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Wer glaubt, etwas zu sein, hat auf­ge­hört, etwas zu werden.
(Sokra­tes)

In einem Pro­jekt, an dem ich bis vor cir­ca einem Jahr betei­ligt war, fiel einer der Mit­ar­bei­ter wie­der­holt durch Unpünkt­lich­keit, Unzu­ver­läs­sig­keit und man­geln­de Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit auf. Nen­nen wir die­se Per­son hier ein­fach ein­mal Peter. Peters Ver­hal­ten führ­te mit­un­ter so weit, dass es den gesam­ten Fort­schritt des Pro­jekts erheb­lich ver­zö­ger­te und zeit­wei­se sogar das Pro­jekt als Gan­zes gefährdete.

Wenn Peter vom Rest des Teams zur Rede gestellt wur­de, gelang es ihm meist, auf­grund sei­ner cha­ris­ma­ti­schen Aus­strah­lung alle ande­ren Mit­glie­der mit­tels Aus­re­den zu besänf­ti­gen und auf die Zukunft zu vertrösten.

Ein­mal aller­dings, nach unzäh­li­gen sol­cher Ver­zö­ge­run­gen und Unzu­ver­läs­sig­kei­ten, kam es dann schließ­lich doch zu einer erns­ten Aus­spra­che, in der sich das Team recht ver­nünf­tig, wie mir schien, mit dem Pro­blem aus­ein­an­der­setz­te und Peter recht freund­lich, aber doch deut­lich klar mach­te, wes­halb ein sol­ches Ver­hal­ten nicht nur das Pro­jekt gefähr­de, son­dern auch zwi­schen­mensch­lich im all­ge­mei­nen recht ent­täu­schend sei. Danach bes­ser­te sich sein Ver­hal­ten vor­über­ge­hend ein wenig, doch gelöst wur­de das Pro­blem im End­ef­fekt nur, indem Peter schlicht weni­ger Auf­ga­ben zuge­teilt wur­den, die für das Pro­jekt wich­tig waren. Gelernt hat­te er aus dem Gespräch anschei­nend nichts.

Ein hal­bes Jahr spä­ter unge­fähr unter­hielt ich mich mit zwei ande­ren Team­mit­glie­dern noch ein­mal über das Pro­jekt im All­ge­mei­nen sowie über das pro­ble­ma­ti­sche Ver­hal­ten Peters im Spe­zi­el­len. Einer der bei­den besuch­te auch in der Zeit nach Pro­jekt­ab­schluss noch diver­se Kur­se, an denen auch Peter teil­nahm, und konn­te uns somit von ein paar zusätz­li­chen Ein­drü­cken erzäh­len. Wir frag­ten uns, ob Peter lang­fris­tig aus sei­nen Feh­lern und unse­ren Dis­kus­sio­nen irgend­et­was gelernt hatte.

Die Ant­wort, die wir uns gaben, fiel recht ernüch­ternd aus und wur­de von einem der bei­den, mit denen ich mich unter­hielt, prä­gnant zusam­men­ge­fasst, indem er (nen­nen wir ihn Max) einen Satz zitier­te, den Peter in der dama­li­gen Dis­kus­si­on zu sei­ner Ver­tei­di­gung vor­ge­bracht hat­te: „Es ist bei mir halt so, dass ich den Kopf in den Sand ste­cke, wenn es Pro­ble­me gibt“.

Das Pro­ble­ma­ti­sche an die­sem einen Satz war nun nicht das Kopf-in-den-Sand-Ste­cken, son­dern das unschein­ba­re „es ist bei mir halt so“. Max erklär­te, es gebe sei­nes Erach­tens zwei Typen von Men­schen, näm­lich zum einen die­je­ni­gen, die glau­ben, Men­schen könn­ten sich nicht ändern, und die ande­ren. Die­ser eine Satz drück­te laut Max in weni­gen Wor­ten alles über Peter aus, was hin­sicht­lich die­ser zwei Typen von Bedeu­tung war: Peter gehört(e) zu ersteren.

Peter wird, dar­in waren wir uns einig, die glei­chen Feh­ler wie­der und immer wie­der machen, denn er lernt nichts aus die­sen Feh­lern, will gar nichts dar­aus ler­nen, weil er näm­lich glaubt, er sei „halt so“ – und nicht anders. Er nahm die Kri­tik zwar auf, zog dar­aus aber kei­ne per­sön­li­chen Kon­se­quen­zen, weil das bedeu­tet hät­te, sich selbst ein­zu­ge­ste­hen, etwas falsch gemacht zu haben, und weil das zugleich bedeu­ten wür­de, Enga­ge­ment und Gedan­ken in die eige­ne Ver­än­de­rung oder Wei­ter­ent­wick­lung ste­cken zu müs­sen, wäh­rend die ande­re Lösung, die gewähl­te Lösung, doch so viel ein­fa­cher ist: Ich bin halt so – da kann man nichts machen.

Doch man kann, denn nie­mand ist „halt so“. „Ich bin halt so“ ist Schwach­sinn. Es gibt kein fer­ti­ges Sein, kei­ne abge­schlos­se­ne Per­sön­lich­keit. „Ich bin halt so“ ist eine Aus­re­de und gleich­zei­tig eine selbst­er­fül­len­de Pro­phe­zei­ung. Nur die­je­ni­gen, die die­sen Glau­ben tei­len, wer­den genau so blei­ben. Wer sich selbst davon über­zeugt, er sei „halt so“, wird sich auch immer wie­der gleich ver­hal­ten, immer wie­der die glei­chen Feh­ler machen und die­se Feh­ler als Bestä­ti­gung sehen, „halt so“ zu sein, anstatt dar­aus für die Zukunft irgend­et­was zu lernen.

Eine ande­re Per­son ver­band die­se mit beharr­li­cher Kon­se­quenz ver­tre­te­ne Über­zeu­gung, „halt so“ zu sein, mit noch einem ande­ren Dog­ma. Als ich sie ein­mal frag­te, wel­che Ent­schei­dun­gen sie bereue oder in wel­chen Fäl­len sie sich, im Nach­hin­ein betrach­tet, ein­mal falsch ent­schie­den hät­te oder sich heu­te anders ent­schei­den wür­de, ant­wor­te­te sie mir, es gebe in ihrem Leben bis­her kei­ne sol­chen Ent­schei­dun­gen. Zunächst glaub­te ich noch, das sei nur ein Aus­wei­chen, um der Beant­wor­tung der Fra­ge zu ent­ge­hen, doch was sie sag­te, mein­te sie tat­säch­lich voll­kom­men ernst, wie sich in der fol­gen­den Zeit noch herausstellte.

Im End­ef­fekt bedeu­tet das, was sie damit aus­drück­te, dass sie von sich selbst und für sich selbst glaubt, noch nie wirk­lich einen Feh­ler gemacht zu haben – nichts ande­res sind Ent­schei­dun­gen, die man bereut. Kann es einen sol­chen Men­schen über­haupt geben? Ist das schlicht posi­ti­ves Den­ken in einer absur­den, sei­ner auf die Spit­ze getrie­be­nen Form? Oder Arro­ganz? Kei­ne Ent­schei­dun­gen zu bereu­en heißt eben auch: Nie­mals um Ver­zei­hung zu bit­ten, wenn man ande­ren auf die Füße tritt.

Um ihre Ant­wort zu erklä­ren, argu­men­tier­te sie, dass sie nur dann wie­der genau der sel­be Mensch wer­den wür­de, der sie jetzt ist, wenn sie alle Ent­schei­dun­gen, also auch Feh­ler, die uns präg­ten, erneut genau­so tref­fen wür­de, wie sie sie tat­säch­lich getrof­fen hat. Wür­de sie sich an irgend­ei­ner Stel­le anders ent­schei­den, wür­de sie damit zugleich eine ande­re Per­sön­lich­keit wer­den – dies wür­de sie ger­ne ver­mei­den, weil es das Schick­sal eben so gewollt hät­te und sie damit recht zufrie­den sei.

Die­se Argu­men­ta­ti­on ist so rich­tig wie tri­vi­al. Natür­lich hat­te sie Recht: Sie ist heu­te, wer sie ist, eben weil sie sich so ent­schie­den hat, wie sie sich ent­schie­den hat, und sie wür­de nur wie­der genau der sel­be Mensch wer­den, der sie jetzt ist, wenn sie alle Ent­schei­dun­gen erneut genau­so trä­fe. Bloß: Was sagt einem das? Alles und nichts.

Wenn sich ein Mensch tat­säch­lich die Fra­ge stel­len kann: „Wür­de ich alles, was ich in mei­nem Leben je getan habe, in der glei­chen Situa­ti­on wie­der genau­so machen?“, um dies dann mit Ja zu beant­wor­ten, hal­te ich das, egal bei wem, für Selbst­be­trug. Etwas beim zwei­ten Mal anders zu machen, eine Ent­schei­dung im Nach­hin­ein zu revi­die­ren, zeugt mei­nes Erach­tens kei­nes­wegs davon, eine ande­re Per­son sein zu wol­len oder mit der eige­nen Per­sön­lich­keit unzu­frie­den zu sein. Es heißt nur, dass man aus Feh­lern ler­nen kann, dass man nicht per­fekt ist und sich auch nicht dafür hält. Völ­lig zu Recht sag­te sie: Feh­ler prä­gen uns. Doch gera­de aus die­sem Grund hal­te ich es für ver­mes­sen, im Nach­hin­ein – die­ser rück­bli­cken­den Argu­men­ta­ti­on fol­gend – mit Kennt­nis des Feh­lers den­sel­ben noch ein­mal bege­hen zu wollen.

Zufrie­den­s­ein und Ent­schei­dun­gen zu bereu­en schließt sich nicht aus. Im Gegen­teil: Man kann mit sich selbst zufrie­den sein und trotz­dem Ent­schei­dun­gen bereu­en; man kann sogar mit sich selbst zufrie­den sein, gera­de weil man Ent­schei­dun­gen bereut.

Ein zuge­spitz­tes Bei­spiel soll das Gan­ze ver­deut­li­chen: Wenn ich weiß, dass eine mei­ner Ent­schei­dun­gen einen Men­schen das Leben kos­te­te, wel­chen Grund soll­te ich haben, die­se Ent­schei­dung noch ein­mal genau­so zu tref­fen? Viel­leicht hat sie für mich per­sön­lich im End­ef­fekt dazu geführt, dass ich in Zukunft vor­sich­ti­ger bin, war für mich also alles in allem posi­tiv, aber ermu­tigt oder ent­schul­digt das, sie noch ein­mal genau so zu tref­fen, um wie­der genau der zu wer­den, der ich jetzt bin? Über meta­pho­ri­sche Lei­chen zu gehen und Feh­ler zu wie­der­ho­len, bloß um erneut der­je­ni­ge zu wer­den, der man jetzt ist, zeugt viel­leicht weni­ger von Selbst­zu­frie­den­heit als von Selbst­ge­fäl­lig­keit und einem ego­zen­tri­schen Welt­bild. Da scheint es wie­der durch: Ich bin halt so – und nicht anders.

Ein wenig ähnelt die­se Argu­men­ta­ti­on im Grun­de Vol­taires naiv-opti­mis­ti­schem Can­di­de, der glaubt, alles sei gut und gesche­he zu Recht, auch Krieg, Leid und Armut, da er sich in der bes­ten aller mög­li­chen Wel­ten wähnt und folg­lich den jet­zi­gen Zustand als den bes­ten aller mög­li­chen begreift. Somit ist alles gut, was geschieht und bis hier­hin geschah. Pang­loss, der Leh­rer Can­di­des, der ihm die Leh­re der bes­ten aller mög­li­chen Wel­ten ursprüng­lich nahe­ge­bracht hat­te, sieht in allem Schlech­ten, das geschieht, etwas Gutes und recht­fer­tigt des­sen Exis­tenz, sei es Syphi­lis oder Krieg, aus einem rela­ti­vie­ren­den, aner­ken­nen­den Blick­win­kel, anstatt es als Schlech­tes wahr­zu­neh­men und dar­an zu arbei­ten, es zu ändern. Selbst als Can­di­de am Ende, lan­ge aus sei­nem Para­dies ver­trie­ben, soviel Leid erfah­ren und durch­lebt hat, ver­sucht Pang­loss noch immer, alles Schlech­te schön­zu­re­den, was selbst Can­di­de mitt­ler­wei­le nicht mehr ernst neh­men kann:

„Jeg­li­che Bege­ben­heit im mensch­li­chen Leben gehört in die Ket­te der Din­ge. Denn wären Sie nicht Baro­neß Kune­gun­dens hal­ber mit der­ben Fuß­trit­ten aus dem schöns­ten aller Schlös­ser gejagt, von der Inqui­si­ti­on nicht ein­ge­zo­gen wor­den, hät­ten Sie nicht Ame­ri­ka zu Fuße durch­wan­dert, dem Herrn Baron nicht einen tüch­ti­gen Stoß mit dem Degen ver­setzt, nicht all’ ihre Ham­mel aus dem guten Lan­de Eldo­ra­do ein­ge­büßt, so wür­den Sie jetzt nicht hier ein­ge­mach­ten Zedrat und Pis­ta­zi­en essen.“

Wird die­se Argu­men­ta­ti­on kon­se­quent wei­ter­ge­führt und dra­ma­ti­siert, lässt sich damit von der Ent­schei­dung zwi­schen Döner oder Piz­za über Mob­bing bis hin zu Mord alles schön­re­den, was zum heu­ti­gen Zustand führ­te. Ihr liegt der Glau­be zugrun­de, der Zustand, wie er ist, recht­fer­ti­ge alles, was zu ihm führ­te, adle jedes Gesche­hen, gebe allem einen posi­ti­ven Sinn, mache alles Schlech­te gut. Nicht bloß ist das naiv und ego­zen­trisch, son­dern auch gefähr­lich, ob hin­sicht­lich des Zustands der Welt oder dem der eige­nen Person.

Rück­bli­ckend betrach­tet glau­be ich, dass dies ledig­lich eine Ratio­na­li­sie­rungs­stra­te­gie ist, sich die lang­jäh­rig kul­ti­vier­te „ich bin halt so“-Überzeugung mit einem Zir­kel­schluss makel­los schön­zu­re­den: Wenn ich „halt so bin“, wie ich bin, und alles, was hier­hin führ­te, gut ist, dann bin ich so, wie ich „halt bin“, per­fekt. Kein Grund, das eige­ne Ver­hal­ten zu reflek­tie­ren, in Fra­ge zu stel­len oder gar zu ändern. Wenn ich durch mei­ne Unzu­ver­läs­sig­keit bei­spiels­wei­se ver­ges­se, ande­ren Leu­ten einen Ter­min abzu­sa­gen, für den sie extra 500km fah­ren müs­sen, dann ist das gar kein Feh­ler, denn so kom­men die ande­ren wenigs­tens mal raus. So ein­fach kann das Leben sein. Was als flap­si­ger Spruch noch lus­tig ist, ver­kommt zu Selbst­be­trug und Respekt­lo­sig­keit ande­ren gegen­über, sobald es jemand wirk­lich ernst meint.

In Wahr­heit aller­dings ist nie­mand von uns per­fekt. Feh­ler, die ein Mensch macht und sich selbst ein­ge­steht, sind nor­mal und ver­zeih­bar. Doch wenn ein Mensch, wie die­se Bei­spie­len zei­gen, nicht bloß Feh­ler macht, son­dern noch dazu sei­ne Ver­hal­tens­wei­sen, die zu gera­de die­sen Feh­lern führ­ten, als „halt so“ und damit als unver­än­der­lich begreift oder die Feh­ler als sol­che nicht ein­mal in Erwä­gung zieht, son­dern statt­des­sen sich selbst und sei­ner Umwelt ein­re­det, kei­ne feh­ler­haf­ten Ent­schei­dun­gen getrof­fen zu haben, wird solch ein Mensch auf lan­ge Zeit unaus­steh­lich und sei­ne Feh­ler unver­zeih­lich. Sie gesche­hen dann auch tat­säch­lich immer wieder. 

Men­schen ändern sich – wenn sie es wollen.

Ich glau­be, nie­mand möch­te die sozia­le Welt so sehen, wie sie ist; es gibt vie­le Arten, sie zu ver­leug­nen; es gibt die Kunst, natür­lich. Aber es gibt auch eine Form von Sozio­lo­gie, die die­ses bemer­kens­wer­te Ergeb­nis zustan­de­bringt, näm­lich von der sozia­len Welt zu reden, als rede­te sie nicht von ihr (…). Die Ver­nei­nung im Freud­schen Sin­ne ist eine Form von Eska­pis­mus. Wenn man vor der Welt, wie sie ist, flie­hen will, kann man Musi­ker wer­den, Phi­lo­soph, Mathe­ma­ti­ker. Aber wie flieht man vor ihr, wenn man Sozio­lo­ge ist? Es gibt Leu­te, die das schaf­fen. Man braucht nur mathe­ma­ti­sche For­meln zu schrei­ben, Spiel­theo­rie­übun­gen oder Com­pu­ter­si­mu­la­tio­nen durch­zu­ex­er­zie­ren. Wenn man wirk­lich die Welt wenigs­tens ein biß­chen so sehen und so über sie reden will, wie sie ist, dann muß man akzep­tie­ren, daß man sich immer im Kom­pli­zier­ten, Unkla­ren, Unrei­nen, Unschar­fen usw. und also im Wider­spruch zu den gewöhn­li­chen Vor­stel­lun­gen von Wis­sen­schaft­lich­keit befindet.
(Pierre Bour­dieu – „Inzwi­schen ken­ne ich alle Krank­hei­ten der sozio­lo­gi­schen Ver­nunft“, in: Pierre Bour­dieu, Jean-Clau­de Cham­bo­re­don und Jean-Clau­de Pas­se­ron – Sozio­lo­gie als Beruf)

Damit die am meis­ten Begüns­tig­ten begüns­tigt und die am meis­ten Benach­tei­lig­ten benach­tei­ligt wer­den, ist es not­wen­dig wie hin­rei­chend, dass die Schu­le beim ver­mit­tel­ten Unter­richts­stoff, bei den Ver­mitt­lungs­me­tho­den und ‑tech­ni­ken und bei den Beur­tei­lungs­kri­te­ri­en die kul­tu­rel­le Ungleich­heit der Kin­der (…) igno­riert. Anders gesagt, indem das Schul­sys­tem alle Schü­ler, wie ungleich sie auch in Wirk­lich­keit sein mögen, in ihren Rech­ten wie Pflich­ten gleich behan­delt, sank­tio­niert es fak­tisch die ursprüng­li­che Ungleich­heit gegen­über der Kul­tur. Die for­ma­le Gleich­heit, die die päd­ago­gi­sche Pra­xis bestimmt, dient in Wirk­lich­keit als Ver­schleie­rung und Recht­fer­ti­gung der Gleich­gül­tig­keit gegen­über der wirk­li­chen Ungleich­heit in Bezug auf den Unter­richt und der im Unter­richt ver­mit­tel­ten oder, genau­er gesagt, ver­lang­ten Kul­tur. (…) Indem die Schu­le den Indi­vi­du­en nur deren Posi­ti­on in der sozia­len Hier­ar­chie genau ent­spre­chen­de Erwar­tun­gen an die Schu­le zuge­steht und unter ihnen eine Aus­wahl trifft, die unter dem Anschein der for­ma­len Gleich­heit die exis­tie­ren­den Unter­schie­de sank­tio­niert und kon­se­kriert, trägt sie ineins zur Per­p­etu­ie­rung wie zur Legi­ti­mie­rung der Ungleich­heit bei. Indem sie gesell­schaft­lich beding­ten, von ihr aber auf Bega­bungs­un­ter­schie­de zurück­ge­führ­ten Fähig­kei­ten eine sich »unpar­tei­isch« geben­de und als sol­che weit­hin aner­kann­te Sank­ti­on erteilt, ver­wan­delt sie fak­ti­sche Gleich­hei­ten in recht­mä­ßi­ge Ungleich­hei­ten, wirt­schaft­li­che und gesell­schaft­li­che Unter­schie­de in eine qua­li­ta­ti­ve Dif­fe­renz und legi­ti­miert die Über­tra­gung des kul­tu­rel­len Erbes. (…) Indem [das Bil­dungs­sys­tem] den kul­tu­rel­len Ungleich­hei­ten eine for­mell mit den demo­kra­ti­schen Idea­len über­ein­stim­men­de Sank­ti­on erteilt, lie­fert es die bes­te Recht­fer­ti­gung für die­se Ungleichheiten.
(Pierre Bour­dieu – Die kon­ser­va­ti­ve Schu­le, in: Wie die Kul­tur zum Bau­ern kommt)

„Was hat sich geändert?“

- „Ihr. Die Stu­den­ten, die vor mir sitzen.“

„Weil wir schlau­er sind, wis­sen wie der Hase läuft, weil wir für die­se Schei­ßer ein­fach nicht ins Gras bei­ßen wollen…“

- „Weil ihr so viel Abstand wie mög­lich zwi­schen euch und die wah­re Welt brin­gen wollt und die­se Schei­ßer (…), die bau­en auf eure Apa­thie, die bau­en auf eure vor­sätz­li­che Igno­ranz. Dar­auf begrün­den die ihre Stra­te­gien. Ihr gebt die Vor­la­ge und die pro­bie­ren aus, wie weit sie gehen können.“

„Jetzt bin ich schuld an allem..? Ich bin schuld, weil ich mir ein schö­nes Leben machen will, weil ich es kann, weil ich cle­ver genug dafür bin? Wol­len Sie mich beschul­di­gen, weil ich kei­ne Lust hab‘, Sei­te an Sei­te mit Ihnen auf ’nem alter­na­ti­ven Bau­ern­hof zu schuf­ten? Doc, Sie reden echt schon genau so wie mei­ne Eltern: Dau­ernd die Lei­er, dass ich es ja so viel schö­ner habe als sie frü­her und dann, dann machen sie mir die Höl­le heiß, dass ich die Frech­heit habe, es zu genießen.“

- „Todd, was nützt Ihnen der 90.000 Dol­lar teu­re Benz, wenn Sie nicht nur einen lee­ren Tank haben, son­dern auch die Stra­ßen und High­ways so run­ter­ge­kom­men sind wie in der Drit­ten Welt? Wenn Ihre gan­zen Tira­den über Kon­gress und Poli­tik wahr wären, wenn es so schlimm steht, so schlimm, wie Sie sagen, wenn tau­sen­de Ame­ri­ka­ner gefal­len sind und es täg­lich mehr wer­den, wie ver­mut­lich im Moment, ver­ra­ten Sie mir: Wie kön­nen Sie Ihr schö­nes Leben genie­ßen? Rom steht in Flam­men, so sieht’s aus! Und das Pro­blem sind nicht die Brand­stif­ter, da ist Hop­fen und Malz ver­lo­ren, das Pro­blem sind wir, wir alle, die untä­tig sind, die Zeit ver­tun. Wir alle lavie­ren nur um das Feu­er her­um. Ich sag‘ Ihnen was: Es gibt Men­schen da drau­ßen, die jeden Tag dafür kämp­fen, die Welt ein wenig bes­ser zu machen…“

„Sie mei­nen, wer wagt gewinnt und wer nicht wagt, kann nicht gewin­nen, oder was? (…) Aber wor­in liegt der Unter­schied, wenn man am Ende sowie­so verliert?“

- „Du hast etwas unternommen.“ 

(Von Löwen und Läm­mern)

Wenn ich eine der vie­len Polit- oder Gesell­schafts-Talk­shows sehe, womit nicht deren wenig ernst­zu­neh­men­de nach­mit­täg­li­che Deri­va­te auf den pri­va­ten Sen­dern gemeint sind, rege ich mich meist recht schnell auf. Es ist rela­tiv egal, ob die Dis­kus­si­on sich dabei um poli­ti­sche, um gesell­schaft­li­che oder um per­sön­li­che The­men dreht und ob ich mich mit einer Sei­te der Dis­kus­si­on iden­ti­fi­zie­ren kann oder nicht. Was mich auf­regt, ist der jewei­li­ge Drang, alle ande­ren mit mis­sio­na­ri­schem Eifer von der eige­nen Posi­ti­on und der eige­nen Art zu leben über­zeu­gen zu wol­len. Vege­ta­ri­er wol­len Fleisch­esser zu Vege­ta­ri­ern kon­ver­tie­ren, Fau­len­zer wol­len Kar­rie­re­men­schen zum locke­ren Leben erzie­hen, Opern­gän­ger dif­fa­mie­ren DSDS-Gucker ob ihrer Kul­tur­lo­sig­keit und jeweils ent­spre­chend umge­kehrt. War­um eigentlich?

Ich strei­te ger­ne mit ande­ren Leu­ten über The­men, bei denen wir uns nicht einig sind. Es macht Spaß und erwei­tert den eige­nen Hori­zont. Von außen ist das, was ich tue, für einen objek­ti­ven Beob­ach­ter wahr­schein­lich nur schwer von Über­zeu­gungs­ar­beit zu unter­schei­den (und viel­leicht tue ich des­we­gen den beschrie­be­nen Per­so­nen teil­wei­se unrecht), doch mei­ne eige­ne Moti­va­ti­on dazu ist kei­nes­wegs das mis­sio­na­ri­sche Bestre­ben, den ande­ren von mei­ner indi­vi­du­el­len Posi­ti­on zu über­zeu­gen und das Gan­ze ideo­lo­gisch womög­lich noch mit der ver­meint­li­chen Erzie­hung zu einer bes­se­ren Welt auf­zu­la­den, wie es so oft prak­ti­ziert wird, son­dern eine weit­aus egoistischere:

Ich möch­te für mich selbst – und zwar nur für mich selbst – die bes­te Art zu leben fin­den, die ich ger­ne guten Gewis­sens lebe und die mir sowohl Spaß als auch ein befrie­di­gen­des Leben ermög­licht, so schwam­mig und banal das nun auch klin­gen mag. Außer­dem hilft es mir, mei­ne Mit­men­schen und ihre eige­ne Art zu leben bes­ser zu verstehen.

Es gibt kei­nen einen rich­ti­gen Weg zu leben, der für alle Men­schen all­ge­mein­gül­tig ist. Alle ande­ren von mei­ner Art zu leben, mei­nen Stand­punk­ten und mei­nen Mei­nun­gen über­zeu­gen zu wol­len, spricht für mich recht deut­lich von einer into­le­ran­ten Grund­hal­tung und über­schät­zen­der Ver­herr­li­chung der eige­nen Positionen.

Des­we­gen lie­be ich es, mit Men­schen zu dis­ku­tie­ren, die eine völ­lig ande­re Mei­nung ver­tre­ten als ich selbst. Ich dis­ku­tie­re ger­ne mit Par­tei­mit­glie­dern jeg­li­cher Art, mit Vega­nern, mit fun­da­men­ta­lis­ti­schen Gen­tech­nik­geg­nern oder ‑befür­wor­tern, mit Gläu­bi­gen und mit Anhän­gern eines völ­lig frei­en Mark­tes, mit Befür­wor­tern von Stu­di­en­ge­büh­ren und mit unbeug­sa­men Glo­ba­li­sie­rungs­geg­nern genau­so wie mit den Advo­ka­ten glo­ba­ler Aus­beu­tung, weil ich mit jeder die­ser Dis­kus­sio­nen her­aus­fin­den möch­te, wel­che Argu­men­te der ande­re vor­brin­gen kann, über wel­che Erfah­run­gen er ver­fügt, wie er zu sei­ner Mei­nung gekom­men ist und wie kon­se­quent er sie ver­tre­ten kann. Letzt­lich also, um her­aus­zu­fin­den, wie über­zeu­gend er ist. Nicht pri­mär, weil ich ihn über­zeu­gen möch­te, son­dern weil er viel­leicht Argu­men­te her­vor­bringt, die ich nach­voll­zie­hen kann, die mir sinn­voll und stich­hal­tig erschei­nen oder mich wenigs­tens ins Grü­beln brin­gen, die mir letzt­end­lich also hel­fen, mei­ne eige­nen Posi­tio­nen, Mei­nun­gen und Über­zeu­gun­gen fun­diert zu unter­mau­ern oder zu hin­ter­fra­gen und damit schließ­lich dazu bei­tra­gen, mei­nen eige­nen, für mich – und nur für mich – bes­ten Weg zu finden.

Wenn ich allei­ne etwas dar­aus mit­neh­me, ist das bereits gut, doch wenn idea­ler­wei­se alle betei­lig­ten Dis­ku­tan­ten im Zuge als auch in Fol­ge der Dis­kus­si­on ihre Posi­tio­nen kri­tisch reflek­tie­ren, ist das ein vol­ler Erfolg, denn nicht mehr und nicht weni­ger ist dabei mein vor­nehm­li­ches Ziel. Wenn einer oder meh­re­re der Betei­lig­ten, das beinhal­tet selbst­ver­ständ­lich auch mich selbst, infol­ge­des­sen ihre Mei­nung ändern, ist das ein will­kom­me­ner Effekt, denn wir alle ler­nen stän­dig dazu, aber nicht wesent­li­cher Antrieb und soll­te das auch nicht sein.

Der Unter­schied klingt ent­we­der tri­vi­al oder höchst kom­plex, denn es geht dar­um, poten­ti­ell über­zeu­gend zu sein, also die eige­ne Mei­nung kon­sis­tent, fun­diert, kon­se­quent und über­zeugt zu ver­tre­ten, ohne über­zeu­gen, ohne mis­sio­nie­ren zu wol­len, dabei aber immer offen für eige­ne Über­zeu­gung durch neue Argu­men­te zu sein.

Über­zeu­gungs­ar­beit ist immer Macht­durch­set­zung. Wer behaup­tet, DSDS-Gucker ver­füg­ten über kein Ver­ständ­nis für Kul­tur und Fau­len­zer wür­den ihr Leben ver­schwen­den, übt damit Macht aus, indem er die Deu­tungs­ho­heit anstrebt und durch­zu­set­zen ver­sucht, was unter legi­ti­mer Kul­tur und Lebens­füh­rung zu ver­ste­hen sei. Alle, die nicht die­sen Vor­stel­lun­gen ent­spre­chen, wer­den dadurch im- oder gar expli­zit für fehl­ge­lei­tet und ihre Lebens­wei­se für falsch erklärt, wohin­ge­gen die eige­ne stets die rich­ti­ge – die angeb­lich eine rich­ti­ge – ist. Wie so vie­les dreht sich hier­bei alles um Macht und weni­ger um Fra­gen per­sön­li­cher Vor­lie­ben, als die es kaschiert wird, denn gin­ge es ledig­lich um per­sön­li­che Vor­lie­ben, bestün­de nicht das Bestre­ben, ande­re von eben die­sen über­zeu­gen zu wollen.

Das ein­zi­ge – und hier wird es para­dox -, wovon ich ande­re über­zeu­gen möch­te, ist auf der einen Sei­te, dass es ein unver­nünf­ti­ges, weil ten­den­zi­ell tota­li­tä­res Unter­fan­gen ist, ande­re ver­bis­sen von der eige­nen Art zu leben über­zeu­gen zu wol­len, sowie auf der ande­ren Sei­te, offen für Über­zeu­gung durch Argu­men­te zu blei­ben, denn sonst ver­rennt man sich in Fundamentalismus.

Nach etwa einem hal­ben Jahr hat­te sie das bit­te­re Gefühl, alle Men­schen ent­täuscht zu haben. Sie hat­te ein Büch­lein voll Adres­sen, aber wag­te nie­mand mehr anzu­ru­fen. Womit hat­te sie alle die­se freund­li­chen Freun­de ent­täuscht? Sie wuß­te es nicht, sie erfuhr es nicht. Es bedrück­te sie ernst­haft. Indes­sen, und dies ver­wirr­te Sibyl­le noch mehr, hat­te sie über­haupt nichts ver­scherzt, ganz und gar nicht; traf man sich zufäl­lig, tön­te es genau wie beim ersten­mal: Hal­lo Sibyl­le! und auf der andern Sei­te war kei­ne Spur von Ent­täu­schung. All die­se offe­nen und so selbst­ver­ständ­li­chen Leu­te, schien es, erwar­te­ten nicht mehr von einer mensch­li­chen Bezie­hung; sie brauch­te nicht wei­ter­zu­wach­sen, die­se so freund­li­che Bezie­hung. Und das war für Sibyl­le wohl das Trau­ri­ge; nach zwan­zig Minu­ten ist man mit die­sen Men­schen so weit wie nach einem hal­ben Jahr, wie nach vie­len Jah­ren, es kommt nichts mehr hin­zu. Es bleibt bei dem offen­her­zi­gen Wunsch, daß es dem andern wohl­erge­he. Man ist befreun­det, um es in irgend­ei­ner Wei­se nett zu haben, und im übri­gen gibt es ja Psych­ia­ter, so etwas wie Gara­gis­ten für Innen­le­ben, wenn einer Defek­te hat und nicht sel­ber fli­cken kann. Jeden­falls soll man nicht sei­ne Freun­de mit einer trau­ri­gen Geschich­te belas­ten; sie haben dann auch, in der Tat, nichts zu lie­fern als einen eben­so all­ge­mei­nen wie unver­bind­li­chen Optimismus.
(Max Frisch – Stiller)

Viel liest man über die nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen, die es haben kann, füt­tert man sozia­le Netz­wer­ke, die eige­ne Home­page oder Blogs mit per­sön­li­chen Infor­ma­tio­nen. Wenn­gleich vie­les davon auch zutref­fend ist und die opti­mier­te Selbst­in­sze­nie­rung oder Öffent­lich­ma­chung intims­ter Details bis­wei­len ins Patho­lo­gi­sche abdrif­tet, so ist ein immer wie­der erwähn­ter Punkt doch unter Umstän­den auch nütz­lich: Schnüf­fe­lei durch den aktu­el­len oder einen poten­ti­el­len Arbeitgeber.

Das Pro­fil in sozia­len Netz­wer­ken, die eige­ne Home­page und Aus­sa­gen in Blogs wer­den mit der Sche­re im Kopf ver­fasst oder in vor­aus­ei­len­dem Gehor­sam zen­siert, um der Angst zu begeg­nen, der tat­säch­li­che oder poten­ti­el­le Arbeit­ge­ber könn­te Details über Pri­vat­le­ben, poli­ti­sche oder sexu­el­le Ori­en­tie­rung, Vor­lie­ben und Abnei­gun­gen oder per­sön­li­che Mei­nun­gen erfah­ren und als – natür­lich inof­fi­zi­el­le – Grund­la­ge für nega­ti­ve Kon­se­quen­zen her­an­zie­hen, sei es das Ableh­nen einer Bewer­bung und Nicht­ein­stel­lung, das Über­ge­hen bei einer Beför­de­rung oder in Extrem­fäl­len die Kün­di­gung. Warum?

Genau­so, wie die­se dreis­te Schnüf­fe­lei durch wenig Ver­trau­en ver­die­nen­de Unter­neh­men, denen das Pri­vat­le­ben ihrer Mit­ar­bei­ter, solan­ge es die Arbeit selbst nicht beein­träch­tigt, nicht Grund für nega­ti­ve Sank­tio­nen sein darf, soll und muss, in die eine Rich­tung funk­tio­niert, wirkt sie auch in die ande­re, näm­lich als vor­züg­li­cher Arbeit­ge­ber­fil­ter. Möch­te man für eine Fir­ma arbei­ten, die her­um­schnüf­felt und einen Men­schen nicht ein­stellt, weil er per­sön­li­che, viel­leicht sogar pein­li­che Par­ty­fo­tos in ein sozia­les Netz­werk gela­den hat? Möch­te man für eine Fir­ma arbei­ten, die eine poli­ti­sche Mei­nung jen­seits der eigens pro­pa­gier­ten als Knock-Out-Kri­te­ri­um betrach­tet? Wenn man nicht ein­ge­stellt wird, weil man sich in die­ser oder jener Orga­ni­sa­ti­on enga­giert, ist das dann, abseits vom Öko­no­mi­schen, wirk­lich ein Grund zur Trau­er oder nicht eher zur Freu­de dar­über, dass man nicht Teil eines Unter­neh­men mit sol­chen Prak­ti­ken gewor­den ist? Was für ein Zustand ist das, wenn man vor­sich­tig sein muss, wel­che poli­ti­schen oder per­sön­li­chen Aus­sa­gen man trifft?

„Selbst schuld“, hört man süf­fi­sant von den­je­ni­gen, die sich ent­spre­chend sol­cher an sie gestell­ten Erwar­tun­gen zen­sie­ren und die eige­ne Per­sön­lich­keit demü­tig ver­ste­cken. „Selbst schuld“, kann man ihnen eigent­lich nur antworten.

Man kann im Prenz­lau­er Berg ein­fach im lin­ken Habi­tus wei­ter­le­ben. Das ist ja das Schö­ne. Man kann sich tole­rant füh­len, weil Tole­ranz nicht auf die Pro­be gestellt wird. (…) Der Schrift­stel­ler Maxim Bil­ler nennt den Prenz­lau­er Berg mitt­ler­wei­le iro­nisch eine »natio­nal befrei­te Zone«.

Der Prenz­lau­er Berg wirkt vie­ler­orts, als habe es nie so etwas wie eine Unter­schich­ten­de­bat­te gege­ben, ein Demo­gra­fie­pro­blem, Migra­ti­on. Hier herrscht der Bio­na­de-Bie­der­mei­er. Die 100000 Zuge­zo­ge­nen haben eine neue Stadt geschaf­fen, doch wem kommt die­se zivi­li­sa­to­ri­sche Leis­tung zugu­te, außer ihnen selbst? Ihr Prenz­lau­er Berg ist ein Ghet­to, das ohne Zaun aus­kommt – weil es auch ohne zuneh­mend her­me­tisch wirkt. Die Zuwan­de­rung wird über den Preis pro Qua­drat­me­ter gesteu­ert und über den enor­men Anpas­sungs­auf­wand, dem man sich hier leicht aus­setzt. Wer nicht das Rich­ti­ge isst, trinkt, trägt, hat schnell das Gefühl, der Fal­sche für die­sen Ort zu sein. Man glaubt so offen zu sein und hat sich eingeschlossen.

Zwar ist Milieu­bil­dung ein nor­ma­les sozia­les Phä­no­men, welt­weit sor­tie­ren sich die Men­schen nach Lebens­stil, Bil­dung, Ver­mö­gen – das Beson­de­re am Prenz­lau­er Berg aber ist, dass er nicht wahr­ha­ben will, dass er ganz anders ist, als er zu sein glaubt.
(Hen­ning Suß­e­bach bei ZEIT Online)

Wie Chris­ti­an Ulmen es so tref­fend auf den Punkt gebracht hat:

Die Defi­ni­ti­on von Spie­ßig­keit ist für mich, sobald jemand nicht in der Lage ist, über sei­nen Tel­ler­rand hin­aus­zu­schau­en. Wenn jemand into­le­rant ist und ande­res nicht zulässt, ist er ein Spie­ßer. Das ist der Haus­meis­ter, der nicht will, dass man drau­ßen Fuß­ball gegen die Gara­gen­to­re spielt, weil es so laut ist. Oder die Oma, die sich wahn­sin­nig dar­über auf­regt, weil ein Pun­ker einen Iro­ke­sen­haar­schnitt hat, weil sich das nicht anschickt. Das Leben der ande­ren nicht zu akzep­tie­ren – das ist spie­ßig, mei­ne ich.
(Chris­ti­an Ulmen bei Spie­gel Online)

Sie haben sich immer über die bie­de­ren Schlips­trä­ger und Hosen­an­zug­trä­ge­rin­nen lus­tig gemacht, die bei Ban­ken, Ver­si­che­run­gen und Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen arbei­ten oder bei ande­ren, genau­so mie­fi­gen wie lang­wei­li­gen Fir­men unter­ge­kom­men sind und dort ihr trost­lo­ses Dasein ver­rich­ten. Das war ihre Sicht­wei­se. So woll­ten sie nie enden, die­se Per­spek­ti­ve haben sie stets ver­ab­scheut. Nun arbei­ten sie selbst bei sol­cher­art Ban­ken, Ver­si­che­run­gen, Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen, Markt­for­schungs­in­sti­tu­ten oder in ähn­li­chen Fel­dern, die den glei­chen kal­ten Charme ver­sprü­hen, oder stre­ben es an, das zu tun. Warum?

Ver­än­dert haben sie sich nicht. Das ist das Trau­rigs­te dar­an. Hät­ten sie sich geän­dert, hät­ten sie ihre frü­he­ren Über­zeu­gun­gen über Bord gewor­fen, ja pla­ka­tiv aus­ge­drückt sie sozu­sa­gen ver­ra­ten, so wäre das – aus mei­ner per­sön­li­chen mora­li­schen Per­spek­ti­ve – zwar äußerst scha­de, jedoch kon­se­quent und hät­te es ver­dient, respek­tiert zu wer­den. Genau das ist jedoch nicht der Fall. Unver­än­dert gilt ihr Spott und Hohn den Lang­wei­lern und Spie­ßern, wie sie sagen, die in all den seriö­sen Berufs­fel­dern von Ban­ken bis zu Unter­neh­mens­be­ra­tun­gen ihr Geld ver­die­nen, und auch wei­ter­hin gehen sie mit der Ver­ach­tung der Wer­te hau­sie­ren, die die­je­ni­gen Insti­tu­tio­nen ver­tre­ten, für die sie nun selbst tätig sind. Dass sie selbst dazu­ge­hö­ren, wis­sen sie, und doch ist ihr Ver­hal­ten kein Aus­druck von kri­ti­scher Selbst­iro­nie. Sie sind nicht gewor­den, wer sie nie wer­den woll­ten, son­dern sie spie­len eine Rol­le, sie insze­nie­ren sich, ver­kau­fen sich, zie­hen Mas­ken auf.

Auf der einen Sei­te haben sie ihre Über­zeu­gun­gen behal­ten, doch auf der ande­ren Sei­te agie­ren sie genau ent­ge­gen­ge­setzt. Ihre Über­zeu­gun­gen sind Sonn­tags­über­zeu­gun­gen gewor­den, die unter der Woche in den Schrank gestellt wer­den, und sie selbst haben durch den Druck der öko­no­misch-rea­len Situa­ti­on eine kom­pli­zier­te Aus­prä­gung mul­ti­pler Per­sön­lich­kei­ten und mora­li­scher Fle­xi­bi­li­tät ent­wi­ckelt, die es ihnen erlaubt, meh­re­re sich wider­spre­chen­de Pake­te aus Hand­lungs­mus­tern, Idea­len und Über­zeu­gun­gen in der eige­nen Per­son zu vereinen.

Sie über­neh­men eine Rol­le. Sie haben ein Dreh­buch zuge­schickt bekom­men, das ihnen nicht gefällt, des­sen ihnen zuge­spro­che­ne Rol­le sie inner­lich eigent­lich ableh­nen – und doch spie­len sie sie. An frei­en Tagen läs­tern sie mit ihren Freun­den und Bekann­ten über das, was sie an Arbeits­ta­gen selbst ver­kör­pern. Wenn jemand auf einer Par­ty sei­ne Ansicht zum Aus­druck bringt, er fän­de Arbeit zum Kot­zen, dann fin­den sie das super, so rich­tig unter­stüt­zens­wert, sie klop­fen dem Muti­gen soli­da­risch auf die Schul­ter und geben ihm Recht. Doch wenn am dar­auf­fol­gen­den Mon­tag ein Kol­le­ge mit der glei­chen Ein­stel­lung am Arbeits­platz erscheint und dafür Ärger kas­siert, rau­nen sie bloß noch „der Idi­ot ist selbst schuld!“ und wen­den sich kopf­schüt­telnd ihrer Arbeit zu.

Sie sind kei­ne Heuch­ler – in unter­schied­li­chen Situa­tio­nen glau­ben sie tat­säch­lich ver­schie­de­ne, teils dia­me­tral gegen­sätz­li­che Din­ge und ver­tre­ten ein­an­der wider­spre­chen­de Ansich­ten, ohne die­se Wider­sprüch­lich­keit bewusst zu erfas­sen. Kurz: Ihre neue Rol­le ver­bie­tet es, eine authen­ti­sche Per­sön­lich­keit zum Aus­druck zu brin­gen, ihre Per­sön­lich­keit, son­dern spal­tet die eige­ne Iden­ti­tät in meh­re­re ver­schie­de­ne Schein-Iden­ti­tä­ten auf, die stets dort wirk­sam sind und die eige­ne Per­son mög­lichst ertrag­reich ver­kau­fen, wo sie als ange­mes­sen erschei­nen. Befeu­ert wird der­ar­ti­ges Ver­hal­ten durch wider­sprüch­li­che gesell­schaft­li­che Anfor­de­run­gen, wie etwa Pla­nungs­kom­pe­tenz und Risi­ko­be­reit­schaft, Fle­xi­bi­li­tät und Ver­läss­lich­keit, Kon­sum­freu­dig­keit und Abs­ti­nenz, Frei­heit und Kon­for­mi­tät, Team­fä­hig­keit und Ego­is­mus, Fami­li­en­sinn und stän­di­ge Mobilität.

Die­ses Ver­hal­ten drückt dabei nicht bloß die harm­lo­se Anpas­sung an äuße­re Umstän­de aus, wie sie in jeder Situa­ti­on vor­han­den ist, son­dern ver­kör­pert das all­ge­gen­wär­ti­ge Sich-Ver­kau­fen und die damit ver­bun­de­ne und stets mit­schwin­gen­de Selbstreg(ul)ierung, die dafür sorgt, sich aus Angst vor nega­ti­ven Kon­se­quen­zen, bei­spiels­wei­se von Sei­te des Arbeits­ge­bers, in jeder Situa­ti­on den Anfor­de­run­gen ent­spre­chend zu ver­mark­ten. Wer sich nicht rich­tig ver­kauft, also sich selbst zur Ware erklärt und die eige­ne Ver­wert­bar­keit auto­nom maxi­miert und ent­spre­chend anpreist, sei es nun am Arbeits­platz, in der Dis­co oder in der Uni­ver­si­tät, gilt als hoff­nungs­lo­ser Verlierer.

Jeder steht dabei für sich allei­ne, denn so muss es sein. In der Welt der Selbst­dar­stel­lung und des Sich-selbst-Ver­kau­fens ist jeder ande­re der poten­ti­el­le Feind, der sich schließ­lich eben­falls mög­lichst erfolg­reich ver­kau­fen möch­te. Mit­men­schen wer­den redu­ziert auf Kon­kur­ren­ten. Die­se para­no­ide Atmo­sphä­re des stän­di­gen Miss­trau­ens und der Angst pro­du­ziert ein Ver­hal­ten, das sich schließ­lich auch auf die eige­ne Per­sön­lich­keit und das Ver­hält­nis zu den Mit­men­schen aus­wirkt und dort selbst das Ver­hält­nis zu den­je­ni­gen mit zuneh­men­der Distanz belegt, die einem eigent­lich am nächs­ten ste­hen. Die ego­is­ti­schen und kal­ku­lie­rend-ratio­na­len Durch­set­zungs­stra­te­gien, die im Berufs­le­ben zumeist nahe­ge­legt oder gar auf­ge­zwun­gen wer­den, trans­por­tie­ren sich bis ins Pri­va­te, wo sie sich in der aus­tausch­ba­ren Unver­bind­lich­keit kühl berech­nen­der Ver­hält­nis­se zum Mit­men­schen niederschlagen.

Freund­schaf­ten, so wie alle Bezie­hun­gen zu ande­ren Men­schen, wer­den in die­ser Welt der tota­len Ver­wer­tung und Selbst­ver­wer­tung eben­so als Waren begrif­fen, die nütz­lich und dien­lich sein sol­len, wie alles ande­re auch. Sie sind unver­bind­lich und ober­fläch­lich. Man ver­kauft sich jedem neu­en sozia­len Kon­takt auf eine ande­re Wei­se, um ihm das zu prä­sen­tie­ren, was er sehen möch­te, und maxi­miert dadurch den Erfolg des Selbst­ver­kau­fens. Mas­ken wer­den auf­ge­zo­gen, Rol­len gespielt, Auf­trit­te geübt. Für jeden Kon­takt ent­steht ein neu­es sozia­les Ich, das eine mög­lichst über­zeu­gen­de Fik­ti­on dar­stellt, und die wirk­li­che Per­sön­lich­keit, die Authen­ti­zi­tät der eige­nen Per­son, ver­kriecht sich aus Angst im stil­len Käm­mer­lein, um die auf­ge­bau­ten Illu­sio­nen nicht zu zer­stö­ren. Einen ande­ren Men­schen an sich her­an­zu­las­sen wird als poten­ti­el­le Schwä­che dis­kre­di­tiert, die nur dann in Kauf genom­men wer­den kann, wenn es der eige­nen Lage dien­lich ist, wenn es bei­spiels­wei­se zu Pres­ti­ge­ge­winn oder finan­zi­el­lem Vor­teil führt, zu Pro­blem­lö­sun­gen bei­trägt oder ein den all­ge­gen­wär­ti­gen Druck aus­glei­chen­des Amü­se­ment verspricht.

Stra­te­gien aus der so genann­ten Arbeits­welt, die dort unter Vor­spie­lung eben sol­cher Rol­len und dem Erzeu­gen von Fik­tio­nen zu Erfolg füh­ren sol­len, wer­den nach eini­ger Zeit kri­tik­los in intims­te Berei­che des eige­nen Lebens über­nom­men und mün­den dar­in, den Betrug und die Illu­si­on als ange­mes­se­ne Grund­la­gen zwi­schen­mensch­li­cher Bezie­hun­gen und sogar Part­ner­schaf­ten anzu­se­hen, ohne zu begrei­fen, dass die Über­tra­gung die­ser Ver­hal­tens­wei­sen in eben die­se Sphä­ren, die stets zwin­gend authen­ti­scher Per­sön­lich­kei­ten und Ver­hal­tens­wei­sen bedür­fen, zwangs­läu­fig zu Schwie­rig­kei­ten füh­ren wird. So ist es kein Wun­der, wenn ent­spre­chen­de Freund­schaf­ten oder Part­ner­schaf­ten zerbrechen.

All die­sen Ver­lus­ten wird häu­fig mit dem Ver­such der Umin­ter­pre­ta­ti­on begeg­net: Die Unver­bind­lich­keit, das berech­nen­de Ver­hal­ten und das illu­so­ri­sche Rol­len­spiel sei­en Aus­druck und Not­wen­dig­keit der Frei­heit des eigens selbst­be­stimm­ten Lebens­ent­wurfs. Nur durch das Rol­len­spiel kön­ne man die eige­ne Per­sön­lich­keit vor der feind­li­chen Außen­welt schüt­zen, lau­tet ein ande­rer Ver­such der posi­ti­ven Umdeu­tung, der nicht begreift, dass das Unter­drü­cken und dar­aus de fac­to resul­tie­ren­de Abschaf­fen die­ser authen­ti­schen Per­sön­lich­keit nicht zu deren Erhal­tung bei­trägt. Die­ser Selbst­be­trug erlaubt es, all die nega­ti­ven Kon­se­quen­zen, die sich dar­aus erge­ben, als unver­meid­lich abzu­stem­peln, als hin­der­lich bei der eige­nen Ver­mark­tung. Es ent­steht ein Typus Mensch, der sei­ne fik­tio­na­len Schein-Per­sön­lich­kei­ten, die damit ein­her­ge­hen­de Selbst­ent­frem­dung und das von Kal­kül bestimm­te Kon­kur­renz- und Nutz­den­ken gegen­über sei­nen Mit­men­schen als etwas Posi­ti­ves begreift, das ihn zum Erfolg führt.

Ent­steht dabei eine Gesell­schaft, in der wir uns wohlfühlen?

Für einen Arbeits­platz, den sie has­sen, für eine Aus­bil­dung, die sie gar nicht wol­len, oder sogar nur für ein Prak­ti­kum, das wohl die nie­ders­te Form der Aus­beu­tung dar­stellt, tun sie alles.

Sie leug­nen ihre eige­ne Mei­nung. Sie leug­nen ihre Träu­me. Sie leug­nen ihre Idea­le. Sie leug­nen ihre Ver­gan­gen­heit. Sie leug­nen, was sie sind. Sie zen­sie­ren ihre Inter­net-Auf­trit­te. Sie wol­len nicht zu dem ste­hen, was sie sagen und den­ken. Sie kon­trol­lie­ren, was man bei Goog­le über sie her­aus­fin­den kann, und wenn ihnen etwas nicht gefällt, dann wol­len sie das ändern. Sie neh­men Bil­der aus dem Netz, die sie viel­leicht in einem schlech­ten Licht dar­stel­len könn­ten. Sie wol­len glänzen.

Sie haben stän­dig die Sche­re im Kopf. Sie wol­len nicht auf­fal­len. Zumin­dest nicht nega­tiv. Doch weil es ein­fa­cher ist, über­haupt nicht auf­zu­fal­len, gehen sie die­sen Weg. Sie buckeln nach oben und sie tre­ten nach unten. Sie kuschen und gehorchen.

Sie brau­chen Men­schen, die ihnen sagen, was sie tun sol­len. Sie wol­len nicht allei­ne lau­fen, nicht ohne Füh­rung, nicht ohne Gelän­der. Trotz­dem sind sie ein­sam, auch wenn sie nicht allein sein mögen. Sie wis­sen nicht, wer sie sind, aber das inter­es­siert sie auch gar nicht. Denn sie sind, was ande­re von ihnen ver­lan­gen. Macht das glücklich?

Wie Wiglaf Dros­te so tref­fend schrieb:

Sie wol­len nicht frei sein, also sol­len alle ande­ren auch nicht dür­fen. (…) Wenn man ihnen ihre Leit­plan­ken schon nicht weg­neh­men kann, darf man immer­hin drü­ber­weg hüp­fen. Inner­halb der Leit­plan­ken­kul­tur gibt es nichts zu fin­den, das sich zu suchen lohnte.
(Wiglaf Dros­te bei taz.de)