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Der ande­re Trick besteht dar­in, dem Part­ner eben­so hef­ti­ge wie nebel­haf­te Vor­wür­fe zu machen. Wenn er dann wis­sen will, was Sie eigent­lich mei­nen, kön­nen Sie die Fal­le mit dem zusätz­li­chen Hin­weis her­me­tisch schlie­ßen: »Wenn du nicht der Mensch wärest, der du bist, müß­test du mich nicht erst noch fra­gen. Der Umstand, daß du nicht ein­mal weißt, wovon ich spre­che, zeigt klar, welch‘ Geis­tes Kind du bist.« Und a pro­pos Geist: Im Umgang mit soge­nann­ten Geis­tes­kran­ken wird die­se Metho­de seit längs­ter Zeit mit gro­ßem Erfolg ange­wen­det. In den sel­te­nen Fäl­len näm­lich, in denen der Betref­fen­de es wagt, klipp und klar dar­über Aus­kunft zu ver­lan­gen, wor­in in der Sicht der ande­ren sei­ne Ver­rückt­heit denn bestehe, läßt sich die­se Fra­ge als wei­te­rer Beweis für sei­ne Geis­tes­ge­stört­heit hin­stel­len: »Wenn du nicht ver­rückt wärest, wüß­test du, was wir mei­nen.« Da staunt der Laie und der Fach­mann wun­dert sich – denn hin­ter einer Ant­wort die­ser Art steht Genia­li­tät: Der Ver­such, Klar­heit zu schaf­fen, wird flugs ins Gegen­teil umge­deu­tet. Der ande­re gilt also für ver­rückt, solan­ge er die Bezie­hungs­de­fi­ni­ti­on »Wir sind nor­mal, du bist ver­rückt« still­schwei­gend hin­nimmt, und für ver­rückt, wenn er sie in Fra­ge stellt. Nach die­sem erfolg­lo­sen Exkurs in die mensch­li­che Umwelt kann er ent­we­der sich in hilf­lo­ser Wut die Haa­re aus­rau­fen, oder in Schwei­gen zurück­fal­len. Aber auch damit beweist er nur zusätz­lich, wie ver­rückt er ist, und wie recht die ande­ren schon immer hat­ten. (…) In den Eta­blis­se­ments, die sich für die Behand­lung sol­cher Zustän­de für kom­pe­tent hal­ten, läßt sich die­se Tak­tik mit Erfolg anwen­den. Man stellt es dem soge­nann­ten Pati­en­ten zum Bei­spiel frei, nach eige­nem Ermes­sen zu ent­schei­den, ob er an den Grup­pen­sit­zun­gen teil­neh­men will oder nicht. Lehnt er dan­kend ab, so wird er hilf­reich-ernst­haft auf­ge­for­dert, sei­ne Grün­de anzu­ge­ben. Was er dann sagt, ist ziem­lich gleich­gül­tig, denn es ist auf jeden Fall eine Mani­fes­ta­ti­on sei­nes Wider­stan­des und daher krank­haft. Die ein­zi­ge ihm offen­ste­hen­de Alter­na­ti­ve ist also die Teil­nah­me an der Grup­pen­the­ra­pie, doch darf er nicht anmer­ken las­sen, daß ihm ja nichts ande­res übrig­bleibt, denn sei­ne eige­ne Lage so zu sehen, bedeu­te­te immer noch Wider­stand und Ein­sichts­lo­sig­keit. Er muß also »spon­tan« teil­neh­men wol­len, gibt aber gleich­zei­tig mit sei­ner Teil­nah­me zu, daß er krank ist und The­ra­pie braucht. In gro­ßen Gesell­schafts­sys­te­men mit Irren­haus­cha­rak­ter ist die­se Metho­de unter dem respekt­los-reak­tio­nä­ren Namen Gehirn­wä­sche bekannt.
(Paul Watz­la­wick – Anlei­tung zum Unglücklichsein)

Sag ja zum Leben, sag ja zum Job, sag ja zur Kar­rie­re, sag ja zur Fami­lie. Sag ja zu einem per­vers gro­ßen Fern­se­her. Sag ja zu Wasch­ma­schi­nen, Autos, CD-Play­ern und elek­tri­schen Dosen­öff­nern. Sag ja zur Gesund­heit, nied­ri­gem Cho­le­ste­rin­spie­gel und Zahn­zu­satz­ver­si­che­rung. Sag ja zur Bau­spar­kas­se, sag ja zur ers­ten Eigen­tums­woh­nung, sag ja zu den rich­ti­gen Freun­den. Sag ja zur Frei­zeit­klei­dung mit pas­sen­den Kof­fern, sag ja zum drei­tei­li­gen Anzug auf Raten­zah­lung in hun­der­ten von Scheiß-Stof­fen. Sag ja zu Do-It-Yours­elf und dazu, auf dei­ner Couch zu hocken und dir hirn­läh­men­de Game­shows rein­zu­zie­hen und dich dabei mit scheiß Junk­fraß voll­zu­stop­fen. Sag ja dazu, am Schluss vor dich hin­zu­ver­we­sen, dich in einer elen­den Bruch­bu­de voll­zu­pis­sen und den miss­ra­te­nen Ego-Rat­ten von Kin­dern, die du gezeugt hast, damit sie dich erset­zen, nur noch pein­lich zu sein. Sag ja zur Zukunft, sag ja zum Leben. (…) Bald bin ich genau wie ihr: Job, Fami­lie, per­vers gro­ßer Fern­se­her, Wasch­ma­schi­ne, Auto, CD und elek­tri­scher Dosen­öff­ner, Gesund­heit, nied­ri­ger Cho­le­ste­rin­spie­gel, Kran­ken­ver­si­che­rung, Eigen­heim-Finan­zie­rung, Frei­zeit­klei­dung, drei­tei­li­ger Anzug, Heim­wer­ker­tum, Game­show, Junk­fraß, Kin­der, Spa­zie­ren­ge­hen im Park, gere­gel­te Arbeits­zeit, Fit­ness­cen­ter, Auto­wa­schen, ’ne Men­ge Pull­over, trau­te Weih­nacht mit der Fami­lie, infla­ti­ons­si­che­re Ren­te, Steu­er­frei­be­trä­ge, Abfluss sau­ber machen, über die Run­de kom­men, mich auf den Tag freu­en, an dem ich sterbe.
(Train­spot­ting)

Men­schen sind über­all gleich. Ich kam in die­se Stadt und ich tat es ohne die gerings­ten Erwar­tun­gen. Es war etwas Neu­es für mich, eine unge­wohn­te Umge­bung, und die­se Stadt war so gut wie jede ande­re. Selbst wenn ich es mir zunächst nicht ein­ge­stand, war es für mich ein Ort der Hoff­nung, ein Ort der Träu­me, ein Ort der Illusionen.
Der ers­te Ein­druck über­rasch­te mich. Man nahm mich freund­lich auf, ein­fach so, ohne Bedin­gun­gen und ohne jede Umschwei­fe. Es war für die­se Men­schen nichts Unge­wöhn­li­ches, einen Neu­en, einen Frem­den in ihren Rei­hen zu begrü­ßen. Das unter­schied die­sen Ort von bei­na­he allem, was ich kann­te, denn wie schwer, wenigs­tens aber auf­wän­dig war es doch in der Regel, mit offe­nen Armen als Frem­der in eine bestehen­de Gemein­schaft auf­ge­nom­men zu wer­den. Nicht so hier. Ein­woh­ner kamen und gin­gen, und manch­mal blie­ben sie nur weni­ge Wochen. Es war eine Freund­lich­keit, eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, die mich begeis­ter­te. Den schma­len Grat zwi­schen kind­li­chem Ver­trau­en und unbarm­her­zi­ger Distanz pfleg­te ich stets mit einer Art von Grund­ver­trau­en zu beschrei­ten, das aus­glei­chend begrenzt wur­de durch eine über die Jah­re hin­weg gewach­se­ne Men­schen­kennt­nis, derer es bedarf, um nicht der blin­den Nai­vi­tät anheimzufallen.
Im All­ge­mei­nen ver­trau­te ich selbst völ­lig unbe­kann­ten Men­schen, solan­ge sie mir kei­nen Grund lie­fer­ten, dar­an zu zwei­feln. Was wäre die Alter­na­ti­ve gewe­sen. Gesun­des Miss­trau­en ist ein Wider­spruch in sich, so etwas gibt es nicht, und lie­ber woll­te ich bis­wei­len in mei­nem Ver­trau­en ent­täuscht wer­den, als mit para­no­ider Grund­hal­tung durch die Welt zu gehen, denn Miss­trau­en för­dert unab­läs­sig Misstrauen.
Ich fühl­te mich hier zuhau­se. Nie­man­den inter­es­sier­te, war­um ich gekom­men war. All die mensch­li­chen, nur all­zu mensch­li­chen Kate­go­rien, die bis­wei­len dafür sorg­ten, Kei­le zwi­schen die Indi­vi­du­en zu trei­ben, schie­nen hier ohne Bedeu­tung zu sein. Alter, Geschlecht, Her­kunft, Aus­se­hen oder Sta­tus, Erfolg, Bil­dungs­grad und noch die ver­rück­tes­ten Inter­es­sen waren für das Mit­ein­an­der die­ser Men­schen allem Anschein nach völ­lig neben­säch­lich, zumin­dest lie­ßen sie sich nicht im gerings­ten anmer­ken, dar­auf irgend­ei­nen Wert zu legen. Es war zu gut, um wahr zu sein. Es war nicht wahr – aber das konn­te ich zu die­sem Zeit­punkt noch nicht wis­sen. Ich hät­te es wis­sen müs­sen, aber ich tat es nicht, denn wer stellt schon Fra­gen, wenn ihm Ein­lass in das Para­dies gebo­ten wird.
Nun, da ich ihn ver­las­se, muss ich rück­bli­ckend auf die­sen Ort lei­der sagen, dass die Ent­täu­schung über­wiegt. Es gab sehr viel Freu­de, schö­ne Momen­te, gute Erfah­run­gen, aber letzt­lich auch ein Über­maß an Frus­tra­ti­on. Vie­le Mona­te habe ich hier damit ver­bracht, Hoff­nun­gen und Träu­men nach­zu­ja­gen, die am Ende fast alle ent­täuscht wur­den. Ich kom­me mir so dumm vor. Alles ließ ich ste­hen und lie­gen, sogar mei­ne Arbeit ver­nach­läs­sig­te ich in all der Zeit, weil es für mich nichts Wich­ti­ge­res gab auf der Welt als die­se Men­schen, auf die ich mei­ne Hoff­nun­gen setz­te. Und für was? Was dach­te ich zu sehen? Men­schen, die nicht so sind wie an jedem ande­ren Ort der Welt? Illu­sio­nen! Wie­so also soll­te ich bleiben.
Viel­leicht mag es auf den ers­ten Blick para­dox erschei­nen, mein Grund­ver­trau­en von einer gewis­sen Art Distanz beglei­ten zu las­sen, die aber gar kein Wider­spruch, son­dern eher Gegen­ge­wicht ist. Mit einem Groß­teil der Men­schen, die ich im Lau­fe mei­ner Tage ken­nen­ler­ne, kann ich, so schwer es mir das Leben auch manch­mal macht, in der Regel nur wenig anfan­gen, dar­um ver­mei­de ich all­zu nahen Kon­takt mit ihnen, wo ich das kann. Das gilt für die Ein­woh­ner die­ser Stadt wie für die Men­schen im Gesam­ten. Sie kön­nen nichts dafür, sie sind nicht bes­ser oder schlech­ter als ich, sie haben ein­fach nur eine ande­re Vor­stel­lung von der Welt, eine Vor­stel­lung, die ich nicht tei­le. Sie legen Ver­hal­tens­wei­sen an den Tag, die so nor­mal, so mensch­lich sind, und doch mei­de ich sie dafür. Sie ver­brei­ten Lügen und brin­gen Gerüch­te in Umlauf, sie het­zen sich gegen­ein­an­der auf, sie läs­tern über ihren Nächs­ten, sobald er nur für einen Moment außer Hör­wei­te gegan­gen ist. Sie ver­schwö­ren sich. Sie fra­gen nicht nach, wenn sie böses Geschwätz über einen ande­ren hören, ob es denn über­haupt stimmt, sie glau­ben es direkt. Sie kor­rum­pie­ren. Sie sind stän­dig am Kämp­fen, am Strei­ten, kon­kur­rie­ren um Macht, Pres­ti­ge, Aner­ken­nung und Bei­fall. Sie sind selbst­ver­liebt, arro­gant und Heuch­ler. Stän­dig heu­cheln sie. Sie sind freund­lich zu jedem, ja, doch was heißt das schon, was hilft das, wenn es nur gespiel­te Freund­lich­keit ist. Sie legen das Sti­lett nie aus der Hand. Am Vor­mit­tag kön­nen sie dir sagen, wie ger­ne sie dich haben und was sie an dir schät­zen, dich am Nach­mit­tag vor dei­nen Freun­den schlecht­re­den, um dann am Abend mit dir ein fröh­li­ches Gespräch zu füh­ren, wie ver­lo­gen alle ande­ren doch sei­en. Nichts davon tun sie aus Bos­haf­tig­keit, und das ist das wirk­lich Trau­ri­ge dar­an. Lernt man die Men­schen in die­ser Stadt ein wenig ken­nen, muss man fest­stel­len, dass die meis­ten von ihnen genau­so sind, genau­so nor­mal. Das macht sie nicht zu schlech­ten Men­schen, aber es macht sie zu Men­schen, denen ich aus dem Weg gehe. Vie­len gehe ich aus dem Weg.
Doch es gab Aus­nah­men, es gibt sie über­all, man muss sie bloß fin­den. Die­je­ni­gen, die anders sind. Men­schen, die sich die Tat­sa­che vor Augen füh­ren, auch selbst nicht immun gegen­über der­ar­ti­gen Ver­hal­tens­wei­sen zu sein, die aber ver­su­chen, sie auf ein Mini­mum zu redu­zie­ren; die ihr Ver­hal­ten kri­tisch reflek­tie­ren, die ein Mit­ein­an­der statt eines Gegen­ein­an­ders her­zu­stel­len bestrebt sind. Men­schen, die sich nicht andau­ernd in den Mit­tel­punkt zu stel­len ver­su­chen, die nicht her­um­schrei­en, um Lor­bee­ren noch für die kleins­ten Taten ern­ten zu wol­len. Men­schen, die so auf­rich­tig wie freund­lich sind und das nicht bloß spie­len, weil sie sich etwas davon erhoffen.
Vie­le derer, die auf den ers­ten Blick als sol­che Aus­nah­men erschei­nen, stel­len sich bei genaue­rer Betrach­tung als Schau­spie­ler her­aus, als Men­schen, die sich akku­rat insze­nie­ren, als wären sie zuvor­kom­men­de, freund­li­che, auf­rich­ti­ge Per­so­nen. Bohrt man etwas tie­fer, offen­bart sich aller­dings, es han­delt sich um Lüg­ner. Geschick­te Lüg­ner zwar, gute Schau­spie­ler zwei­fel­los, und den­noch Lüg­ner. Sie spie­len das alles und die­ses Spiel ist ihr Leben. Es sind Ego­zen­tri­ker, Gel­tungs­süch­ti­ge und Selbst­ver­lieb­te. Sie sind genau wie der Groß­teil derer, auf die sie aus ihrer Rol­le hin­aus ver­ächt­lich hin­ab­bli­cken, aber sie haben gelernt, das zu über­spie­len, und das machen sie teil­wei­se ver­dammt gut.
Die ech­ten Aus­nah­men aber, jene, die nicht bloß Schau­spiel betrei­ben, waren alle­samt net­te Men­schen und dar­über war ich froh. Sie waren auf­rich­tig und nett, und vie­le von ihnen ver­füg­ten über eine recht unkom­pli­zier­te, unver­bind­li­che Vor­stel­lung von Freund­schaft. Genau dies war jedoch gleich­zei­tig das Pro­blem, war mir Grund, wes­halb ich mich nicht mit ihnen anfreun­den woll­te. Ihre Vor­stel­lung von Freund­schaft ent­sprach nicht der mei­nen, einer Vor­stel­lung, die man­chem, den ich sah, viel­leicht fremd sein moch­te, weil er unzäh­li­ge Freund­schaf­ten pfleg­te – und wenn man bloß mit jeman­dem in einer Bar ein Bier trank, war er sofort ein Freund. Das moch­te für ande­re funk­tio­nie­ren, für mich aller­dings nicht.
Seit jeher nann­te ich nur weni­ge Men­schen wirk­lich Freun­de, doch für jene, die ich dazu erko­ren hat­te, war ich es von gan­zem Her­zen, mit all mei­ner Ener­gie. Die­se net­ten, unver­bind­li­chen Leu­te – soll­te ich auch sie alle­samt zu mei­nen Freun­den zäh­len? Wür­de das funk­tio­nie­ren? Und dann? Auch mei­ne Tage haben nur vier­und­zwan­zig Stun­den, auch ich ver­fü­ge nur über begrenz­te Ener­gie. Ich woll­te kei­ne net­ten, unver­bind­li­chen Leu­te ken­nen­ler­nen, die ich zu mei­nen Freun­den hät­te machen kön­nen, weil das nur bedeu­tet hät­te, das kost­ba­re Enga­ge­ment für jeden mei­ner Freun­de zu redu­zie­ren, redu­zie­ren zu müs­sen, brei­ter zu ver­tei­len, sodass am Ende jeder weni­ger davon bekä­me. Das woll­te ich nicht. Mach­te mich das in ihren Augen zu einem Son­der­ling? Ver­mut­lich. Behan­del­te ich die­se net­ten, unver­bind­li­chen Men­schen unge­recht? Viel­leicht. Aber lie­ber das, als dass ich sie zu Freun­den gemacht hät­te, die kei­ne waren, zu Freund­schaf­ten, die weder sie noch mich befrie­di­gen würden.
Aber es gab Aus­nah­men unter den Aus­nah­men, ganz beson­de­re Men­schen. Men­schen, für die sich jedes noch so gro­ße Enga­ge­ment lohn­te; die so unglaub­lich kost­bar waren, dass ich sie nie wie­der aus den Augen ver­lie­ren woll­te; die mich berühr­ten, nicht nur in Gedan­ken, son­dern tief im Inne­ren. Men­schen, die ken­nen­zu­ler­nen mir war, als wür­den sich Wel­ten ver­bin­den. Es war der ent­täu­schends­te Teil. Bei den meis­ten von ihnen han­del­te es sich um Frau­en, denn unglück­li­cher­wei­se fie­len die ver­meint­li­chen Aus­nah­men unter den Män­nern vor­wie­gend in die Kate­go­rie Schau­spie­ler, denen es am Ende doch nur um ihr Ego ging, um Macht und Gel­tungs­drang, auf die eine oder auf die ande­re Art. Lei­der. Mit ihnen wäre es einfacher.
Was war nun das Pro­blem mit die­sen Aus­nah­men unter den Aus­nah­men? Da gab es also jeman­den, der beson­ders erschien, zumin­dest für mich. Jeman­den, der kein Schau­spie­ler war. Jeman­den, der ein ähn­li­ches Ver­ständ­nis vom Leben und der Welt auf­wies. Jeman­den, der unbe­ding­tes Ver­trau­en ver­dien­te und jeman­den, mit dem das gegen­sei­ti­ge Ver­ste­hen so ein­fach erschien, mit Wor­ten oder auch ohne, weil wir uns schon seit ewi­ger Zeit zu ken­nen glaub­ten. All die Schutz­vor­rich­tun­gen, die man sich im Lau­fe eines Lebens so müh­sam erbaut, um ande­re Men­schen auf ange­brach­ter Distanz zu hal­ten, um sich nicht zu ver­aus­ga­ben, um all­zu schwe­re Ver­let­zun­gen zu ver­mei­den, bau­te ich ab. Plötz­lich stand da ein Geschenk vor den Toren mei­ner Fes­tung, ein höl­zer­nes Pferd, und ich hol­te es bereit­wil­lig herein.
Irgend­wann aber über­tra­ten wir eine Gren­ze, eine unsicht­ba­re Linie, und es wuch­sen Gefüh­le in einem von uns. Anstatt in Unend­lich­keit zu enden, ken­ter­te das Mit­ein­an­der durch die­ses ungleich ver­teil­te Gewicht. Es war Him­mel und Höl­le zugleich, es mach­te alles kom­pli­ziert und vie­les kaputt, das so wun­der­bar begon­nen hat­te. Stell dir vor, du wärst Archäo­lo­ge und wür­dest an dem einen Fund arbei­ten, den du schon dein gan­zes Leben lang gesucht hast, auf den du ent­ge­gen aller Wahr­schein­lich­keit unter all den ver­ber­gen­den Schich­ten erst ein­mal sto­ßen muss­test, doch plötz­lich ist da ein nicht zu unter­drü­cken­des Krib­beln in dei­ner Nase, du musst nie­sen, ein ganz nor­ma­les mensch­li­ches Regen, du rutschst mit dem Werk­zeug ab und alles ist rui­niert. So kam ich mir vor. Nichts ver­mag je zu erset­zen, was dadurch ver­lo­ren ging, das wirk­lich Begehr­te, das über­aus Sel­te­ne, das unbe­dingt Kost­ba­re. Jene Men­schen, die für immer im Gedächt­nis blei­ben, die für immer ein Teil des eige­nen Lebens sein wer­den, ob sie nun anwe­send sind oder nicht.
Momen­tan fühlt es sich so an, als steck­te ich im Treib­sand. Je mehr ich mich bewe­ge, des­to trost­lo­ser wird die Situa­ti­on. Viel­leicht ist es also am bes­ten, sich erst ein­mal gar nicht zu bewe­gen. Das gesam­te letz­te Jahr ver­brach­te ich in die­ser Stadt mit dem unheil­vol­len Ver­such, Träu­men, Hoff­nun­gen und letzt­lich Illu­sio­nen hin­ter­her­zu­ja­gen, die sich am Ende alle­samt in Luft auf­lös­ten. Mei­ne gesam­te Ener­gie, emo­tio­nal wie auch psy­chisch, steck­te ich in die­se Men­schen, nur um alles, was ich auf­ge­baut hat­te, schließ­lich zer­stört vor­zu­fin­den, ent­we­der durch sie, weil sie nicht waren, was sie zu sein schie­nen, oder durch den Makel der Emo­ti­on. Es ende­te immer wie­der gleich, auch wenn es nie ende­te. Heu­te bin ich leer, ent­täuscht, von ande­ren und von mir selbst, erschöpft und emo­tio­nal am Boden. Die­se Stadt hat mich aus­ge­laugt, ich kann nicht mehr. Jeden­falls nicht hier. Wie ein hava­rier­tes Raum­schiff schwe­be ich manö­vrier­un­fä­hig irgend­wo in der Lee­re des Uni­ver­sums. Nur die Lebens­er­hal­tungs­sys­te­me sind noch in Betrieb, doch viel­leicht bekom­me ich dem­nächst auch wie­der Ener­gie für den Antrieb. Man sagt, es wür­de alles bes­ser, wenn Gras über eine Sache gewach­sen sei. Hier jedoch wächst kein Gras, der Boden ist aus­ge­laugt. Noch weni­ger als zuvor weiß ich, wann es sich lohnt, auf Men­schen ein­zu­ge­hen, denn ich mag sie ent­we­der gar nicht oder zu sehr, doch ich weiß, dass es nicht mein Ver­trau­en war, das mich enttäuschte.
Men­schen sind über­all gleich. Ent­zau­bert, ohne Hoff­nung und mit ver­blass­ten Träu­men ver­las­se ich die­se Stadt so lei­se, wie ich sie betrat. Sie war für mich ein Ort der Hoff­nung, ein Ort der Träu­me, ein Ort der Illu­sio­nen. Nach all die­sen Erfah­run­gen kom­me ich mir vor wie ein Außer­ir­di­scher, der mit der hoff­nungs­vol­len Mis­si­on an die­sen Ort geschickt wur­de, so viel wie mög­lich über die domi­nan­te Spe­zi­es auf die­sem Pla­ne­ten her­aus­zu­fin­den, um alles mit ihnen zu tei­len, und der nun mit der Bot­schaft zurück­keh­ren muss, dass es sich nicht lohnt, mit die­sen Wesen Kon­takt auf­zu­neh­men. Nicht mit deak­ti­vier­tem Schutzschild.

Der Jour­na­lis­mus ist tat­säch­lich einer der Orte, an dem die poli­ti­sche Magie ent­steht und bestä­tigt wird. Damit Magie ent­steht (…), braucht es eine Men­ge sozia­ler Vor­aus­set­zun­gen: Zau­be­rer, Assis­ten­ten, Publi­kum usf. Und auch die Welt der poli­ti­schen Magie macht eine Rei­he von Teil­neh­mern erfor­der­lich, nicht nur Par­la­men­te und Abge­ord­ne­te: Jour­na­lis­ten, Umfra­ge­insti­tu­te, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­ra­ter – auch Intel­lek­tu­el­le, oder genau­er: Jour­na­lis­ten, die sich als Intel­lek­tu­el­le aufspielen.
Man spricht (…) über die Rol­le der Jour­na­lis­ten im Golf­krieg. Man spricht aber nicht – oder zuwe­nig – über den All­tag, über das, was der Jour­na­lis­mus all­täg­lich macht, wenn er eigent­lich nur funk­tio­niert, um die Reden, die die Poli­ti­ker für­ein­an­der hal­ten, zu ver­stär­ken und ihnen einen Reso­nanz­bo­den zu geben. Heu­te reden die Poli­ti­ker näm­lich eigent­lich zu nie­mand ande­rem mehr als zu sich selbst. Sie reden, um nichts zu sagen, und inner­halb stun­den­lan­ger, nichts­sa­gen­der Aus­füh­run­gen fällt dann ein Halb­satz, der gezielt ein­ge­setzt wird, damit er von den Jour­na­lis­ten ver­stan­den, auf­ge­nom­men und als Spiel­ball in das poli­ti­sche Spiel ein­ge­bracht wird. Das Gan­ze hat Ähn­lich­keit mit einem Schach­spiel, bei dem gewief­te Spie­ler ihre Stra­te­gien erpro­ben. Und wie ein Schach­spiel schot­tet sich das Macht­spiel nach außen ab, wird her­me­tisch, Objekt »ken­ne­ri­scher« Kom­men­ta­re von Insi­dern, gesell­schaft­lich belang­los. Die Poli­ti­ker spre­chen zuein­an­der, sie spre­chen nicht zur Gesell­schaft. Sie geben sich den Anschein, zur Gesell­schaft zu sprechen.
(Pierre Bour­dieu – Poli­tik und Medi­en­macht, in: Der Tote packt den Lebenden)

Ever­y­thing a lie. Ever­y­thing you hear, ever­y­thing you see. So much to spew out. They just keep coming, one after ano­ther. You’­re in a box. A moving box. They want you dead, or in their lie… Only one thing a man can do – find some­thing that’s his, make an island for himself.
(The Thin Red Line)

»Aoki war ein sehr guter Schü­ler, er hat­te fast immer die bes­te Note. Ich ging auf eine pri­va­te Jun­gen­schu­le, und Aoki war ziem­lich beliebt. Die Klas­se schätz­te ihn, und er war der Lieb­ling der Leh­rer. Aber ich konn­te sei­ne prag­ma­ti­sche Ein­stel­lung und sei­ne intui­tiv berech­nen­de Art von Anfang an nicht aus­ste­hen. Wenn man mich frag­te, was mich genau an ihm stör­te, müß­te ich pas­sen. Ich wüß­te kein Bei­spiel. Ich weiß nur, daß ich ihn durch­schau­te. Ich konn­te die­se Ego­zen­trik und Über­heb­lich­keit, die er aus­strahl­te, instink­tiv nicht ertra­gen. Wie bei jeman­dem, des­sen Kör­per­ge­ruch man phy­sisch nicht erträgt. Aber Aoki war klug und ver­stand es, die­sen Geruch geschickt zu ver­ber­gen. Die meis­ten mei­ner Klas­se hiel­ten ihn für gerecht, beschei­den und freund­lich. Das zu hören empör­te mich – doch ich sag­te natür­lich nichts.«
(…)
Im Gegen­satz [zu mir] stand Aoki mit allem, was er tat, im Mit­tel­punkt – wie ein wei­ßer Schwan auf einem dunk­len See. Er war der Star der Klas­se, der, auf den alle hör­ten. Er war klug, das muß­te auch ich zuge­ben. Er war schnell. Er wuß­te im vor­aus, was der ande­re woll­te oder dach­te, und ver­stand es, dem­entspre­chend zu reagie­ren. Alle bewun­der­ten ihn. Aber ich war nicht beein­druckt. Mir war Aoki zu ober­fläch­lich. Wenn er ein klu­ger Kopf war, mach­te es mir nichts, kein klu­ger Kopf zu sein. Er war scharf­sin­nig, aber er besaß kei­ne Per­sön­lich­keit. Er hat­te nichts mit­zu­tei­len. Wenn alle ihn bestä­tig­ten, war Aoki glück­lich. Er war hin­ge­ris­sen von sei­nen eige­nen Fähig­kei­ten. Er dreh­te sich immer nach dem Wind. Er hat­te kei­ne Sub­stanz. Aber nie­mand erkann­te das.
(…)
»Es sind nicht Men­schen wie Aoki, vor denen ich Angst habe. Sol­che Men­schen gibt es über­all. Was das angeht, habe ich resi­gniert. Wenn ich ihnen begeg­ne, ver­su­che ich mög­lichst nichts mit ihnen zu tun zu haben. Ich gehe ihnen aus dem Weg. Das ist nicht beson­ders schwer. Ich erken­ne sie sofort. Zugleich bewun­de­re ich Leu­te wie Aoki aber auch. Nicht jeder besitzt die Fähig­keit, so lan­ge still­zu­hal­ten, bis die Gele­gen­heit sich ergibt, und sie dann sicher zu ergrei­fen; die Fähig­keit, sich geschickt der Gefüh­le ande­rer zu bemäch­ti­gen und sie gegen jeman­den auf­zu­het­zen. Ich has­se die­se Cha­rak­ter­zü­ge zwar so sehr, daß ich kot­zen könn­te, den­noch sind es Fähig­kei­ten. Das muß ich anerkennen.
Wovor ich aber wirk­lich Angst habe, sind Leu­te, die Typen wie Aoki alles blind glau­ben. Die­se Leu­te, die selbst nichts zuwe­ge brin­gen, nichts ver­ste­hen, die sich von den beque­men und leicht über­nehm­ba­ren Mei­nun­gen ande­rer lei­ten las­sen und nur in Grup­pen auf­tre­ten. Die­se Leu­te, die nie auf die Idee kämen, daß sie viel­leicht irgend etwas falsch machen könn­ten. Denen nie­mals auf­fällt, daß sie einen ande­ren sinn­los und bru­tal ver­let­zen könn­ten. Sie über­neh­men kei­ne Ver­ant­wor­tung für das, was sie tun. Vor sol­chen Leu­ten habe ich wirk­lich Angst. Und wenn ich nachts träu­me, dann von ihnen. In Träu­men ist nur das Schwei­gen. Die Leu­te in mei­nen Träu­men haben kei­ne Gesich­ter. Wie eisi­ges Was­ser dringt das Schwei­gen über­all ein.«
(Haru­ki Mura­ka­mi – Das Schweigen)

Haru­ki Mura­ka­mis „Das Schwei­gen“ hat mich fas­zi­niert. Aus ver­letz­tem Stolz macht dar­in Aoki, ein schein­bar umgäng­li­cher, freund­li­cher, cle­ve­rer Schü­ler, mit­hil­fe sei­ner Mit­schü­ler, die der char­man­te Aoki um den Fin­ger gewi­ckelt hat, das Leben des Erzäh­lers zur Höl­le. Die Geschich­te hat mich fas­zi­niert, weil ich Men­schen wie Aoki ken­ne, immer wie­der tref­fe, im Off­line-Leben wie auch im Inter­net, wo es teil­wei­se noch viel ein­fa­cher ist, die­se Fähig­kei­ten erfolg­reich zum Ein­satz zu brin­gen und sich dar­zu­stel­len. Es hat mich gefes­selt, weil es mir manch­mal nicht viel anders geht als dem Erzäh­ler, wenn ich Men­schen tref­fe, bei denen ich recht schnell durch­schaue, dass all ihre Beschei­den­heit, Gerech­tig­keit und Freund­lich­keit bloß auf­ge­setzt sind, dass sich dahin­ter berech­nen­de Ego­zen­tri­ker ver­ste­cken, Bestä­ti­gungs­süch­ti­ge, die zur Stil­lung ihrer Sucht auch Scha­den ande­rer Men­schen in Kauf neh­men, manch­mal sogar gezielt her­bei­füh­ren. Die es schaf­fen, so gut den net­ten, freund­li­chen, gerech­ten, herz­li­chen Men­schen zu spie­len, dass ihre Umwelt ihnen die­se Mas­ke größ­ten­teils unhin­ter­fragt abkauft und die­sen Men­schen bereit­wil­lig alles glaubt, von der trü­ge­ri­schen Selbst­in­sze­nie­rung bis hin zu geziel­ten Lügen, um ande­re zu diskreditieren.

Auch ich muss zuge­ben, von die­ser Fähig­keit auf eine sehr absto­ßen­de Art beein­druckt zu sein. Men­schen, die für ihren Lebens­un­ter­halt lügen und betrü­gen, stüt­zen sich auf die­se Fähig­keit. Wer­bung und Mar­ke­ting nut­zen sie eben­falls, genau wie Dem­ago­gen und Hei­rats­schwind­ler. Eine Fähig­keit, die ich in Anleh­nung an die Vor­stel­lung von „dunk­ler Magie“ als „dunk­le Empa­thie“ bezeich­nen möch­te. Über Empa­thie als sol­che ver­fü­gen die­se Men­schen ohne Zwei­fel, denn sonst wären sie nicht so gut in dem, was sie tun, in ihrer täu­schen­den Selbst­dar­stel­lung und dem Knüp­fen emo­tio­na­ler Bin­dun­gen mit ande­ren Men­schen. Aber es ist Empa­thie, die ein­zig dazu dient, die Gefüh­le ande­rer zum eige­nen Nut­zen zu manipulieren.

Genau wie dem Erzäh­ler machen mir die­se Men­schen selbst kei­ne Angst. Ich kann ihnen aus dem Weg gehen oder kann ver­su­chen, ihre Mas­kie­rung in Fra­ge zu stel­len und ihr Büh­nen­bild zum Wackeln zu brin­gen. Aber auch ich habe Angst vor denen, die dar­auf her­ein­fal­len, die sich emo­tio­nal ver­zau­bern und (ver)führen las­sen, die sol­chen Men­schen bereit­wil­lig alles glau­ben, ihre Mei­nun­gen über­neh­men und sich mit­un­ter sogar instru­men­ta­li­sie­ren las­sen, ohne irgend­et­was zu hin­ter­fra­gen, womit sie gro­ßen Scha­den anrich­ten können.

In all den Dis­kus­sio­nen um die Vor- und Nach­tei­le sowie die rea­len oder nur pro­ji­zier­ten Gefah­ren sozia­ler Inter­net-Diens­te ver­mis­se ich bis­lang einen Aspekt, den ich für sehr zen­tral und für mit weit­rei­chen­den Fol­gen ver­bun­den hal­te: Effizienz.

Ver­steht man bei­spiels­wei­se Twit­ter, Face­book oder Form­spring als cha­rak­te­ris­ti­sche Stell­ver­tre­ter der Social-Media-Diens­te, bedeu­tet dies unterm Strich, die 1:1‑Relationen in der Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Freun­den oder „Freun­den“ wer­den mit­tels die­ser Diens­te wesent­lich leich­ter, wesent­lich öfter in 1:n‑Relationen umgewandelt.

Für einen Dienst wie Form­spring, bei dem User ande­ren Usern Fra­gen stel­len kön­nen, auch anonym, die dann inklu­si­ve der dazu­ge­hö­ri­gen Ant­wor­ten allen ande­ren Usern zum Lesen zur Ver­fü­gung ste­hen, bedeu­tet dies kon­kret: Hat nur ein ein­zi­ger der User eine Fra­ge an einen bestimm­ten User gestellt, brau­chen sämt­li­che ande­ren User die­sel­be Fra­ge die­sem bestimm­ten User nicht noch ein­mal zu stel­len. Im Gegen­teil: Oft ist zu beob­ach­ten, dass es die Ant­wor­ten­den in der Regel nervt, wenn ein Fra­gen­der eine bereits beant­wor­te­te Fra­ge noch ein­mal stellt. Wenn nun bei­spiels­wei­se ein User in sei­ner form­spring-Kar­rie­re unge­fähr 500 Fra­gen beant­wor­tet hat, brau­chen alle ande­ren, die jene Fra­gen und deren Ant­wor­ten gele­sen haben, die­se 500 Fra­gen und zig Mil­lio­nen ande­re Fra­gen, die zu ähn­li­chen Ant­wor­ten geführt hät­ten, nicht mehr stel­len und wer­den mög­li­cher­wei­se vom Ant­wor­ten­den sogar dar­auf hin­ge­wie­sen, er wol­le die­se Fra­ge nicht noch ein­mal beant­wor­ten, denn das habe er ja bereits. Schon beim Umgang mit Blogs, Twit­ter oder Face­book ist bis­wei­len Ähn­li­ches zu beob­ach­ten, sodass es dann mit­un­ter zu Dia­lo­gen kommt, die wie folgt ver­lau­fen: „Hab ich dir schon das Neu­es­te erzählt?“ „Nein, aber ich hab’s in dei­nem Blog/in dei­nem Tweet/auf Face­book gele­sen.“ „Ach so.“

Es ist nicht mehr nötig, jedem der eige­nen Freun­de die neu­en Urlaubs­fo­tos zu zei­gen, wenn man sie ein­fach auf Face­book stel­len kann, wo sie jeder bequem anse­hen kann, wann immer es beliebt. Die Gesprä­che mit Freun­den über den neu­en Part­ner wer­den ersetzt durch eine Ände­rung des Bezie­hungs­sta­tus, der sofort von allen Freun­den zur Kennt­nis genom­men wer­den kann, ohne mit jedem von ihnen ein­zeln dar­über spre­chen zu müs­sen. Direk­te Kom­mu­ni­ka­ti­on weicht der Ver­öf­fent­li­chung von Infor­ma­tio­nen für ein Publi­kum, so als gebe man eine Pres­se­kon­fe­renz über die eige­ne Person.

All das bedeu­tet trotz bewuss­ter Über­zeich­nung, die Kom­mu­ni­ka­ti­on ver­schiebt sich auf­grund der neu­en Ein­fach­heit, die die­se sozia­len Diens­te bie­ten, vom Schwer­punkt ein wenig weg von direk­ter 1:1‑Kommunikation, die aber natür­lich nicht ver­schwin­det, hin zu brei­te­ren 1:n‑Kommunikationskanälen, was bedeu­tet, dass es mög­lich wird, via Face­book, Twit­ter oder auch Form­spring vie­le Men­schen gleich­zei­tig über sei­ne Akti­vi­tä­ten, Gedan­ken, Mei­nun­gen und so wei­ter zu informieren.

Eine ehe­ma­li­ge Kom­mi­li­to­nin hielt Stu­diVZ gera­de des­we­gen für so prak­tisch, weil sie dann nicht mehr all ihren Freun­den sepa­rat (1:1) von Neue­run­gen in ihrem Leben erzäh­len müs­se, son­dern das ein­fach nur noch ins Stu­diVZ zu schrei­ben habe (1:n). Das ist zwar nun in die­sem Bei­spiel ein Extrem­fall, wenn auch wahr, den­noch lässt sich die all­ge­mei­ne Ten­denz all die­ser Diens­te damit beschrei­ben, dass sie objek­tiv ein Mit­tel zur Effi­zi­enz­stei­ge­rung der Kon­takt­ver­wal­tung dar­stel­len und Red­un­danz abbauen.

Wenn man fünf Freun­den oder „Freun­den“ nicht mehr sepa­rat erzäh­len muss, was man ges­tern gemacht, wen man ken­nen­ge­lernt, was man gekauft oder gese­hen hat, son­dern das ledig­lich ein ein­zi­ges Mal auf einem Blog schrei­ben oder auf Face­book ver­öf­fent­li­chen muss, wo es alle fünf dann jeder­zeit nach­le­sen kön­nen, dann habe ich den Umgang mit mei­nen Freun­den opti­miert und des­sen Effi­zi­enz gestei­gert, weil ich Red­un­dan­zen abge­baut habe. Gleich­zei­tig erleich­tert das den Auf­bau eines wesent­lich grö­ße­ren „Freundes“-Kreises und erhöht das eige­ne »sozia­le Kapi­tal« (Bour­dieu), auf das man zugrei­fen kann. Zudem erstellt man gewis­ser­ma­ßen sein eige­nes Dos­sier, das man Inter­es­sen­ten an der eige­nen Per­son nur noch in die Hand zu drü­cken braucht – auch das Ken­nen­ler­nen oder viel­mehr das, was man dann für Ken­nen­ler­nen hält, wird dadurch opti­miert, beschleu­nigt, ver­ein­facht und letzt­lich effi­zi­en­ter. Das Sozia­le wird zunächst auf Daten reduziert.

Der Begriff der Objek­ti­vi­tät ist hier von gro­ßer Rele­vanz. Mei­ne beschrei­ben­den Wor­te möch­ten nicht aus­drü­cken, dass die­ser Effekt der Effi­zi­enz­stei­ge­rung in jedem Fall die sub­jek­ti­ve Inten­ti­on der Nut­zer ist, aber er ist den­noch das objek­ti­ve Resul­tat, so wie auch nie­mand mit der sub­jek­ti­ven Inten­ti­on ein­kau­fen geht, das Wirt­schafts­sys­tem zu erhal­ten oder den Staat mit­tels Steu­ern unter­stüt­zen zu wol­len, wäh­rend all die­se Din­ge jedoch gleich­zei­tig objek­ti­ves Ergeb­nis des Ein­kau­fens sind, ganz egal was die sub­jek­ti­ve Inten­ti­on sein mag.

Vie­le gesell­schaft­li­che oder indi­vi­du­el­le Ent­wick­lun­gen haben teil­wei­se ver­hee­ren­de Neben­fol­gen, die uns in den sel­tens­ten Fäl­len wirk­lich bewusst sind und die wir kei­nes­wegs als Inten­ti­on die­ses Han­delns anfüh­ren wür­den. Nie­mand beginnt mit dem Rau­chen, weil es so schön gesund­heits­ge­fähr­dend ist, und auch wenn das nicht sub­jek­ti­ve Inten­ti­on des Rau­chens ist, so ist es doch objek­ti­ver Effekt. Das glei­che trifft auf Umwelt­zer­stö­rung zu, da nie­mand (oder zumin­dest fast nie­mand) mor­gens mit dem Vor­ha­ben auf­steht, heu­te bewusst die Umwelt zu zer­stö­ren, son­dern weil es häu­fig der mehr oder weni­ger unbe­wuss­te Neben­ef­fekt vie­ler als völ­lig selbst­ver­ständ­lich erach­te­ter Hand­lungs­wei­sen ist, der nur dann über­haupt als Pro­blem begrif­fen und besei­tigt wer­den kann, wenn man sich die­ses Neben­ef­fekts tat­säch­lich bewusst wird.

Bei all den Vor­tei­len, die sol­che Social-Media-Diens­te bie­ten, ist dies, die­ser gesell­schaft­lich sank­tio­nier­te bis beding­te, unter ande­rem durch pre­kä­re Arbeits­ver­hält­nis­se und der For­de­rung nach zuneh­men­der Mobi­li­tät und Fle­xi­bi­li­tät befeu­er­te und in Form die­ser Diens­te recht trans­pa­rent auf­tre­ten­de Effi­zi­enz­ge­sichts­punkt in zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen, einer die­ser unbe­wuss­ten Neben­ef­fek­te, über den etwas mehr Refle­xi­on viel­leicht ange­bracht wäre, um den Umgang mit die­sen Diens­ten ent­spre­chend bewuss­ter zu gestal­ten. Letzt­lich stellt sich näm­lich zumin­dest mir die Fra­ge, in wel­chem Maße eine sol­che Effi­zi­enz­stei­ge­rung des Zwi­schen­mensch­li­chen über­haupt wün­schens­wert erscheint und ob größt­mög­li­che Quan­ti­tät sowie der Gesichts­punkt der Effi­zi­enz dem Kon­zept ernst­haf­ter Freund­schaft nicht dia­me­tral widersprechen.

Regiert sein, das heißt unter poli­zei­li­cher Über­wa­chung ste­hen, inspi­ziert, spio­niert, diri­giert, mit Geset­zen über­schüt­tet, regle­men­tiert, ein­ge­pfercht, belehrt, bepre­digt, kon­trol­liert, ein­ge­schätzt, abge­schätzt, zen­siert, kom­man­diert zu wer­den durch Leu­te, die weder das Recht, noch das Wis­sen, noch die Kraft dazu haben… Regiert sein heißt, bei jeder Hand­lung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewe­gung ver­steu­ert, paten­tiert, notiert, regis­triert, erfasst, taxiert, gestem­pelt, ver­mes­sen, bewer­tet, lizen­siert, auto­ri­siert, befür­wor­tet, ermahnt, behin­dert, refor­miert, aus­ge­rich­tet, bestraft zu wer­den. Es heißt, unter dem Vor­wand der öffent­li­chen Nütz­lich­keit und im Namen des All­ge­mein­in­ter­es­ses aus­ge­nutzt, ver­wal­tet, geprellt, aus­ge­beu­tet, mono­po­li­siert, hin­ter­gan­gen, aus­ge­presst, getäuscht, bestoh­len zu wer­den; schließ­lich bei dem gerings­ten Wider­stand, beim ers­ten Wort der Kla­ge unter­drückt, bestraft, her­un­ter­ge­macht, belei­digt, ver­folgt, miß­han­delt, zu Boden geschla­gen, ent­waff­net, gekne­belt, ein­ge­sperrt, füsi­liert, beschos­sen, ver­ur­teilt, ver­dammt, depor­tiert, geop­fert, ver­kauft, ver­ra­ten und oben­drein ver­höhnt, gehän­selt, beschimpft und ent­ehrt zu wer­den. Das ist die Regie­rung, das ist ihre Gerech­tig­keit, das ist ihre Moral.
(Pierre-Joseph Proudhon – Idée géné­ra­le de la Révo­lu­ti­on au dix-neu­viè­me siè­cle, 1851)

Ein Over­kill an Infor­ma­tio­nen, das Errei­chen des eige­nen Auf­nahm­eli­mits, Über­for­de­rung am Arbeits­platz, das Ver­zwei­feln an gesell­schaft­li­chen Zumu­tun­gen, phy­si­sche Beschwer­den – all das spielt kei­ne Rol­le, denn man hat sich an den Trott gewöhnt. Man erscheint immer wie­der, ob in der Schu­le oder am Arbeits­platz, ob auf direk­ten Befehl oder indi­rek­ten Druck – weil man soll. Obwohl man weiß, dass man auch an die­sem Abend mit Kopf­schmer­zen zu Hau­se ankom­men wird; obwohl man weiß, dass man von dem gan­zen Kram, der einem im Lau­fe des Tages abge­for­dert wird, schon seit lan­ger Zeit genug hat, weil es ein­fach zu viel, zu ner­vig, zu belas­tend ist; obwohl man weiß, man wird noch nicht ein­mal Gele­gen­heit haben, um über das nach­zu­den­ken, was man mit­ge­nom­men, was man erfah­ren, was man über­stan­den hat. Über­for­de­rung, Erschöp­fung, Kol­laps, Kapi­tu­la­ti­on und Schei­tern – die Dia­gno­se, sei sie nun von außen her­an­ge­tra­gen oder bereits ver­in­ner­licht, läuft in der Regel auf per­sön­li­che Defi­zi­te hin­aus, auf eige­ne Unzu­läng­lich­keit, weil man mit den Anfor­de­run­gen nicht klar­ge­kom­men ist.

Man setzt sich abends auf das hei­mi­sche Sofa, schal­tet den Fern­se­her ein und sieht einen Wer­be­spot für Kopf­schmerz­ta­blet­ten, der exem­pla­risch das Prin­zip der Schuld­zu­schrei­bung ver­deut­licht: Wer durch die äuße­ren Umstän­de Kopf­schmer­zen bekommt, durch Über­for­de­rung, durch Über­an­stren­gung oder Stress, der nimmt eine Kopf­schmerz­ta­blet­te und funk­tio­niert danach wie­der wie zuvor. Das Pro­blem ist folg­lich die man­geln­de per­sön­li­che Funk­ti­ons- und Belas­tungs­fä­hig­keit, nicht die äuße­ren Umstän­de, die über­haupt erst die Kopf­schmer­zen ver­ur­sacht haben. Man hört die Bot­schaft ganz deut­lich, sie schwingt im Hin­ter­grund stets mit wie ein Flüs­tern, zu lei­se, um sie wirk­lich zu fas­sen, aber laut genug, um sie die gan­ze Zeit zu füh­len: Du bist schuld.

Egal, wor­um es geht – Arbeits­platz­ver­lust, psy­chi­sche wie phy­si­sche Beschwer­den, schlech­te Schul­no­ten oder erdrü­cken­de Arbeits­an­for­de­run­gen –, die Ant­wort ist immer gleich: Du bist schuld!

Es ist indi­vi­dua­li­sier­te Schuld, denn es liegt immer an den jewei­li­gen Men­schen selbst, wenn sie beim schu­li­schen Ler­nen ein­fach nicht mit­kom­men, kei­nen Job fin­den oder in irgend­ei­ner Wei­se ihre Unzu­frie­den­heit zum Aus­druck brin­gen. Man ist selbst schuld, wenn man mit die­ser wun­der­ba­ren Welt nicht klar­kommt, denn mit der Welt an sich, mit ihren Zustän­den, Zwän­gen und Anfor­de­run­gen, ist alles in Ord­nung, so die sug­ges­ti­ve Dia­gno­se, deren Ein­fach­heit ver­lo­ckend ist; sie zer­stört jeg­li­chen Wider­stand und jeg­li­che Kri­tik, damit man sich den Lebens­um­stän­den ein­fach ergibt, wie immer sie auch aus­se­hen mögen, denn ein Kri­ti­ker ist bloß ein Nie­mand, der den Umstän­den nicht gewach­sen ist, ein Schwäch­ling, ein Versager.

Wer für einen Job nicht umzie­hen möch­te, weil das die Auf­ga­be von Freun­des­kreis, Umfeld und Milieu bedeu­ten wür­de, wer nicht bereit ist, mini­ma­le Löh­ne anzu­neh­men, von denen er nicht leben kann, der gilt als Ver­ur­sa­cher sei­nes eige­nen Elends, der trägt die Schuld. Wer zwei­hun­dert Kilo­gramm auf den Rücken gebun­den bekommt und unter die­ser Last zusam­men­bricht, der hat sich ein­fach nicht genug ange­strengt, der ist nicht koope­ra­tiv, der ist faul oder ein Tau­ge­nichts, aber in jedem Fall ist es sei­ne, ganz allein sei­ne indi­vi­du­el­le Schuld. Dass die Umstän­de an sich besorg­nis­er­re­gend sind, dass die Last erdrü­ckend ist, dass es nicht am Indi­vi­du­um liegt, wenn es den Anfor­de­run­gen nicht genü­gen kann oder sich ihnen nicht beu­gen will, wird gar nicht in Betracht gezogen.

Wer die Zustän­de für unzu­mut­bar hält und so tap­fer ist, die­se Mei­nung aus­zu­drü­cken, wer im Extrem­fall an die­sen Zustän­den zer­bricht, des­sen Ver­hal­ten wird psy­cho­lo­gi­siert, es liegt also an Kind­heit, am Ver­hält­nis zu den Eltern, an Pro­ble­men mit der Lie­be oder an ande­ren hin­ein­pro­ji­zier­ten Moti­ven, oder es wird patho­lo­gi­siert, der­je­ni­ge ist also depres­siv und krank oder sui­zi­dal, womit das Unbe­ha­gen über die Zustän­de der Welt gleich­ge­setzt wird mit einem gene­rel­len Schei­tern am Leben, denn wer die Welt in ihrer bestehen­den Ord­nung ablehnt, der ver­zweif­le am Leben an sich.

Das nor­ma­le Ver­hal­ten, das ein­ge­for­dert wird bis zur Selbst­er­schöp­fung, ist ein nor­ma­ti­ves Ver­hal­ten, denn wer mit die­sem nor­ma­len Ver­hal­ten nichts anfan­gen kann, der muss nor­ma­li­siert wer­den, also sein abnor­ma­les Ver­hal­ten auf­ge­ben, sei­nen Wider­stand gegen die Zustän­de, die ihn erdrü­cken, ein­stel­len, um die äuße­re Nor­ma­li­tät anzu­er­ken­nen, die auf ihn wirkt und über­haupt erst in die­se Lage gebracht hat.

Richard Sen­nett hat den fle­xi­blen Men­schen, der sich läs­sig bis zum Umfal­len sämt­li­che Anfor­de­run­gen einer sozi­al und tech­nisch hoch­ver­schal­te­ten Lebens­welt auf­bu­ckelt, als Mythos des noma­di­schen Tur­bo-Kapi­ta­lis­mus dis­kre­di­tiert. Der fle­xi­ble Mensch […] ist jener Robot, der sei­ne eige­ne Über­for­de­rung noch als Selbst­ver­wirk­li­chung ver­kauft, wäh­rend die Siche­run­gen durchbrennen.
(Goed­art Palm bei Tele­po­lis)

So schleift man sich jeden Tag zurück, macht, was ver­langt wird, und behan­delt die Sym­pto­me – bei­spiels­wei­se mit­hil­fe von Kopf­schmerz­ta­blet­ten. Man macht sich kaputt, nimmt alles auf sich, ist maso­chis­tisch, aber es ist okay, denn man will kein Ver­sa­ger sein. Man bekommt Hil­fe, die man freu­dig ent­ge­gen­nimmt, wird gestützt und auf­ge­baut, um bloß nicht umzu­fal­len. Man glaubt, was im Hin­ter­grund lei­se rauscht: Du bist schuld!

Aber viel­leicht sind es ja gar nicht die so genann­ten Ver­sa­ger, mit denen etwas nicht stimmt. Wer die Welt, wie sie ist, nicht aus­ste­hen kann, der ist kein Fall für psy­cho­lo­gi­sche Betreu­ung oder die Lebens­be­ra­tung, son­dern kann pri­mär ein­fach nur die Welt nicht aus­ste­hen, so wie sie ist. Wer die Zustän­de zum Kot­zen fin­det, wer sich ihnen wider­setzt oder sie nicht aner­kennt, weil er viel­leicht sogar dar­an zer­bricht, der hat ein berech­tig­tes Anlie­gen – ein Anlie­gen, das mit per­sön­li­chen Defi­zi­ten nichts zu tun hat.

Nie­mand soll­te jemals arbeiten.
Arbeit ist die Ursa­che nahe­zu allen Elends in der Welt. Fast jedes erdenk­li­che Übel geht aufs Arbei­ten oder auf eine fürs Arbei­ten ein­ge­rich­te­te Welt zurück. Um das Lei­den zu been­den, müs­sen wir auf­hö­ren zu arbeiten.
Das bedeu­tet nicht, daß wir auf­hö­ren soll­ten, Din­ge zu tun. Viel­mehr soll­ten wir eine neue Lebens­wei­se schaf­fen, der das Spie­len zugrun­de­liegt; sozu­sa­gen eine spie­le­ri­sche Revolution.
Spie­le­ri­sches Leben ist völ­lig inkom­pa­ti­bel zur bestehen­den Wirk­lich­keit. Das sagt alles über die „Wirk­lich­keit“, das Schwer­kraft­loch, das dem Weni­gen im Leben, das es noch vom blo­ßen Über­le­ben unter­schei­det, die Lebens­kraft absaugt. Selt­sa­mer­wei­se – oder viel­leicht auch nicht – sind alle alten Ideo­lo­gien kon­ser­va­tiv, weil sie an die Arbeit glauben.
Die Libe­ra­len for­dern ein Ende der Dis­kri­mi­nie­rung auf dem Arbeits­markt. Ich for­de­re ein Ende des Arbeits­mark­tes. Die Kon­ser­va­ti­ven unter­stüt­zen das Recht auf Arbeit. Mit Karl Marx‘ eigen­sin­ni­gem Schwie­ger­sohn Paul Lafar­gue unter­stüt­ze ich das „Recht auf Faul­heit“. So wie die Sur­rea­lis­ten – abge­se­hen davon, daß ich es ernst mei­ne – for­de­re ich vol­le Arbeits­lo­sig­keit. Die Trotz­kis­ten agi­tie­ren für die per­ma­nen­te Revo­lu­ti­on. Ich agi­tie­re für per­ma­nen­tes Fei­ern. Aber wenn alle Ideo­lo­gen die Arbeit ver­tei­di­gen, was sie ja tun, und das nicht nur, weil sie ande­re dazu brin­gen wol­len, ihren Teil mit­zu­ma­chen, geben sie es doch ungern zu. Sie füh­ren end­lo­se Debat­ten über Löh­ne, Arbeits­stun­den, Arbeits­be­din­gun­gen, Aus­beu­tung, Pro­duk­ti­vi­tät und Gewinn­chan­cen. Sie reden gern über alles – außer über die Arbeit selbst. Die­se Exper­ten, die sich anbie­ten, uns das Den­ken abzu­neh­men, tei­len sel­ten ihre Erkennt­nis­se über die Arbeit mit uns, trotz der Bedeu­tung für unser aller Leben. Unter­ein­an­der strei­ten sie sich ein biß­chen über die Ein­zel­hei­ten. (…) All die­se Ideo­lo­gen haben erns­te Dif­fe­ren­zen über die Ver­tei­lung der Macht. Genau­so klar ist, daß sie der Macht als sol­cher nicht wider­spre­chen und daß sie uns alle am Arbei­ten hal­ten wollen.
Die Ent­wür­di­gung, die die meis­ten Arbei­ten­den bei ihren Jobs erle­ben, ent­springt der Sum­me der ver­schie­dens­ten Demü­ti­gun­gen, die unter dem Begriff „Dis­zi­plin“ zusam­men­ge­faßt wer­den kön­nen. Fou­cault hat die­ses Phä­no­men kom­ple­xer dar­ge­stellt, aber es ist eigent­lich ganz ein­fach. Dis­zi­plin besteht aus der Abso­lut­heit der tota­li­tä­ren Kon­trol­le am Arbeits­platz – Über­wa­chung, Fließ­band, vor­ge­ge­be­nes Arbeits­tem­po, Pro­duk­ti­ons­zif­fern, Stech­uhr usw. Dis­zi­plin ist das, was Fabrik, Büro und Geschäft mit dem Gefäng­nis, der Schu­le und dem Irren­haus gemein haben. Es ist etwas his­to­risch Ein­zig­ar­ti­ges und Furcht­ba­res. Es über­stieg die Fähig­kei­ten solch teuf­li­scher Dik­ta­to­ren wie wei­land Nero oder Dschin­gis Khan oder Iwan des Schreck­li­chen. So schlecht ihre Absich­ten auch gewe­sen sein mögen, ihnen fehl­te die Maschi­ne­rie, um ihre Unter­ta­nen so gründ­lich zu kon­trol­lie­ren, wie es moder­ne Des­po­ten ver­mö­gen. Dis­zi­plin ist die cha­rak­te­ris­tisch moder­ne Funk­ti­ons­wei­se der gesell­schaft­li­chen Kon­trol­le, es ist ein inno­va­ti­ves Ein­trich­tern, gegen das bei der ers­ten sich bie­ten­den Gele­gen­heit ein­ge­schrit­ten wer­den muß.
So steht es mit der Arbeit. Spie­len ist das gera­de Gegen­teil. Spie­len ist immer frei­wil­lig. Was ansons­ten Spiel wäre, wird zur Arbeit, sobald es erzwun­gen wird.
Wir haben jetzt die Mög­lich­keit, die Arbeit abzu­schaf­fen und den not­wen­di­gen Anteil Arbeit durch eine Viel­falt an neu­en frei­en Akti­vi­tä­ten zu erset­zen. Die Abschaf­fung der Arbeit erfor­dert eine Annä­he­rung von zwei Sei­ten, einer quan­ti­ta­ti­ven und einer qua­li­ta­ti­ven. Auf der einen, der quan­ti­ta­ti­ven Sei­te, müs­sen wir die Men­ge geleis­te­ter Arbeit mas­siv redu­zie­ren. Gegen­wär­tig ist die meis­te Arbeit ein­fach nutz­los und wir soll­ten sie los­wer­den. Auf der ande­ren Sei­te – und ich den­ke, die­se qua­li­ta­ti­ve Annä­he­rung ist der Knack­punkt und der wirk­lich revo­lu­tio­nä­re Auf­bruch – müs­sen wir die weni­ge nutz­brin­gen­de Arbeit in ver­schie­dens­te spie­le­ri­sche und hand­werk­li­che Freu­den ver­wan­deln, nicht unter­scheid­bar von ande­ren freud­vol­len Tätig­kei­ten, außer dadurch, daß sie neben­bei nütz­li­che End­pro­duk­te her­vor­brin­gen. Das soll­te sie aber kei­nes­falls weni­ger ver­lo­ckend machen. In der Fol­ge könn­ten alle künst­li­chen Schran­ken von Macht und Besitz fal­len. Schöp­fung wäre nicht mehr Erschöp­fung. Und wir könn­ten alle auf­hö­ren, vor­ein­an­der Angst zu haben.
Ich unter­stel­le nicht, daß die­se Ver­wand­lung bei jeder Art von Arbeit mög­lich ist. Aber dann ist die meis­te Arbeit auch nicht wert, erhal­ten zu wer­den. Nur ein klei­ner und sich noch ver­klei­nern­der Aus­schnitt der Arbeits­welt dient letzt­lich einem Zweck, den nicht erst die Ver­tei­di­gung und Repro­duk­ti­on des Arbeits­sys­tems und sei­ner poli­ti­schen und recht­li­chen Anhäng­sel nötig machen (…): die meis­te Arbeit dient direkt oder indi­rekt der wirt­schaft­li­chen oder sozia­len Kon­trol­le. Es wäre also ein­fach so mög­lich, Mil­lio­nen von Ver­käu­fern, Sol­da­ten, Mana­gern, Poli­zis­ten, Bör­sia­nern, Pries­tern, Ban­kiers, Anwäl­ten, Leh­rern, Ver­mie­tern, Wachen und Wer­be­leu­ten von der Arbeit zu befrei­en, nebst allen, die für sie arbeiten.
(Bob Black – Die Abschaf­fung der Arbeit; im Ori­gi­nal: The Aboli­ti­on of Work)