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Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden.
(Sokrates)

In einem Projekt, an dem ich bis vor circa einem Jahr beteiligt war, fiel einer der Mitarbeiter wiederholt durch Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit und mangelnde Kommunikationsfähigkeit auf. Nennen wir diese Person hier einfach einmal Peter. Peters Verhalten führte mitunter so weit, dass es den gesamten Fortschritt des Projekts erheblich verzögerte und zeitweise sogar das Projekt als Ganzes gefährdete.

Wenn Peter vom Rest des Teams zur Rede gestellt wurde, gelang es ihm meist, aufgrund seiner charismatischen Ausstrahlung alle anderen Mitglieder mittels Ausreden zu besänftigen und auf die Zukunft zu vertrösten.

Einmal allerdings, nach unzähligen solcher Verzögerungen und Unzuverlässigkeiten, kam es dann schließlich doch zu einer ernsten Aussprache, in der sich das Team recht vernünftig, wie mir schien, mit dem Problem auseinandersetzte und Peter recht freundlich, aber doch deutlich klar machte, weshalb ein solches Verhalten nicht nur das Projekt gefährde, sondern auch zwischenmenschlich im allgemeinen recht enttäuschend sei. Danach besserte sich sein Verhalten vorübergehend ein wenig, doch gelöst wurde das Problem im Endeffekt nur, indem Peter schlicht weniger Aufgaben zugeteilt wurden, die für das Projekt wichtig waren. Gelernt hatte er aus dem Gespräch anscheinend nichts.

Ein halbes Jahr später ungefähr unterhielt ich mich mit zwei anderen Teammitgliedern noch einmal über das Projekt im Allgemeinen sowie über das problematische Verhalten Peters im Speziellen. Einer der beiden besuchte auch in der Zeit nach Projektabschluss noch diverse Kurse, an denen auch Peter teilnahm, und konnte uns somit von ein paar zusätzlichen Eindrücken erzählen. Wir fragten uns, ob Peter langfristig aus seinen Fehlern und unseren Diskussionen irgendetwas gelernt hatte.

Die Antwort, die wir uns gaben, fiel recht ernüchternd aus und wurde von einem der beiden, mit denen ich mich unterhielt, prägnant zusammengefasst, indem er (nennen wir ihn Max) einen Satz zitierte, den Peter in der damaligen Diskussion zu seiner Verteidigung vorgebracht hatte: „Es ist bei mir halt so, dass ich den Kopf in den Sand stecke, wenn es Probleme gibt“.

Das Problematische an diesem einen Satz war nun nicht das Kopf-in-den-Sand-Stecken, sondern das unscheinbare „es ist bei mir halt so“. Max erklärte, es gebe seines Erachtens zwei Typen von Menschen, nämlich zum einen diejenigen, die glauben, Menschen könnten sich nicht ändern, und die anderen. Dieser eine Satz drückte laut Max in wenigen Worten alles über Peter aus, was hinsichtlich dieser zwei Typen von Bedeutung war: Peter gehört(e) zu ersteren.

Peter wird, darin waren wir uns einig, die gleichen Fehler wieder und immer wieder machen, denn er lernt nichts aus diesen Fehlern, will gar nichts daraus lernen, weil er nämlich glaubt, er sei „halt so“ – und nicht anders. Er nahm die Kritik zwar auf, zog daraus aber keine persönlichen Konsequenzen, weil das bedeutet hätte, sich selbst einzugestehen, etwas falsch gemacht zu haben, und weil das zugleich bedeuten würde, Engagement und Gedanken in die eigene Veränderung oder Weiterentwicklung stecken zu müssen, während die andere Lösung, die gewählte Lösung, doch so viel einfacher ist: Ich bin halt so – da kann man nichts machen.

Doch man kann, denn niemand ist „halt so“. „Ich bin halt so“ ist Schwachsinn. Es gibt kein fertiges Sein, keine abgeschlossene Persönlichkeit. „Ich bin halt so“ ist eine Ausrede und gleichzeitig eine selbsterfüllende Prophezeiung. Nur diejenigen, die diesen Glauben teilen, werden genau so bleiben. Wer sich selbst davon überzeugt, er sei „halt so“, wird sich auch immer wieder gleich verhalten, immer wieder die gleichen Fehler machen und diese Fehler als Bestätigung sehen, „halt so“ zu sein, anstatt daraus für die Zukunft irgendetwas zu lernen.

Eine andere Person verband diese mit beharrlicher Konsequenz vertretene Überzeugung, „halt so“ zu sein, mit noch einem anderen Dogma. Als ich sie einmal fragte, welche Entscheidungen sie bereue oder in welchen Fällen sie sich, im Nachhinein betrachtet, einmal falsch entschieden hätte oder sich heute anders entscheiden würde, antwortete sie mir, es gebe in ihrem Leben bisher keine solchen Entscheidungen. Zunächst glaubte ich noch, das sei nur ein Ausweichen, um der Beantwortung der Frage zu entgehen, doch was sie sagte, meinte sie tatsächlich vollkommen ernst, wie sich in der folgenden Zeit noch herausstellte.

Im Endeffekt bedeutet das, was sie damit ausdrückte, dass sie von sich selbst und für sich selbst glaubt, noch nie wirklich einen Fehler gemacht zu haben – nichts anderes sind Entscheidungen, die man bereut. Kann es einen solchen Menschen überhaupt geben? Ist das schlicht positives Denken in einer absurden, seiner auf die Spitze getriebenen Form? Oder Arroganz? Keine Entscheidungen zu bereuen heißt eben auch: Niemals um Verzeihung zu bitten, wenn man anderen auf die Füße tritt.

Um ihre Antwort zu erklären, argumentierte sie, dass sie nur dann wieder genau der selbe Mensch werden würde, der sie jetzt ist, wenn sie alle Entscheidungen, also auch Fehler, die uns prägten, erneut genauso treffen würde, wie sie sie tatsächlich getroffen hat. Würde sie sich an irgendeiner Stelle anders entscheiden, würde sie damit zugleich eine andere Persönlichkeit werden – dies würde sie gerne vermeiden, weil es das Schicksal eben so gewollt hätte und sie damit recht zufrieden sei.

Diese Argumentation ist so richtig wie trivial. Natürlich hatte sie Recht: Sie ist heute, wer sie ist, eben weil sie sich so entschieden hat, wie sie sich entschieden hat, und sie würde nur wieder genau der selbe Mensch werden, der sie jetzt ist, wenn sie alle Entscheidungen erneut genauso träfe. Bloß: Was sagt einem das? Alles und nichts.

Wenn sich ein Mensch tatsächlich die Frage stellen kann: „Würde ich alles, was ich in meinem Leben je getan habe, in der gleichen Situation wieder genauso machen?“, um dies dann mit Ja zu beantworten, halte ich das, egal bei wem, für Selbstbetrug. Etwas beim zweiten Mal anders zu machen, eine Entscheidung im Nachhinein zu revidieren, zeugt meines Erachtens keineswegs davon, eine andere Person sein zu wollen oder mit der eigenen Persönlichkeit unzufrieden zu sein. Es heißt nur, dass man aus Fehlern lernen kann, dass man nicht perfekt ist und sich auch nicht dafür hält. Völlig zu Recht sagte sie: Fehler prägen uns. Doch gerade aus diesem Grund halte ich es für vermessen, im Nachhinein – dieser rückblickenden Argumentation folgend – mit Kenntnis des Fehlers denselben noch einmal begehen zu wollen.

Zufriedensein und Entscheidungen zu bereuen schließt sich nicht aus. Im Gegenteil: Man kann mit sich selbst zufrieden sein und trotzdem Entscheidungen bereuen; man kann sogar mit sich selbst zufrieden sein, gerade weil man Entscheidungen bereut.

Ein zugespitztes Beispiel soll das Ganze verdeutlichen: Wenn ich weiß, dass eine meiner Entscheidungen einen Menschen das Leben kostete, welchen Grund sollte ich haben, diese Entscheidung noch einmal genauso zu treffen? Vielleicht hat sie für mich persönlich im Endeffekt dazu geführt, dass ich in Zukunft vorsichtiger bin, war für mich also alles in allem positiv, aber ermutigt oder entschuldigt das, sie noch einmal genau so zu treffen, um wieder genau der zu werden, der ich jetzt bin? Über metaphorische Leichen zu gehen und Fehler zu wiederholen, bloß um erneut derjenige zu werden, der man jetzt ist, zeugt vielleicht weniger von Selbstzufriedenheit als von Selbstgefälligkeit und einem egozentrischen Weltbild. Da scheint es wieder durch: Ich bin halt so – und nicht anders.

Ein wenig ähnelt diese Argumentation im Grunde Voltaires naiv-optimistischem Candide, der glaubt, alles sei gut und geschehe zu Recht, auch Krieg, Leid und Armut, da er sich in der besten aller möglichen Welten wähnt und folglich den jetzigen Zustand als den besten aller möglichen begreift. Somit ist alles gut, was geschieht und bis hierhin geschah. Pangloss, der Lehrer Candides, der ihm die Lehre der besten aller möglichen Welten ursprünglich nahegebracht hatte, sieht in allem Schlechten, das geschieht, etwas Gutes und rechtfertigt dessen Existenz, sei es Syphilis oder Krieg, aus einem relativierenden, anerkennenden Blickwinkel, anstatt es als Schlechtes wahrzunehmen und daran zu arbeiten, es zu ändern. Selbst als Candide am Ende, lange aus seinem Paradies vertrieben, soviel Leid erfahren und durchlebt hat, versucht Pangloss noch immer, alles Schlechte schönzureden, was selbst Candide mittlerweile nicht mehr ernst nehmen kann:

„Jegliche Begebenheit im menschlichen Leben gehört in die Kette der Dinge. Denn wären Sie nicht Baroneß Kunegundens halber mit derben Fußtritten aus dem schönsten aller Schlösser gejagt, von der Inquisition nicht eingezogen worden, hätten Sie nicht Amerika zu Fuße durchwandert, dem Herrn Baron nicht einen tüchtigen Stoß mit dem Degen versetzt, nicht all’ ihre Hammel aus dem guten Lande Eldorado eingebüßt, so würden Sie jetzt nicht hier eingemachten Zedrat und Pistazien essen.“

Wird diese Argumentation konsequent weitergeführt und dramatisiert, lässt sich damit von der Entscheidung zwischen Döner oder Pizza über Mobbing bis hin zu Mord alles schönreden, was zum heutigen Zustand führte. Ihr liegt der Glaube zugrunde, der Zustand, wie er ist, rechtfertige alles, was zu ihm führte, adle jedes Geschehen, gebe allem einen positiven Sinn, mache alles Schlechte gut. Nicht bloß ist das naiv und egozentrisch, sondern auch gefährlich, ob hinsichtlich des Zustands der Welt oder dem der eigenen Person.

Rückblickend betrachtet glaube ich, dass dies lediglich eine Rationalisierungsstrategie ist, sich die langjährig kultivierte „ich bin halt so“-Überzeugung mit einem Zirkelschluss makellos schönzureden: Wenn ich „halt so bin“, wie ich bin, und alles, was hierhin führte, gut ist, dann bin ich so, wie ich „halt bin“, perfekt. Kein Grund, das eigene Verhalten zu reflektieren, in Frage zu stellen oder gar zu ändern. Wenn ich durch meine Unzuverlässigkeit beispielsweise vergesse, anderen Leuten einen Termin abzusagen, für den sie extra 500km fahren müssen, dann ist das gar kein Fehler, denn so kommen die anderen wenigstens mal raus. So einfach kann das Leben sein. Was als flapsiger Spruch noch lustig ist, verkommt zu Selbstbetrug und Respektlosigkeit anderen gegenüber, sobald es jemand wirklich ernst meint.

In Wahrheit allerdings ist niemand von uns perfekt. Fehler, die ein Mensch macht und sich selbst eingesteht, sind normal und verzeihbar. Doch wenn ein Mensch, wie diese Beispielen zeigen, nicht bloß Fehler macht, sondern noch dazu seine Verhaltensweisen, die zu gerade diesen Fehlern führten, als „halt so“ und damit als unveränderlich begreift oder die Fehler als solche nicht einmal in Erwägung zieht, sondern stattdessen sich selbst und seiner Umwelt einredet, keine fehlerhaften Entscheidungen getroffen zu haben, wird solch ein Mensch auf lange Zeit unausstehlich und seine Fehler unverzeihlich. Sie geschehen dann auch tatsächlich immer wieder. 

Menschen ändern sich – wenn sie es wollen.

Ich glaube, niemand möchte die soziale Welt so sehen, wie sie ist; es gibt viele Arten, sie zu verleugnen; es gibt die Kunst, natürlich. Aber es gibt auch eine Form von Soziologie, die dieses bemerkenswerte Ergebnis zustandebringt, nämlich von der sozialen Welt zu reden, als redete sie nicht von ihr (…). Die Verneinung im Freudschen Sinne ist eine Form von Eskapismus. Wenn man vor der Welt, wie sie ist, fliehen will, kann man Musiker werden, Philosoph, Mathematiker. Aber wie flieht man vor ihr, wenn man Soziologe ist? Es gibt Leute, die das schaffen. Man braucht nur mathematische Formeln zu schreiben, Spieltheorieübungen oder Computersimulationen durchzuexerzieren. Wenn man wirklich die Welt wenigstens ein bißchen so sehen und so über sie reden will, wie sie ist, dann muß man akzeptieren, daß man sich immer im Komplizierten, Unklaren, Unreinen, Unscharfen usw. und also im Widerspruch zu den gewöhnlichen Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit befindet.
(Pierre Bourdieu – „Inzwischen kenne ich alle Krankheiten der soziologischen Vernunft“, in: Pierre Bourdieu, Jean-Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron – Soziologie als Beruf)

Damit die am meisten Begünstigten begünstigt und die am meisten Benachteiligten benachteiligt werden, ist es notwendig wie hinreichend, dass die Schule beim vermittelten Unterrichtsstoff, bei den Vermittlungsmethoden und -techniken und bei den Beurteilungskriterien die kulturelle Ungleichheit der Kinder (…) ignoriert. Anders gesagt, indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur. Die formale Gleichheit, die die pädagogische Praxis bestimmt, dient in Wirklichkeit als Verschleierung und Rechtfertigung der Gleichgültigkeit gegenüber der wirklichen Ungleichheit in Bezug auf den Unterricht und der im Unterricht vermittelten oder, genauer gesagt, verlangten Kultur. (…) Indem die Schule den Individuen nur deren Position in der sozialen Hierarchie genau entsprechende Erwartungen an die Schule zugesteht und unter ihnen eine Auswahl trifft, die unter dem Anschein der formalen Gleichheit die existierenden Unterschiede sanktioniert und konsekriert, trägt sie ineins zur Perpetuierung wie zur Legitimierung der Ungleichheit bei. Indem sie gesellschaftlich bedingten, von ihr aber auf Begabungsunterschiede zurückgeführten Fähigkeiten eine sich »unparteiisch« gebende und als solche weithin anerkannte Sanktion erteilt, verwandelt sie faktische Gleichheiten in rechtmäßige Ungleichheiten, wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterschiede in eine qualitative Differenz und legitimiert die Übertragung des kulturellen Erbes. (…) Indem [das Bildungssystem] den kulturellen Ungleichheiten eine formell mit den demokratischen Idealen übereinstimmende Sanktion erteilt, liefert es die beste Rechtfertigung für diese Ungleichheiten.
(Pierre Bourdieu – Die konservative Schule, in: Wie die Kultur zum Bauern kommt)

„Was hat sich geändert?“

– „Ihr. Die Studenten, die vor mir sitzen.“

„Weil wir schlauer sind, wissen wie der Hase läuft, weil wir für diese Scheißer einfach nicht ins Gras beißen wollen…“

– „Weil ihr so viel Abstand wie möglich zwischen euch und die wahre Welt bringen wollt und diese Scheißer (…), die bauen auf eure Apathie, die bauen auf eure vorsätzliche Ignoranz. Darauf begründen die ihre Strategien. Ihr gebt die Vorlage und die probieren aus, wie weit sie gehen können.“

„Jetzt bin ich schuld an allem..? Ich bin schuld, weil ich mir ein schönes Leben machen will, weil ich es kann, weil ich clever genug dafür bin? Wollen Sie mich beschuldigen, weil ich keine Lust hab‘, Seite an Seite mit Ihnen auf ’nem alternativen Bauernhof zu schuften? Doc, Sie reden echt schon genau so wie meine Eltern: Dauernd die Leier, dass ich es ja so viel schöner habe als sie früher und dann, dann machen sie mir die Hölle heiß, dass ich die Frechheit habe, es zu genießen.“

– „Todd, was nützt Ihnen der 90.000 Dollar teure Benz, wenn Sie nicht nur einen leeren Tank haben, sondern auch die Straßen und Highways so runtergekommen sind wie in der Dritten Welt? Wenn Ihre ganzen Tiraden über Kongress und Politik wahr wären, wenn es so schlimm steht, so schlimm, wie Sie sagen, wenn tausende Amerikaner gefallen sind und es täglich mehr werden, wie vermutlich im Moment, verraten Sie mir: Wie können Sie Ihr schönes Leben genießen? Rom steht in Flammen, so sieht’s aus! Und das Problem sind nicht die Brandstifter, da ist Hopfen und Malz verloren, das Problem sind wir, wir alle, die untätig sind, die Zeit vertun. Wir alle lavieren nur um das Feuer herum. Ich sag‘ Ihnen was: Es gibt Menschen da draußen, die jeden Tag dafür kämpfen, die Welt ein wenig besser zu machen…“

„Sie meinen, wer wagt gewinnt und wer nicht wagt, kann nicht gewinnen, oder was? (…) Aber worin liegt der Unterschied, wenn man am Ende sowieso verliert?“

– „Du hast etwas unternommen.“ 

(Von Löwen und Lämmern)

Wenn ich eine der vielen Polit- oder Gesellschafts-Talkshows sehe, womit nicht deren wenig ernstzunehmende nachmittägliche Derivate auf den privaten Sendern gemeint sind, rege ich mich meist recht schnell auf. Es ist relativ egal, ob die Diskussion sich dabei um politische, um gesellschaftliche oder um persönliche Themen dreht und ob ich mich mit einer Seite der Diskussion identifizieren kann oder nicht. Was mich aufregt, ist der jeweilige Drang, alle anderen mit missionarischem Eifer von der eigenen Position und der eigenen Art zu leben überzeugen zu wollen. Vegetarier wollen Fleischesser zu Vegetariern konvertieren, Faulenzer wollen Karrieremenschen zum lockeren Leben erziehen, Operngänger diffamieren DSDS-Gucker ob ihrer Kulturlosigkeit und jeweils entsprechend umgekehrt. Warum eigentlich?

Ich streite gerne mit anderen Leuten über Themen, bei denen wir uns nicht einig sind. Es macht Spaß und erweitert den eigenen Horizont. Von außen ist das, was ich tue, für einen objektiven Beobachter wahrscheinlich nur schwer von Überzeugungsarbeit zu unterscheiden (und vielleicht tue ich deswegen den beschriebenen Personen teilweise unrecht), doch meine eigene Motivation dazu ist keineswegs das missionarische Bestreben, den anderen von meiner individuellen Position zu überzeugen und das Ganze ideologisch womöglich noch mit der vermeintlichen Erziehung zu einer besseren Welt aufzuladen, wie es so oft praktiziert wird, sondern eine weitaus egoistischere:

Ich möchte für mich selbst – und zwar nur für mich selbst – die beste Art zu leben finden, die ich gerne guten Gewissens lebe und die mir sowohl Spaß als auch ein befriedigendes Leben ermöglicht, so schwammig und banal das nun auch klingen mag. Außerdem hilft es mir, meine Mitmenschen und ihre eigene Art zu leben besser zu verstehen.

Es gibt keinen einen richtigen Weg zu leben, der für alle Menschen allgemeingültig ist. Alle anderen von meiner Art zu leben, meinen Standpunkten und meinen Meinungen überzeugen zu wollen, spricht für mich recht deutlich von einer intoleranten Grundhaltung und überschätzender Verherrlichung der eigenen Positionen.

Deswegen liebe ich es, mit Menschen zu diskutieren, die eine völlig andere Meinung vertreten als ich selbst. Ich diskutiere gerne mit Parteimitgliedern jeglicher Art, mit Veganern, mit fundamentalistischen Gentechnikgegnern oder -befürwortern, mit Gläubigen und mit Anhängern eines völlig freien Marktes, mit Befürwortern von Studiengebühren und mit unbeugsamen Globalisierungsgegnern genauso wie mit den Advokaten globaler Ausbeutung, weil ich mit jeder dieser Diskussionen herausfinden möchte, welche Argumente der andere vorbringen kann, über welche Erfahrungen er verfügt, wie er zu seiner Meinung gekommen ist und wie konsequent er sie vertreten kann. Letztlich also, um herauszufinden, wie überzeugend er ist. Nicht primär, weil ich ihn überzeugen möchte, sondern weil er vielleicht Argumente hervorbringt, die ich nachvollziehen kann, die mir sinnvoll und stichhaltig erscheinen oder mich wenigstens ins Grübeln bringen, die mir letztendlich also helfen, meine eigenen Positionen, Meinungen und Überzeugungen fundiert zu untermauern oder zu hinterfragen und damit schließlich dazu beitragen, meinen eigenen, für mich – und nur für mich – besten Weg zu finden.

Wenn ich alleine etwas daraus mitnehme, ist das bereits gut, doch wenn idealerweise alle beteiligten Diskutanten im Zuge als auch in Folge der Diskussion ihre Positionen kritisch reflektieren, ist das ein voller Erfolg, denn nicht mehr und nicht weniger ist dabei mein vornehmliches Ziel. Wenn einer oder mehrere der Beteiligten, das beinhaltet selbstverständlich auch mich selbst, infolgedessen ihre Meinung ändern, ist das ein willkommener Effekt, denn wir alle lernen ständig dazu, aber nicht wesentlicher Antrieb und sollte das auch nicht sein.

Der Unterschied klingt entweder trivial oder höchst komplex, denn es geht darum, potentiell überzeugend zu sein, also die eigene Meinung konsistent, fundiert, konsequent und überzeugt zu vertreten, ohne überzeugen, ohne missionieren zu wollen, dabei aber immer offen für eigene Überzeugung durch neue Argumente zu sein.

Überzeugungsarbeit ist immer Machtdurchsetzung. Wer behauptet, DSDS-Gucker verfügten über kein Verständnis für Kultur und Faulenzer würden ihr Leben verschwenden, übt damit Macht aus, indem er die Deutungshoheit anstrebt und durchzusetzen versucht, was unter legitimer Kultur und Lebensführung zu verstehen sei. Alle, die nicht diesen Vorstellungen entsprechen, werden dadurch im- oder gar explizit für fehlgeleitet und ihre Lebensweise für falsch erklärt, wohingegen die eigene stets die richtige – die angeblich eine richtige – ist. Wie so vieles dreht sich hierbei alles um Macht und weniger um Fragen persönlicher Vorlieben, als die es kaschiert wird, denn ginge es lediglich um persönliche Vorlieben, bestünde nicht das Bestreben, andere von eben diesen überzeugen zu wollen.

Das einzige – und hier wird es paradox -, wovon ich andere überzeugen möchte, ist auf der einen Seite, dass es ein unvernünftiges, weil tendenziell totalitäres Unterfangen ist, andere verbissen von der eigenen Art zu leben überzeugen zu wollen, sowie auf der anderen Seite, offen für Überzeugung durch Argumente zu bleiben, denn sonst verrennt man sich in Fundamentalismus.

Nach etwa einem halben Jahr hatte sie das bittere Gefühl, alle Menschen enttäuscht zu haben. Sie hatte ein Büchlein voll Adressen, aber wagte niemand mehr anzurufen. Womit hatte sie alle diese freundlichen Freunde enttäuscht? Sie wußte es nicht, sie erfuhr es nicht. Es bedrückte sie ernsthaft. Indessen, und dies verwirrte Sibylle noch mehr, hatte sie überhaupt nichts verscherzt, ganz und gar nicht; traf man sich zufällig, tönte es genau wie beim erstenmal: Hallo Sibylle! und auf der andern Seite war keine Spur von Enttäuschung. All diese offenen und so selbstverständlichen Leute, schien es, erwarteten nicht mehr von einer menschlichen Beziehung; sie brauchte nicht weiterzuwachsen, diese so freundliche Beziehung. Und das war für Sibylle wohl das Traurige; nach zwanzig Minuten ist man mit diesen Menschen so weit wie nach einem halben Jahr, wie nach vielen Jahren, es kommt nichts mehr hinzu. Es bleibt bei dem offenherzigen Wunsch, daß es dem andern wohlergehe. Man ist befreundet, um es in irgendeiner Weise nett zu haben, und im übrigen gibt es ja Psychiater, so etwas wie Garagisten für Innenleben, wenn einer Defekte hat und nicht selber flicken kann. Jedenfalls soll man nicht seine Freunde mit einer traurigen Geschichte belasten; sie haben dann auch, in der Tat, nichts zu liefern als einen ebenso allgemeinen wie unverbindlichen Optimismus.
(Max Frisch – Stiller)

Viel liest man über die negativen Auswirkungen, die es haben kann, füttert man soziale Netzwerke, die eigene Homepage oder Blogs mit persönlichen Informationen. Wenngleich vieles davon auch zutreffend ist und die optimierte Selbstinszenierung oder Öffentlichmachung intimster Details bisweilen ins Pathologische abdriftet, so ist ein immer wieder erwähnter Punkt doch unter Umständen auch nützlich: Schnüffelei durch den aktuellen oder einen potentiellen Arbeitgeber.

Das Profil in sozialen Netzwerken, die eigene Homepage und Aussagen in Blogs werden mit der Schere im Kopf verfasst oder in vorauseilendem Gehorsam zensiert, um der Angst zu begegnen, der tatsächliche oder potentielle Arbeitgeber könnte Details über Privatleben, politische oder sexuelle Orientierung, Vorlieben und Abneigungen oder persönliche Meinungen erfahren und als – natürlich inoffizielle – Grundlage für negative Konsequenzen heranziehen, sei es das Ablehnen einer Bewerbung und Nichteinstellung, das Übergehen bei einer Beförderung oder in Extremfällen die Kündigung. Warum?

Genauso, wie diese dreiste Schnüffelei durch wenig Vertrauen verdienende Unternehmen, denen das Privatleben ihrer Mitarbeiter, solange es die Arbeit selbst nicht beeinträchtigt, nicht Grund für negative Sanktionen sein darf, soll und muss, in die eine Richtung funktioniert, wirkt sie auch in die andere, nämlich als vorzüglicher Arbeitgeberfilter. Möchte man für eine Firma arbeiten, die herumschnüffelt und einen Menschen nicht einstellt, weil er persönliche, vielleicht sogar peinliche Partyfotos in ein soziales Netzwerk geladen hat? Möchte man für eine Firma arbeiten, die eine politische Meinung jenseits der eigens propagierten als Knock-Out-Kriterium betrachtet? Wenn man nicht eingestellt wird, weil man sich in dieser oder jener Organisation engagiert, ist das dann, abseits vom Ökonomischen, wirklich ein Grund zur Trauer oder nicht eher zur Freude darüber, dass man nicht Teil eines Unternehmen mit solchen Praktiken geworden ist? Was für ein Zustand ist das, wenn man vorsichtig sein muss, welche politischen oder persönlichen Aussagen man trifft?

„Selbst schuld“, hört man süffisant von denjenigen, die sich entsprechend solcher an sie gestellten Erwartungen zensieren und die eigene Persönlichkeit demütig verstecken. „Selbst schuld“, kann man ihnen eigentlich nur antworten.

Man kann im Prenzlauer Berg einfach im linken Habitus weiterleben. Das ist ja das Schöne. Man kann sich tolerant fühlen, weil Toleranz nicht auf die Probe gestellt wird. (…) Der Schriftsteller Maxim Biller nennt den Prenzlauer Berg mittlerweile ironisch eine »national befreite Zone«.

Der Prenzlauer Berg wirkt vielerorts, als habe es nie so etwas wie eine Unterschichtendebatte gegeben, ein Demografieproblem, Migration. Hier herrscht der Bionade-Biedermeier. Die 100000 Zugezogenen haben eine neue Stadt geschaffen, doch wem kommt diese zivilisatorische Leistung zugute, außer ihnen selbst? Ihr Prenzlauer Berg ist ein Ghetto, das ohne Zaun auskommt – weil es auch ohne zunehmend hermetisch wirkt. Die Zuwanderung wird über den Preis pro Quadratmeter gesteuert und über den enormen Anpassungsaufwand, dem man sich hier leicht aussetzt. Wer nicht das Richtige isst, trinkt, trägt, hat schnell das Gefühl, der Falsche für diesen Ort zu sein. Man glaubt so offen zu sein und hat sich eingeschlossen.

Zwar ist Milieubildung ein normales soziales Phänomen, weltweit sortieren sich die Menschen nach Lebensstil, Bildung, Vermögen – das Besondere am Prenzlauer Berg aber ist, dass er nicht wahrhaben will, dass er ganz anders ist, als er zu sein glaubt.
(Henning Sußebach bei ZEIT Online)

Wie Christian Ulmen es so treffend auf den Punkt gebracht hat:

Die Definition von Spießigkeit ist für mich, sobald jemand nicht in der Lage ist, über seinen Tellerrand hinauszuschauen. Wenn jemand intolerant ist und anderes nicht zulässt, ist er ein Spießer. Das ist der Hausmeister, der nicht will, dass man draußen Fußball gegen die Garagentore spielt, weil es so laut ist. Oder die Oma, die sich wahnsinnig darüber aufregt, weil ein Punker einen Irokesenhaarschnitt hat, weil sich das nicht anschickt. Das Leben der anderen nicht zu akzeptieren – das ist spießig, meine ich.
(Christian Ulmen bei Spiegel Online)

Sie haben sich immer über die biederen Schlipsträger und Hosenanzugträgerinnen lustig gemacht, die bei Banken, Versicherungen und Unternehmensberatungen arbeiten oder bei anderen, genauso miefigen wie langweiligen Firmen untergekommen sind und dort ihr trostloses Dasein verrichten. Das war ihre Sichtweise. So wollten sie nie enden, diese Perspektive haben sie stets verabscheut. Nun arbeiten sie selbst bei solcherart Banken, Versicherungen, Unternehmensberatungen, Marktforschungsinstituten oder in ähnlichen Feldern, die den gleichen kalten Charme versprühen, oder streben es an, das zu tun. Warum?

Verändert haben sie sich nicht. Das ist das Traurigste daran. Hätten sie sich geändert, hätten sie ihre früheren Überzeugungen über Bord geworfen, ja plakativ ausgedrückt sie sozusagen verraten, so wäre das – aus meiner persönlichen moralischen Perspektive – zwar äußerst schade, jedoch konsequent und hätte es verdient, respektiert zu werden. Genau das ist jedoch nicht der Fall. Unverändert gilt ihr Spott und Hohn den Langweilern und Spießern, wie sie sagen, die in all den seriösen Berufsfeldern von Banken bis zu Unternehmensberatungen ihr Geld verdienen, und auch weiterhin gehen sie mit der Verachtung der Werte hausieren, die diejenigen Institutionen vertreten, für die sie nun selbst tätig sind. Dass sie selbst dazugehören, wissen sie, und doch ist ihr Verhalten kein Ausdruck von kritischer Selbstironie. Sie sind nicht geworden, wer sie nie werden wollten, sondern sie spielen eine Rolle, sie inszenieren sich, verkaufen sich, ziehen Masken auf.

Auf der einen Seite haben sie ihre Überzeugungen behalten, doch auf der anderen Seite agieren sie genau entgegengesetzt. Ihre Überzeugungen sind Sonntagsüberzeugungen geworden, die unter der Woche in den Schrank gestellt werden, und sie selbst haben durch den Druck der ökonomisch-realen Situation eine komplizierte Ausprägung multipler Persönlichkeiten und moralischer Flexibilität entwickelt, die es ihnen erlaubt, mehrere sich widersprechende Pakete aus Handlungsmustern, Idealen und Überzeugungen in der eigenen Person zu vereinen.

Sie übernehmen eine Rolle. Sie haben ein Drehbuch zugeschickt bekommen, das ihnen nicht gefällt, dessen ihnen zugesprochene Rolle sie innerlich eigentlich ablehnen – und doch spielen sie sie. An freien Tagen lästern sie mit ihren Freunden und Bekannten über das, was sie an Arbeitstagen selbst verkörpern. Wenn jemand auf einer Party seine Ansicht zum Ausdruck bringt, er fände Arbeit zum Kotzen, dann finden sie das super, so richtig unterstützenswert, sie klopfen dem Mutigen solidarisch auf die Schulter und geben ihm Recht. Doch wenn am darauffolgenden Montag ein Kollege mit der gleichen Einstellung am Arbeitsplatz erscheint und dafür Ärger kassiert, raunen sie bloß noch „der Idiot ist selbst schuld!“ und wenden sich kopfschüttelnd ihrer Arbeit zu.

Sie sind keine Heuchler – in unterschiedlichen Situationen glauben sie tatsächlich verschiedene, teils diametral gegensätzliche Dinge und vertreten einander widersprechende Ansichten, ohne diese Widersprüchlichkeit bewusst zu erfassen. Kurz: Ihre neue Rolle verbietet es, eine authentische Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, ihre Persönlichkeit, sondern spaltet die eigene Identität in mehrere verschiedene Schein-Identitäten auf, die stets dort wirksam sind und die eigene Person möglichst ertragreich verkaufen, wo sie als angemessen erscheinen. Befeuert wird derartiges Verhalten durch widersprüchliche gesellschaftliche Anforderungen, wie etwa Planungskompetenz und Risikobereitschaft, Flexibilität und Verlässlichkeit, Konsumfreudigkeit und Abstinenz, Freiheit und Konformität, Teamfähigkeit und Egoismus, Familiensinn und ständige Mobilität.

Dieses Verhalten drückt dabei nicht bloß die harmlose Anpassung an äußere Umstände aus, wie sie in jeder Situation vorhanden ist, sondern verkörpert das allgegenwärtige Sich-Verkaufen und die damit verbundene und stets mitschwingende Selbstreg(ul)ierung, die dafür sorgt, sich aus Angst vor negativen Konsequenzen, beispielsweise von Seite des Arbeitsgebers, in jeder Situation den Anforderungen entsprechend zu vermarkten. Wer sich nicht richtig verkauft, also sich selbst zur Ware erklärt und die eigene Verwertbarkeit autonom maximiert und entsprechend anpreist, sei es nun am Arbeitsplatz, in der Disco oder in der Universität, gilt als hoffnungsloser Verlierer.

Jeder steht dabei für sich alleine, denn so muss es sein. In der Welt der Selbstdarstellung und des Sich-selbst-Verkaufens ist jeder andere der potentielle Feind, der sich schließlich ebenfalls möglichst erfolgreich verkaufen möchte. Mitmenschen werden reduziert auf Konkurrenten. Diese paranoide Atmosphäre des ständigen Misstrauens und der Angst produziert ein Verhalten, das sich schließlich auch auf die eigene Persönlichkeit und das Verhältnis zu den Mitmenschen auswirkt und dort selbst das Verhältnis zu denjenigen mit zunehmender Distanz belegt, die einem eigentlich am nächsten stehen. Die egoistischen und kalkulierend-rationalen Durchsetzungsstrategien, die im Berufsleben zumeist nahegelegt oder gar aufgezwungen werden, transportieren sich bis ins Private, wo sie sich in der austauschbaren Unverbindlichkeit kühl berechnender Verhältnisse zum Mitmenschen niederschlagen.

Freundschaften, so wie alle Beziehungen zu anderen Menschen, werden in dieser Welt der totalen Verwertung und Selbstverwertung ebenso als Waren begriffen, die nützlich und dienlich sein sollen, wie alles andere auch. Sie sind unverbindlich und oberflächlich. Man verkauft sich jedem neuen sozialen Kontakt auf eine andere Weise, um ihm das zu präsentieren, was er sehen möchte, und maximiert dadurch den Erfolg des Selbstverkaufens. Masken werden aufgezogen, Rollen gespielt, Auftritte geübt. Für jeden Kontakt entsteht ein neues soziales Ich, das eine möglichst überzeugende Fiktion darstellt, und die wirkliche Persönlichkeit, die Authentizität der eigenen Person, verkriecht sich aus Angst im stillen Kämmerlein, um die aufgebauten Illusionen nicht zu zerstören. Einen anderen Menschen an sich heranzulassen wird als potentielle Schwäche diskreditiert, die nur dann in Kauf genommen werden kann, wenn es der eigenen Lage dienlich ist, wenn es beispielsweise zu Prestigegewinn oder finanziellem Vorteil führt, zu Problemlösungen beiträgt oder ein den allgegenwärtigen Druck ausgleichendes Amüsement verspricht.

Strategien aus der so genannten Arbeitswelt, die dort unter Vorspielung eben solcher Rollen und dem Erzeugen von Fiktionen zu Erfolg führen sollen, werden nach einiger Zeit kritiklos in intimste Bereiche des eigenen Lebens übernommen und münden darin, den Betrug und die Illusion als angemessene Grundlagen zwischenmenschlicher Beziehungen und sogar Partnerschaften anzusehen, ohne zu begreifen, dass die Übertragung dieser Verhaltensweisen in eben diese Sphären, die stets zwingend authentischer Persönlichkeiten und Verhaltensweisen bedürfen, zwangsläufig zu Schwierigkeiten führen wird. So ist es kein Wunder, wenn entsprechende Freundschaften oder Partnerschaften zerbrechen.

All diesen Verlusten wird häufig mit dem Versuch der Uminterpretation begegnet: Die Unverbindlichkeit, das berechnende Verhalten und das illusorische Rollenspiel seien Ausdruck und Notwendigkeit der Freiheit des eigens selbstbestimmten Lebensentwurfs. Nur durch das Rollenspiel könne man die eigene Persönlichkeit vor der feindlichen Außenwelt schützen, lautet ein anderer Versuch der positiven Umdeutung, der nicht begreift, dass das Unterdrücken und daraus de facto resultierende Abschaffen dieser authentischen Persönlichkeit nicht zu deren Erhaltung beiträgt. Dieser Selbstbetrug erlaubt es, all die negativen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, als unvermeidlich abzustempeln, als hinderlich bei der eigenen Vermarktung. Es entsteht ein Typus Mensch, der seine fiktionalen Schein-Persönlichkeiten, die damit einhergehende Selbstentfremdung und das von Kalkül bestimmte Konkurrenz- und Nutzdenken gegenüber seinen Mitmenschen als etwas Positives begreift, das ihn zum Erfolg führt.

Entsteht dabei eine Gesellschaft, in der wir uns wohlfühlen?

Für einen Arbeitsplatz, den sie hassen, für eine Ausbildung, die sie gar nicht wollen, oder sogar nur für ein Praktikum, das wohl die niederste Form der Ausbeutung darstellt, tun sie alles.

Sie leugnen ihre eigene Meinung. Sie leugnen ihre Träume. Sie leugnen ihre Ideale. Sie leugnen ihre Vergangenheit. Sie leugnen, was sie sind. Sie zensieren ihre Internet-Auftritte. Sie wollen nicht zu dem stehen, was sie sagen und denken. Sie kontrollieren, was man bei Google über sie herausfinden kann, und wenn ihnen etwas nicht gefällt, dann wollen sie das ändern. Sie nehmen Bilder aus dem Netz, die sie vielleicht in einem schlechten Licht darstellen könnten. Sie wollen glänzen.

Sie haben ständig die Schere im Kopf. Sie wollen nicht auffallen. Zumindest nicht negativ. Doch weil es einfacher ist, überhaupt nicht aufzufallen, gehen sie diesen Weg. Sie buckeln nach oben und sie treten nach unten. Sie kuschen und gehorchen.

Sie brauchen Menschen, die ihnen sagen, was sie tun sollen. Sie wollen nicht alleine laufen, nicht ohne Führung, nicht ohne Geländer. Trotzdem sind sie einsam, auch wenn sie nicht allein sein mögen. Sie wissen nicht, wer sie sind, aber das interessiert sie auch gar nicht. Denn sie sind, was andere von ihnen verlangen. Macht das glücklich?

Wie Wiglaf Droste so treffend schrieb:

Sie wollen nicht frei sein, also sollen alle anderen auch nicht dürfen. (…) Wenn man ihnen ihre Leitplanken schon nicht wegnehmen kann, darf man immerhin drüberweg hüpfen. Innerhalb der Leitplankenkultur gibt es nichts zu finden, das sich zu suchen lohnte.
(Wiglaf Droste bei taz.de)