ein Übermaß an Frustration. Viele Monate habe ich hier damit verbracht, Hoffnungen und Träumen nachzujagen, die am Ende fast alle enttäuscht wurden. Ich komme mir so dumm vor. Alles ließ ich stehen und liegen, sogar meine Arbeit vernachlässigte ich in all der Zeit, weil es für mich nichts Wichtigeres gab auf der Welt als diese Menschen, auf die ich meine Hoffnungen setzte. Und für was? Was dachte ich zu sehen? Menschen, die nicht so sind wie an jedem anderen Ort der Welt? Illusionen! Wieso also sollte ich bleiben.
Vielleicht mag es auf den ersten Blick paradox erscheinen, mein Grundvertrauen von einer gewissen Art Distanz begleiten zu lassen, die aber gar kein Widerspruch, sondern eher Gegengewicht ist. Mit einem Großteil der Menschen, die ich im Laufe meiner Tage kennenlerne, kann ich, so schwer es mir das Leben auch manchmal macht, in der Regel nur wenig anfangen, darum vermeide ich allzu nahen Kontakt mit ihnen, wo ich das kann. Das gilt für die Einwohner dieser Stadt wie für die Menschen im Gesamten. Sie können nichts dafür, sie sind nicht besser oder schlechter als ich, sie haben einfach nur eine andere Vorstellung von der Welt, eine Vorstellung, die ich nicht teile. Sie legen Verhaltensweisen an den Tag, die so normal, so menschlich sind, und doch meide ich sie dafür. Sie verbreiten Lügen und bringen Gerüchte in Umlauf, sie hetzen sich gegeneinander auf, sie lästern über ihren Nächsten, sobald er nur für einen Moment außer Hörweite gegangen ist. Sie verschwören sich. Sie fragen nicht nach, wenn sie böses Geschwätz über einen anderen hören, ob es denn überhaupt stimmt, sie glauben es direkt. Sie korrumpieren. Sie sind ständig am Kämpfen, am Streiten, konkurrieren um Macht, Prestige, Anerkennung und Beifall. Sie sind selbstverliebt, arrogant und Heuchler. Ständig heucheln sie. Sie sind freundlich zu jedem, ja, doch was heißt das schon, was hilft das, wenn es nur gespielte Freundlichkeit ist. Sie legen das Stilett nie aus der Hand. Am Vormittag können sie dir sagen, wie gerne sie dich haben und was sie an dir schätzen, dich am Nachmittag vor deinen Freunden schlechtreden, um dann am Abend mit dir ein fröhliches Gespräch zu führen, wie verlogen alle anderen doch seien. Nichts davon tun sie aus Boshaftigkeit, und das ist das wirklich Traurige daran. Lernt man die Menschen in dieser Stadt ein wenig kennen, muss man feststellen, dass die meisten von ihnen genauso sind, genauso normal. Das macht sie nicht zu schlechten Menschen, aber es macht sie zu Menschen, denen ich aus dem Weg gehe. Vielen gehe ich aus dem Weg.
Doch es gab Ausnahmen, es gibt sie überall, man muss sie bloß finden. Diejenigen, die anders sind. Menschen, die sich die Tatsache vor Augen führen, auch selbst nicht immun gegenüber derartigen Verhaltensweisen zu sein, die aber versuchen, sie auf ein Minimum zu reduzieren; die ihr Verhalten kritisch reflektieren, die ein Miteinander statt eines Gegeneinanders herzustellen bestrebt sind. Menschen, die sich nicht andauernd in den Mittelpunkt zu stellen versuchen, die nicht herumschreien, um Lorbeeren noch für die kleinsten Taten ernten zu wollen. Menschen, die so aufrichtig wie freundlich sind und das nicht bloß spielen, weil sie sich etwas davon erhoffen.
Viele derer, die auf den ersten Blick als solche Ausnahmen erscheinen, stellen sich bei genauerer Betrachtung als Schauspieler heraus, als Menschen, die sich akkurat inszenieren, als wären sie zuvorkommende, freundliche, aufrichtige Personen. Bohrt man etwas tiefer, offenbart sich allerdings, es handelt sich um Lügner. Geschickte Lügner zwar, gute Schauspieler zweifellos, und dennoch Lügner. Sie spielen das alles und dieses Spiel ist ihr Leben. Es sind Egozentriker, Geltungssüchtige und Selbstverliebte. Sie sind genau wie der Großteil derer, auf die sie aus ihrer Rolle hinaus verächtlich hinabblicken, aber sie haben gelernt, das zu überspielen, und das machen sie teilweise verdammt gut.
Die echten Ausnahmen aber, jene, die nicht bloß Schauspiel betreiben, waren allesamt nette Menschen und darüber war ich froh. Sie waren aufrichtig und nett, und viele von ihnen verfügten über eine recht unkomplizierte, unverbindliche Vorstellung von Freundschaft. Genau dies war jedoch gleichzeitig das Problem, war mir Grund, weshalb ich mich nicht mit ihnen anfreunden wollte. Ihre Vorstellung von Freundschaft entsprach nicht der meinen, einer Vorstellung, die manchem, den ich sah, vielleicht fremd sein mochte, weil er unzählige Freundschaften pflegte – und wenn man bloß mit jemandem in einer Bar ein Bier trank, war er sofort ein Freund. Das mochte für andere funktionieren, für mich allerdings nicht.
Seit jeher nannte ich nur wenige Menschen wirklich Freunde, doch für jene, die ich dazu erkoren hatte, war ich es von ganzem Herzen, mit all meiner Energie. Diese netten, unverbindlichen Leute – sollte ich auch sie allesamt zu meinen Freunden zählen? Würde das funktionieren? Und dann? Auch meine Tage haben nur vierundzwanzig Stunden, auch ich verfüge nur über begrenzte Energie. Ich wollte keine netten, unverbindlichen Leute kennenlernen, die ich zu meinen Freunden hätte machen können, weil das nur bedeutet hätte, das kostbare Engagement für jeden meiner Freunde zu reduzieren, reduzieren zu müssen, breiter zu verteilen, sodass am Ende jeder weniger davon bekäme. Das wollte ich nicht. Machte mich das in ihren Augen zu einem Sonderling? Vermutlich. Behandelte ich diese netten, unverbindlichen Menschen ungerecht? Vielleicht. Aber lieber das, als dass ich sie zu Freunden gemacht hätte, die keine waren, zu Freundschaften, die weder sie noch mich befriedigen würden.
Aber es gab Ausnahmen unter den Ausnahmen, ganz besondere Menschen. Menschen, für die sich jedes noch so große Engagement lohnte; die so unglaublich kostbar waren, dass ich sie nie wieder aus den Augen verlieren wollte; die mich berührten, nicht nur in Gedanken, sondern tief im Inneren. Menschen, die kennenzulernen mir war, als würden sich Welten verbinden. Es war der enttäuschendste Teil. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Frauen, denn unglücklicherweise fielen die vermeintlichen Ausnahmen unter den Männern vorwiegend in die Kategorie Schauspieler, denen es am Ende doch nur um ihr Ego ging, um Macht und Geltungsdrang, auf die eine oder auf die andere Art. Leider. Mit ihnen wäre es einfacher.
Was war nun das Problem mit diesen Ausnahmen unter den Ausnahmen? Da gab es also jemanden, der besonders erschien, zumindest für mich. Jemanden, der kein Schauspieler war. Jemanden, der ein ähnliches Verständnis vom Leben und der Welt aufwies. Jemanden, der unbedingtes Vertrauen verdiente und jemanden, mit dem das gegenseitige Verstehen so einfach erschien, mit Worten oder auch ohne, weil wir uns schon seit ewiger Zeit zu kennen glaubten. All die Schutzvorrichtungen, die man sich im Laufe eines Lebens so mühsam erbaut, um andere Menschen auf angebrachter Distanz zu halten, um sich nicht zu verausgaben, um allzu schwere Verletzungen zu vermeiden, baute ich ab. Plötzlich stand da ein Geschenk vor den Toren meiner Festung, ein hölzernes Pferd, und ich holte es bereitwillig herein.
Irgendwann aber übertraten wir eine Grenze, eine unsichtbare Linie, und es wuchsen Gefühle in einem von uns. Anstatt in Unendlichkeit zu enden, kenterte das Miteinander durch dieses ungleich verteilte Gewicht. Es war Himmel und Hölle zugleich, es machte alles kompliziert und vieles kaputt, das so wunderbar begonnen hatte. Stell dir vor, du wärst Archäologe und würdest an dem einen Fund arbeiten, den du schon dein ganzes Leben lang gesucht hast, auf den du entgegen aller Wahrscheinlichkeit unter all den verbergenden Schichten erst einmal stoßen musstest, doch plötzlich ist da ein nicht zu unterdrückendes Kribbeln in deiner Nase, du musst niesen, ein ganz normales menschliches Regen, du rutschst mit dem Werkzeug ab und alles ist ruiniert. So kam ich mir vor. Nichts vermag je zu ersetzen, was dadurch verloren ging, das wirklich Begehrte, das überaus Seltene, das unbedingt Kostbare. Jene Menschen, die für immer im Gedächtnis bleiben, die für immer ein Teil des eigenen Lebens sein werden, ob sie nun anwesend sind oder nicht.
Momentan fühlt es sich so an, als steckte ich im Treibsand. Je mehr ich mich bewege, desto trostloser wird die Situation. Vielleicht ist es also am besten, sich erst einmal gar nicht zu bewegen. Das gesamte letzte Jahr verbrachte ich in dieser Stadt mit dem unheilvollen Versuch, Träumen, Hoffnungen und letztlich Illusionen hinterherzujagen, die sich am Ende allesamt in Luft auflösten. Meine gesamte Energie, emotional wie auch psychisch, steckte ich in diese Menschen, nur um alles, was ich aufgebaut hatte, schließlich zerstört vorzufinden, entweder durch sie, weil sie nicht waren, was sie zu sein schienen, oder durch den Makel der Emotion. Es endete immer wieder gleich, auch wenn es nie endete. Heute bin ich leer, enttäuscht, von anderen und von mir selbst, erschöpft und emotional am Boden. Diese Stadt hat mich ausgelaugt, ich kann nicht mehr. Jedenfalls nicht hier. Wie ein havariertes Raumschiff schwebe ich manövrierunfähig irgendwo in der Leere des Universums. Nur die Lebenserhaltungssysteme sind noch in Betrieb, doch vielleicht bekomme ich demnächst auch wieder Energie für den Antrieb. Man sagt, es würde alles besser, wenn Gras über eine Sache gewachsen sei. Hier jedoch wächst kein Gras, der Boden ist ausgelaugt. Noch weniger als zuvor weiß ich, wann es sich lohnt, auf Menschen einzugehen, denn ich mag sie entweder gar nicht oder zu sehr, doch ich weiß, dass es nicht mein Vertrauen war, das mich enttäuschte.
Menschen sind überall gleich. Entzaubert, ohne Hoffnung und mit verblassten Träumen verlasse ich diese Stadt so leise, wie ich sie betrat. Sie war für mich ein Ort der Hoffnung, ein Ort der Träume, ein Ort der Illusionen. Nach all diesen Erfahrungen komme ich mir vor wie ein Außerirdischer, der mit der hoffnungsvollen Mission an diesen Ort geschickt wurde, so viel wie möglich über die dominante Spezies auf diesem Planeten herauszufinden, um alles mit ihnen zu teilen, und der nun mit der Botschaft zurückkehren muss, dass es sich nicht lohnt, mit diesen Wesen Kontakt aufzunehmen. Nicht mit deaktiviertem Schutzschild.
Der Journalismus ist tatsächlich einer der Orte, an dem die politische Magie entsteht und bestätigt wird. Damit Magie entsteht (…), braucht es eine Menge sozialer Voraussetzungen: Zauberer, Assistenten, Publikum usf. Und auch die Welt der politischen Magie macht eine Reihe von Teilnehmern erforderlich, nicht nur Parlamente und Abgeordnete: Journalisten, Umfrageinstitute, Kommunikationsberater – auch Intellektuelle, oder genauer: Journalisten, die sich als Intellektuelle aufspielen.
Man spricht (…) über die Rolle der Journalisten im Golfkrieg. Man spricht aber nicht – oder zuwenig – über den Alltag, über das, was der Journalismus alltäglich macht, wenn er eigentlich nur funktioniert, um die Reden, die die Politiker füreinander halten, zu verstärken und ihnen einen Resonanzboden zu geben. Heute reden die Politiker nämlich eigentlich zu niemand anderem mehr als zu sich selbst. Sie reden, um nichts zu sagen, und innerhalb stundenlanger, nichtssagender Ausführungen fällt dann ein Halbsatz, der gezielt eingesetzt wird, damit er von den Journalisten verstanden, aufgenommen und als Spielball in das politische Spiel eingebracht wird. Das Ganze hat Ähnlichkeit mit einem Schachspiel, bei dem gewiefte Spieler ihre Strategien erproben. Und wie ein Schachspiel schottet sich das Machtspiel nach außen ab, wird hermetisch, Objekt »kennerischer« Kommentare von Insidern, gesellschaftlich belanglos. Die Politiker sprechen zueinander, sie sprechen nicht zur Gesellschaft. Sie geben sich den Anschein, zur Gesellschaft zu sprechen.
(Pierre Bourdieu – Politik und Medienmacht, in: Der Tote packt den Lebenden)
Everything a lie. Everything you hear, everything you see. So much to spew out. They just keep coming, one after another. You’re in a box. A moving box. They want you dead, or in their lie… Only one thing a man can do – find something that’s his, make an island for himself.
(The Thin Red Line)
»Aoki war ein sehr guter Schüler, er hatte fast immer die beste Note. Ich ging auf eine private Jungenschule, und Aoki war ziemlich beliebt. Die Klasse schätzte ihn, und er war der Liebling der Lehrer. Aber ich konnte seine pragmatische Einstellung und seine intuitiv berechnende Art von Anfang an nicht ausstehen. Wenn man mich fragte, was mich genau an ihm störte, müßte ich passen. Ich wüßte kein Beispiel. Ich weiß nur, daß ich ihn durchschaute. Ich konnte diese Egozentrik und Überheblichkeit, die er ausstrahlte, instinktiv nicht ertragen. Wie bei jemandem, dessen Körpergeruch man physisch nicht erträgt. Aber Aoki war klug und verstand es, diesen Geruch geschickt zu verbergen. Die meisten meiner Klasse hielten ihn für gerecht, bescheiden und freundlich. Das zu hören empörte mich – doch ich sagte natürlich nichts.«
(…)
Im Gegensatz [zu mir] stand Aoki mit allem, was er tat, im Mittelpunkt – wie ein weißer Schwan auf einem dunklen See. Er war der Star der Klasse, der, auf den alle hörten. Er war klug, das mußte auch ich zugeben. Er war schnell. Er wußte im voraus, was der andere wollte oder dachte, und verstand es, dementsprechend zu reagieren. Alle bewunderten ihn. Aber ich war nicht beeindruckt. Mir war Aoki zu oberflächlich. Wenn er ein kluger Kopf war, machte es mir nichts, kein kluger Kopf zu sein. Er war scharfsinnig, aber er besaß keine Persönlichkeit. Er hatte nichts mitzuteilen. Wenn alle ihn bestätigten, war Aoki glücklich. Er war hingerissen von seinen eigenen Fähigkeiten. Er drehte sich immer nach dem Wind. Er hatte keine Substanz. Aber niemand erkannte das.
(…)
»Es sind nicht Menschen wie Aoki, vor denen ich Angst habe. Solche Menschen gibt es überall. Was das angeht, habe ich resigniert. Wenn ich ihnen begegne, versuche ich möglichst nichts mit ihnen zu tun zu haben. Ich gehe ihnen aus dem Weg. Das ist nicht besonders schwer. Ich erkenne sie sofort. Zugleich bewundere ich Leute wie Aoki aber auch. Nicht jeder besitzt die Fähigkeit, so lange stillzuhalten, bis die Gelegenheit sich ergibt, und sie dann sicher zu ergreifen; die Fähigkeit, sich geschickt der Gefühle anderer zu bemächtigen und sie gegen jemanden aufzuhetzen. Ich hasse diese Charakterzüge zwar so sehr, daß ich kotzen könnte, dennoch sind es Fähigkeiten. Das muß ich anerkennen.
Wovor ich aber wirklich Angst habe, sind Leute, die Typen wie Aoki alles blind glauben. Diese Leute, die selbst nichts zuwege bringen, nichts verstehen, die sich von den bequemen und leicht übernehmbaren Meinungen anderer leiten lassen und nur in Gruppen auftreten. Diese Leute, die nie auf die Idee kämen, daß sie vielleicht irgend etwas falsch machen könnten. Denen niemals auffällt, daß sie einen anderen sinnlos und brutal verletzen könnten. Sie übernehmen keine Verantwortung für das, was sie tun. Vor solchen Leuten habe ich wirklich Angst. Und wenn ich nachts träume, dann von ihnen. In Träumen ist nur das Schweigen. Die Leute in meinen Träumen haben keine Gesichter. Wie eisiges Wasser dringt das Schweigen überall ein.«
(Haruki Murakami – Das Schweigen)
Haruki Murakamis „Das Schweigen“ hat mich fasziniert. Aus verletztem Stolz macht darin Aoki, ein scheinbar umgänglicher, freundlicher, cleverer Schüler, mithilfe seiner Mitschüler, die der charmante Aoki um den Finger gewickelt hat, das Leben des Erzählers zur Hölle. Die Geschichte hat mich fasziniert, weil ich Menschen wie Aoki kenne, immer wieder treffe, im Offline-Leben wie auch im Internet, wo es teilweise noch viel einfacher ist, diese Fähigkeiten erfolgreich zum Einsatz zu bringen und sich darzustellen. Es hat mich gefesselt, weil es mir manchmal nicht viel anders geht als dem Erzähler, wenn ich Menschen treffe, bei denen ich recht schnell durchschaue, dass all ihre Bescheidenheit, Gerechtigkeit und Freundlichkeit bloß aufgesetzt sind, dass sich dahinter berechnende Egozentriker verstecken, Bestätigungssüchtige, die zur Stillung ihrer Sucht auch Schaden anderer Menschen in Kauf nehmen, manchmal sogar gezielt herbeiführen. Die es schaffen, so gut den netten, freundlichen, gerechten, herzlichen Menschen zu spielen, dass ihre Umwelt ihnen diese Maske größtenteils unhinterfragt abkauft und diesen Menschen bereitwillig alles glaubt, von der trügerischen Selbstinszenierung bis hin zu gezielten Lügen, um andere zu diskreditieren.
Auch ich muss zugeben, von dieser Fähigkeit auf eine sehr abstoßende Art beeindruckt zu sein. Menschen, die für ihren Lebensunterhalt lügen und betrügen, stützen sich auf diese Fähigkeit. Werbung und Marketing nutzen sie ebenfalls, genau wie Demagogen und Heiratsschwindler. Eine Fähigkeit, die ich in Anlehnung an die Vorstellung von „dunkler Magie“ als „dunkle Empathie“ bezeichnen möchte. Über Empathie als solche verfügen diese Menschen ohne Zweifel, denn sonst wären sie nicht so gut in dem, was sie tun, in ihrer täuschenden Selbstdarstellung und dem Knüpfen emotionaler Bindungen mit anderen Menschen. Aber es ist Empathie, die einzig dazu dient, die Gefühle anderer zum eigenen Nutzen zu manipulieren.
Genau wie dem Erzähler machen mir diese Menschen selbst keine Angst. Ich kann ihnen aus dem Weg gehen oder kann versuchen, ihre Maskierung in Frage zu stellen und ihr Bühnenbild zum Wackeln zu bringen. Aber auch ich habe Angst vor denen, die darauf hereinfallen, die sich emotional verzaubern und (ver)führen lassen, die solchen Menschen bereitwillig alles glauben, ihre Meinungen übernehmen und sich mitunter sogar instrumentalisieren lassen, ohne irgendetwas zu hinterfragen, womit sie großen Schaden anrichten können.
In all den Diskussionen um die Vor- und Nachteile sowie die realen oder nur projizierten Gefahren sozialer Internet-Dienste vermisse ich bislang einen Aspekt, den ich für sehr zentral und für mit weitreichenden Folgen verbunden halte: Effizienz.
Versteht man beispielsweise Twitter, Facebook oder Formspring als charakteristische Stellvertreter der Social-Media-Dienste, bedeutet dies unterm Strich, die 1:1-Relationen in der Kommunikation zwischen Freunden oder „Freunden“ werden mittels dieser Dienste wesentlich leichter, wesentlich öfter in 1:n-Relationen umgewandelt.
Für einen Dienst wie Formspring, bei dem User anderen Usern Fragen stellen können, auch anonym, die dann inklusive der dazugehörigen Antworten allen anderen Usern zum Lesen zur Verfügung stehen, bedeutet dies konkret: Hat nur ein einziger der User eine Frage an einen bestimmten User gestellt, brauchen sämtliche anderen User dieselbe Frage diesem bestimmten User nicht noch einmal zu stellen. Im Gegenteil: Oft ist zu beobachten, dass es die Antwortenden in der Regel nervt, wenn ein Fragender eine bereits beantwortete Frage noch einmal stellt. Wenn nun beispielsweise ein User in seiner formspring-Karriere ungefähr 500 Fragen beantwortet hat, brauchen alle anderen, die jene Fragen und deren Antworten gelesen haben, diese 500 Fragen und zig Millionen andere Fragen, die zu ähnlichen Antworten geführt hätten, nicht mehr stellen und werden möglicherweise vom Antwortenden sogar darauf hingewiesen, er wolle diese Frage nicht noch einmal beantworten, denn das habe er ja bereits. Schon beim Umgang mit Blogs, Twitter oder Facebook ist bisweilen Ähnliches zu beobachten, sodass es dann mitunter zu Dialogen kommt, die wie folgt verlaufen: „Hab ich dir schon das Neueste erzählt?“ „Nein, aber ich hab’s in deinem Blog/in deinem Tweet/auf Facebook gelesen.“ „Ach so.“
Es ist nicht mehr nötig, jedem der eigenen Freunde die neuen Urlaubsfotos zu zeigen, wenn man sie einfach auf Facebook stellen kann, wo sie jeder bequem ansehen kann, wann immer es beliebt. Die Gespräche mit Freunden über den neuen Partner werden ersetzt durch eine Änderung des Beziehungsstatus, der sofort von allen Freunden zur Kenntnis genommen werden kann, ohne mit jedem von ihnen einzeln darüber sprechen zu müssen. Direkte Kommunikation weicht der Veröffentlichung von Informationen für ein Publikum, so als gebe man eine Pressekonferenz über die eigene Person.
All das bedeutet trotz bewusster Überzeichnung, die Kommunikation verschiebt sich aufgrund der neuen Einfachheit, die diese sozialen Dienste bieten, vom Schwerpunkt ein wenig weg von direkter 1:1-Kommunikation, die aber natürlich nicht verschwindet, hin zu breiteren 1:n-Kommunikationskanälen, was bedeutet, dass es möglich wird, via Facebook, Twitter oder auch Formspring viele Menschen gleichzeitig über seine Aktivitäten, Gedanken, Meinungen und so weiter zu informieren.
Eine ehemalige Kommilitonin hielt StudiVZ gerade deswegen für so praktisch, weil sie dann nicht mehr all ihren Freunden separat (1:1) von Neuerungen in ihrem Leben erzählen müsse, sondern das einfach nur noch ins StudiVZ zu schreiben habe (1:n). Das ist zwar nun in diesem Beispiel ein Extremfall, wenn auch wahr, dennoch lässt sich die allgemeine Tendenz all dieser Dienste damit beschreiben, dass sie objektiv ein Mittel zur Effizienzsteigerung der Kontaktverwaltung darstellen und Redundanz abbauen.
Wenn man fünf Freunden oder „Freunden“ nicht mehr separat erzählen muss, was man gestern gemacht, wen man kennengelernt, was man gekauft oder gesehen hat, sondern das lediglich ein einziges Mal auf einem Blog schreiben oder auf Facebook veröffentlichen muss, wo es alle fünf dann jederzeit nachlesen können, dann habe ich den Umgang mit meinen Freunden optimiert und dessen Effizienz gesteigert, weil ich Redundanzen abgebaut habe. Gleichzeitig erleichtert das den Aufbau eines wesentlich größeren „Freundes“-Kreises und erhöht das eigene »soziale Kapital« (Bourdieu), auf das man zugreifen kann. Zudem erstellt man gewissermaßen sein eigenes Dossier, das man Interessenten an der eigenen Person nur noch in die Hand zu drücken braucht – auch das Kennenlernen oder vielmehr das, was man dann für Kennenlernen hält, wird dadurch optimiert, beschleunigt, vereinfacht und letztlich effizienter. Das Soziale wird zunächst auf Daten reduziert.
Der Begriff der Objektivität ist hier von großer Relevanz. Meine beschreibenden Worte möchten nicht ausdrücken, dass dieser Effekt der Effizienzsteigerung in jedem Fall die subjektive Intention der Nutzer ist, aber er ist dennoch das objektive Resultat, so wie auch niemand mit der subjektiven Intention einkaufen geht, das Wirtschaftssystem zu erhalten oder den Staat mittels Steuern unterstützen zu wollen, während all diese Dinge jedoch gleichzeitig objektives Ergebnis des Einkaufens sind, ganz egal was die subjektive Intention sein mag.
Viele gesellschaftliche oder individuelle Entwicklungen haben teilweise verheerende Nebenfolgen, die uns in den seltensten Fällen wirklich bewusst sind und die wir keineswegs als Intention dieses Handelns anführen würden. Niemand beginnt mit dem Rauchen, weil es so schön gesundheitsgefährdend ist, und auch wenn das nicht subjektive Intention des Rauchens ist, so ist es doch objektiver Effekt. Das gleiche trifft auf Umweltzerstörung zu, da niemand (oder zumindest fast niemand) morgens mit dem Vorhaben aufsteht, heute bewusst die Umwelt zu zerstören, sondern weil es häufig der mehr oder weniger unbewusste Nebeneffekt vieler als völlig selbstverständlich erachteter Handlungsweisen ist, der nur dann überhaupt als Problem begriffen und beseitigt werden kann, wenn man sich dieses Nebeneffekts tatsächlich bewusst wird.
Bei all den Vorteilen, die solche Social-Media-Dienste bieten, ist dies, dieser gesellschaftlich sanktionierte bis bedingte, unter anderem durch prekäre Arbeitsverhältnisse und der Forderung nach zunehmender Mobilität und Flexibilität befeuerte und in Form dieser Dienste recht transparent auftretende Effizienzgesichtspunkt in zwischenmenschlichen Beziehungen, einer dieser unbewussten Nebeneffekte, über den etwas mehr Reflexion vielleicht angebracht wäre, um den Umgang mit diesen Diensten entsprechend bewusster zu gestalten. Letztlich stellt sich nämlich zumindest mir die Frage, in welchem Maße eine solche Effizienzsteigerung des Zwischenmenschlichen überhaupt wünschenswert erscheint und ob größtmögliche Quantität sowie der Gesichtspunkt der Effizienz dem Konzept ernsthafter Freundschaft nicht diametral widersprechen.
Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden durch Leute, die weder das Recht, noch das Wissen, noch die Kraft dazu haben… Regiert sein heißt, bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung versteuert, patentiert, notiert, registriert, erfasst, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, lizensiert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, behindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden. Es heißt, unter dem Vorwand der öffentlichen Nützlichkeit und im Namen des Allgemeininteresses ausgenutzt, verwaltet, geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepresst, getäuscht, bestohlen zu werden; schließlich bei dem geringsten Widerstand, beim ersten Wort der Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht, beleidigt, verfolgt, mißhandelt, zu Boden geschlagen, entwaffnet, geknebelt, eingesperrt, füsiliert, beschossen, verurteilt, verdammt, deportiert, geopfert, verkauft, verraten und obendrein verhöhnt, gehänselt, beschimpft und entehrt zu werden. Das ist die Regierung, das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre Moral.
(Pierre-Joseph Proudhon – Idée générale de la Révolution au dix-neuvième siècle, 1851)
Ein Overkill an Informationen, das Erreichen des eigenen Aufnahmelimits, Überforderung am Arbeitsplatz, das Verzweifeln an gesellschaftlichen Zumutungen, physische Beschwerden – all das spielt keine Rolle, denn man hat sich an den Trott gewöhnt. Man erscheint immer wieder, ob in der Schule oder am Arbeitsplatz, ob auf direkten Befehl oder indirekten Druck – weil man soll. Obwohl man weiß, dass man auch an diesem Abend mit Kopfschmerzen zu Hause ankommen wird; obwohl man weiß, dass man von dem ganzen Kram, der einem im Laufe des Tages abgefordert wird, schon seit langer Zeit genug hat, weil es einfach zu viel, zu nervig, zu belastend ist; obwohl man weiß, man wird noch nicht einmal Gelegenheit haben, um über das nachzudenken, was man mitgenommen, was man erfahren, was man überstanden hat. Überforderung, Erschöpfung, Kollaps, Kapitulation und Scheitern – die Diagnose, sei sie nun von außen herangetragen oder bereits verinnerlicht, läuft in der Regel auf persönliche Defizite hinaus, auf eigene Unzulänglichkeit, weil man mit den Anforderungen nicht klargekommen ist.
Man setzt sich abends auf das heimische Sofa, schaltet den Fernseher ein und sieht einen Werbespot für Kopfschmerztabletten, der exemplarisch das Prinzip der Schuldzuschreibung verdeutlicht: Wer durch die äußeren Umstände Kopfschmerzen bekommt, durch Überforderung, durch Überanstrengung oder Stress, der nimmt eine Kopfschmerztablette und funktioniert danach wieder wie zuvor. Das Problem ist folglich die mangelnde persönliche Funktions- und Belastungsfähigkeit, nicht die äußeren Umstände, die überhaupt erst die Kopfschmerzen verursacht haben. Man hört die Botschaft ganz deutlich, sie schwingt im Hintergrund stets mit wie ein Flüstern, zu leise, um sie wirklich zu fassen, aber laut genug, um sie die ganze Zeit zu fühlen: Du bist schuld.
Egal, worum es geht – Arbeitsplatzverlust, psychische wie physische Beschwerden, schlechte Schulnoten oder erdrückende Arbeitsanforderungen –, die Antwort ist immer gleich: Du bist schuld!
Es ist individualisierte Schuld, denn es liegt immer an den jeweiligen Menschen selbst, wenn sie beim schulischen Lernen einfach nicht mitkommen, keinen Job finden oder in irgendeiner Weise ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen. Man ist selbst schuld, wenn man mit dieser wunderbaren Welt nicht klarkommt, denn mit der Welt an sich, mit ihren Zuständen, Zwängen und Anforderungen, ist alles in Ordnung, so die suggestive Diagnose, deren Einfachheit verlockend ist; sie zerstört jeglichen Widerstand und jegliche Kritik, damit man sich den Lebensumständen einfach ergibt, wie immer sie auch aussehen mögen, denn ein Kritiker ist bloß ein Niemand, der den Umständen nicht gewachsen ist, ein Schwächling, ein Versager.
Wer für einen Job nicht umziehen möchte, weil das die Aufgabe von Freundeskreis, Umfeld und Milieu bedeuten würde, wer nicht bereit ist, minimale Löhne anzunehmen, von denen er nicht leben kann, der gilt als Verursacher seines eigenen Elends, der trägt die Schuld. Wer zweihundert Kilogramm auf den Rücken gebunden bekommt und unter dieser Last zusammenbricht, der hat sich einfach nicht genug angestrengt, der ist nicht kooperativ, der ist faul oder ein Taugenichts, aber in jedem Fall ist es seine, ganz allein seine individuelle Schuld. Dass die Umstände an sich besorgniserregend sind, dass die Last erdrückend ist, dass es nicht am Individuum liegt, wenn es den Anforderungen nicht genügen kann oder sich ihnen nicht beugen will, wird gar nicht in Betracht gezogen.
Wer die Zustände für unzumutbar hält und so tapfer ist, diese Meinung auszudrücken, wer im Extremfall an diesen Zuständen zerbricht, dessen Verhalten wird psychologisiert, es liegt also an Kindheit, am Verhältnis zu den Eltern, an Problemen mit der Liebe oder an anderen hineinprojizierten Motiven, oder es wird pathologisiert, derjenige ist also depressiv und krank oder suizidal, womit das Unbehagen über die Zustände der Welt gleichgesetzt wird mit einem generellen Scheitern am Leben, denn wer die Welt in ihrer bestehenden Ordnung ablehnt, der verzweifle am Leben an sich.
Das normale Verhalten, das eingefordert wird bis zur Selbsterschöpfung, ist ein normatives Verhalten, denn wer mit diesem normalen Verhalten nichts anfangen kann, der muss normalisiert werden, also sein abnormales Verhalten aufgeben, seinen Widerstand gegen die Zustände, die ihn erdrücken, einstellen, um die äußere Normalität anzuerkennen, die auf ihn wirkt und überhaupt erst in diese Lage gebracht hat.
Richard Sennett hat den flexiblen Menschen, der sich lässig bis zum Umfallen sämtliche Anforderungen einer sozial und technisch hochverschalteten Lebenswelt aufbuckelt, als Mythos des nomadischen Turbo-Kapitalismus diskreditiert. Der flexible Mensch […] ist jener Robot, der seine eigene Überforderung noch als Selbstverwirklichung verkauft, während die Sicherungen durchbrennen.
(Goedart Palm bei Telepolis)
So schleift man sich jeden Tag zurück, macht, was verlangt wird, und behandelt die Symptome – beispielsweise mithilfe von Kopfschmerztabletten. Man macht sich kaputt, nimmt alles auf sich, ist masochistisch, aber es ist okay, denn man will kein Versager sein. Man bekommt Hilfe, die man freudig entgegennimmt, wird gestützt und aufgebaut, um bloß nicht umzufallen. Man glaubt, was im Hintergrund leise rauscht: Du bist schuld!
Aber vielleicht sind es ja gar nicht die so genannten Versager, mit denen etwas nicht stimmt. Wer die Welt, wie sie ist, nicht ausstehen kann, der ist kein Fall für psychologische Betreuung oder die Lebensberatung, sondern kann primär einfach nur die Welt nicht ausstehen, so wie sie ist. Wer die Zustände zum Kotzen findet, wer sich ihnen widersetzt oder sie nicht anerkennt, weil er vielleicht sogar daran zerbricht, der hat ein berechtigtes Anliegen – ein Anliegen, das mit persönlichen Defiziten nichts zu tun hat.
Niemand sollte jemals arbeiten.
Arbeit ist die Ursache nahezu allen Elends in der Welt. Fast jedes erdenkliche Übel geht aufs Arbeiten oder auf eine fürs Arbeiten eingerichtete Welt zurück. Um das Leiden zu beenden, müssen wir aufhören zu arbeiten.
Das bedeutet nicht, daß wir aufhören sollten, Dinge zu tun. Vielmehr sollten wir eine neue Lebensweise schaffen, der das Spielen zugrundeliegt; sozusagen eine spielerische Revolution.
Spielerisches Leben ist völlig inkompatibel zur bestehenden Wirklichkeit. Das sagt alles über die „Wirklichkeit“, das Schwerkraftloch, das dem Wenigen im Leben, das es noch vom bloßen Überleben unterscheidet, die Lebenskraft absaugt. Seltsamerweise – oder vielleicht auch nicht – sind alle alten Ideologien konservativ, weil sie an die Arbeit glauben.
Die Liberalen fordern ein Ende der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Ich fordere ein Ende des Arbeitsmarktes. Die Konservativen unterstützen das Recht auf Arbeit. Mit Karl Marx‘ eigensinnigem Schwiegersohn Paul Lafargue unterstütze ich das „Recht auf Faulheit“. So wie die Surrealisten – abgesehen davon, daß ich es ernst meine – fordere ich volle Arbeitslosigkeit. Die Trotzkisten agitieren für die permanente Revolution. Ich agitiere für permanentes Feiern. Aber wenn alle Ideologen die Arbeit verteidigen, was sie ja tun, und das nicht nur, weil sie andere dazu bringen wollen, ihren Teil mitzumachen, geben sie es doch ungern zu. Sie führen endlose Debatten über Löhne, Arbeitsstunden, Arbeitsbedingungen, Ausbeutung, Produktivität und Gewinnchancen. Sie reden gern über alles – außer über die Arbeit selbst. Diese Experten, die sich anbieten, uns das Denken abzunehmen, teilen selten ihre Erkenntnisse über die Arbeit mit uns, trotz der Bedeutung für unser aller Leben. Untereinander streiten sie sich ein bißchen über die Einzelheiten. (…) All diese Ideologen haben ernste Differenzen über die Verteilung der Macht. Genauso klar ist, daß sie der Macht als solcher nicht widersprechen und daß sie uns alle am Arbeiten halten wollen.
Die Entwürdigung, die die meisten Arbeitenden bei ihren Jobs erleben, entspringt der Summe der verschiedensten Demütigungen, die unter dem Begriff „Disziplin“ zusammengefaßt werden können. Foucault hat dieses Phänomen komplexer dargestellt, aber es ist eigentlich ganz einfach. Disziplin besteht aus der Absolutheit der totalitären Kontrolle am Arbeitsplatz – Überwachung, Fließband, vorgegebenes Arbeitstempo, Produktionsziffern, Stechuhr usw. Disziplin ist das, was Fabrik, Büro und Geschäft mit dem Gefängnis, der Schule und dem Irrenhaus gemein haben. Es ist etwas historisch Einzigartiges und Furchtbares. Es überstieg die Fähigkeiten solch teuflischer Diktatoren wie weiland Nero oder Dschingis Khan oder Iwan des Schrecklichen. So schlecht ihre Absichten auch gewesen sein mögen, ihnen fehlte die Maschinerie, um ihre Untertanen so gründlich zu kontrollieren, wie es moderne Despoten vermögen. Disziplin ist die charakteristisch moderne Funktionsweise der gesellschaftlichen Kontrolle, es ist ein innovatives Eintrichtern, gegen das bei der ersten sich bietenden Gelegenheit eingeschritten werden muß.
So steht es mit der Arbeit. Spielen ist das gerade Gegenteil. Spielen ist immer freiwillig. Was ansonsten Spiel wäre, wird zur Arbeit, sobald es erzwungen wird.
Wir haben jetzt die Möglichkeit, die Arbeit abzuschaffen und den notwendigen Anteil Arbeit durch eine Vielfalt an neuen freien Aktivitäten zu ersetzen. Die Abschaffung der Arbeit erfordert eine Annäherung von zwei Seiten, einer quantitativen und einer qualitativen. Auf der einen, der quantitativen Seite, müssen wir die Menge geleisteter Arbeit massiv reduzieren. Gegenwärtig ist die meiste Arbeit einfach nutzlos und wir sollten sie loswerden. Auf der anderen Seite – und ich denke, diese qualitative Annäherung ist der Knackpunkt und der wirklich revolutionäre Aufbruch – müssen wir die wenige nutzbringende Arbeit in verschiedenste spielerische und handwerkliche Freuden verwandeln, nicht unterscheidbar von anderen freudvollen Tätigkeiten, außer dadurch, daß sie nebenbei nützliche Endprodukte hervorbringen. Das sollte sie aber keinesfalls weniger verlockend machen. In der Folge könnten alle künstlichen Schranken von Macht und Besitz fallen. Schöpfung wäre nicht mehr Erschöpfung. Und wir könnten alle aufhören, voreinander Angst zu haben.
Ich unterstelle nicht, daß diese Verwandlung bei jeder Art von Arbeit möglich ist. Aber dann ist die meiste Arbeit auch nicht wert, erhalten zu werden. Nur ein kleiner und sich noch verkleinernder Ausschnitt der Arbeitswelt dient letztlich einem Zweck, den nicht erst die Verteidigung und Reproduktion des Arbeitssystems und seiner politischen und rechtlichen Anhängsel nötig machen (…): die meiste Arbeit dient direkt oder indirekt der wirtschaftlichen oder sozialen Kontrolle. Es wäre also einfach so möglich, Millionen von Verkäufern, Soldaten, Managern, Polizisten, Börsianern, Priestern, Bankiers, Anwälten, Lehrern, Vermietern, Wachen und Werbeleuten von der Arbeit zu befreien, nebst allen, die für sie arbeiten.
(Bob Black – Die Abschaffung der Arbeit; im Original: The Abolition of Work)
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