Eige­ne Kurzgeschichten

Dein Seuf­zen treibt eine Wei­le auf dem Was­ser. Ers­te Son­nen­strah­len umhül­len es mit rosa-gol­de­nem Licht, bevor es in den Wel­len des Flus­ses versinkt.

Wir sit­zen auf einem Steg am Leine­ufer. Ein paar Enten schwim­men vor dem Steg her­um. Jede von ihnen trägt einen klei­nen Trench­coat mit hoch­ge­schla­ge­nem Kra­gen, eine Zigar­re im Schna­bel­win­kel und hält in den Flü­geln eine Zei­tung mit dis­kre­ten Löchern zum Durchgucken.

„Ihre Beschat­tungs­tech­nik ist nicht mehr sehr zeit­ge­mäß“, flüs­te­re ich verschwörerisch.

Du schaust mich ver­ständ­nis­los an und ich begrei­fe, dass das stun­den­lan­ge Gespräch in der end­gül­ti­gen Tren­nung mün­det, denn frü­her hät­test Du ver­stan­den und gelacht, jetzt siehst Du nur noch eini­ge der all­ge­gen­wär­ti­gen Enten.

Es gilt, sehr schnell zu sein, bevor das Ver­ständ­nis und der Wil­le zur Nach­sicht in eine Schlamm­schlacht aus­ar­ten. Es ist der Trick, sich das vor­her ein­zu­ge­ste­hen, die Ide­al­vor­stel­lung einer freund­schaft­li­chen Tren­nung zu demas­kie­ren und dem neu­ge­won­ne­nen Geg­ner einen Schritt vor­aus zu sein.“

So hät­te es Mac­chia­vel­li in sei­ner Bri­git­te-Kolum­ne geschrieben.

Ich atme die apri­ko­sen­far­be­ne Luft ein und star­re auf die ver­schwim­men­den Buch­sta­ben des Leib­nitz-Zitats an der Mau­er des his­to­ri­schen Muse­ums. Mit zusam­men­ge­knif­fe­nen Augen kann ich gera­de noch die Turm­uhr der Markt­kir­che erken­nen. Schon halb fünf.

Kei­ner von uns sagt etwas. Die Stil­le hat die Kon­sis­tenz einer der zähen Rinds­rou­la­den, die mei­ne Mut­ter frü­her auf den Tisch brach­te, wenn die Fami­lie gegen malay­ischen Lin­sen­ein­topf mit Bana­nen oder Grün­kern­auf­lauf das Veto ein­leg­te. Auf denen konn­te man auch stun­den­lang rum­kau­en wie auf einem Kau­gum­mi. War der Geschmack ver­braucht, blieb der fase­ri­ge, grau­brau­ne Klum­pen zurück, den wir alle mit Todes­ver­ach­tung schluck­ten. Ich fra­ge mich, ob mei­ne Mut­ter wirk­lich glaub­te, uns wür­den die Rou­la­den schmecken.

„Jetzt, wo wir getrenn­te Leu­te sind, ist gegen­sei­ti­ges Ver­ständ­nis im Prin­zip obso­let. Trotz­dem möch­te ich Dir eine Geschich­te erzäh­len. Und zwar die von den Russen:

Als ich nach der Arbeit nach Hau­se kom­me, sit­zen zwei Män­ner im Ess­zim­mer. Ein­fach so. Mit der Selbst­ver­ständ­lich­keit von Fami­li­en­mit­glie­dern. Bei­de haben Senf­kris­tall vor sich ste­hen und eine gro­ße Fla­sche Wod­ka. Der eine ist bestimmt schon Anfang 50, sein Gesicht sieht aus wie von einem geschick­ten Künst­ler in rotem Lehm model­liert, etwas blas­ser, aber im glei­chen Farb­ton. Selbst die Fal­ten und Ker­ben haben etwas Mine­ra­li­sches an sich, sogar sein Haar, wie das einer bil­li­gen Perü­cke, passt farb­lich ganz Ton in Ton zum Rest. Jemand soll­te ihm mal sagen, dass Ton in Ton out ist. Die hell­blau­en Augen schwim­men in wäss­ri­ger Gleich­gül­tig­keit. Gleich­zei­tig ist er eine ein­zi­ge For­de­rung, immer­zu bereit, auf­zu­sprin­gen und die ihm zuge­dach­ten Gaben des Lebens an sich zu reißen.

Der ande­re macht einen eher emp­find­sa­men Ein­druck, mit fei­ne­ren Gesichts­zü­gen, fei­nem schwar­zen Haar und Augen, die man nur als see­len­voll bezeich­nen kann. Ich stel­le ihn mir sofort mit poma­di­sier­tem Haar, in Frack und blank­ge­putz­ten Lack­schu­hen in einem Rauch­zim­mer vor, auf dem Tisch­chen neben ihm ein Kris­tall­glas mit Likör. Mit fei­nen Herr­schaf­ten phi­lo­so­phi­sche und sozia­le Pro­ble­me der Jahr­hun­dert­wen­de dis­ku­tie­rend. Albern, was einem wäh­rend der Sekun­den des ers­ten Anse­hens durch den Kopf schießt. Mein Vater ist im gan­zen Haus nicht zu fin­den und ich bin unsi­cher, was ich mit die­sen bei­den Män­nern anfan­gen soll.

Ich rufe Ger­da an. Das Gespräch mit ihr ist eine Art Tau­zie­hen mit Gum­mi­sei­len, aber immer­hin weiß ich danach, dass die bei­den Her­ren Juri und Michail hei­ßen, zwei Deutsch­rus­sen und Musi­ker sind, die nun bei uns woh­nen. Im Zim­mer neben mei­nem. Sie sei­en wert­vol­le Künst­ler im Stil ver­folg­ter Dis­si­den­ten. Nahe­zu Kleinodien.

Ich ver­su­che, mich über die­se Berei­che­rung zu freu­en und gehe zurück um mich zumin­dest vor­zu­stel­len. Danach will ich eigent­lich nur Ruhe. Statt­des­sen bekom­me ich ein Glas Wod­ka auf­ge­nö­tigt und Ziga­ret­ten angeboten.

Nach einem gefühl­ten Liter Schnaps kommt die Gleich­gül­tig­keit. Juris Hand auf mei­nem Bein ist mir egal. Juris Hand an mei­nen Brüs­ten ist mir egal. Wäre ich nüch­tern, täte ich aus Anstand etwas geziert, wäre aber trotz­dem gleich­gül­tig. Mein Kör­per ist etwas, das eben an mir und mei­nen Gedan­ken dran­hängt. Ste­cken kaum Emp­fin­dun­gen drin. Im Lau­fe des Abends haben sich die bei­den wohl geei­nigt, denn Juri schleppt mich ganz selbst­ver­ständ­lich in mein Bett, zieht mich aus und fasst mich an. Kein Strei­cheln, eher ein lust­lo­ses Rei­ben, als müs­se das eben sein, bevor man wei­ter­ma­chen kann. Wäre ich nüch­tern, ich täte so, als gefie­le mir das. Stöhn­te etwas, beweg­te das Becken, wie ich das sonst tat, wenn ich mit jeman­dem mit­ging. Jetzt lie­ge ich aber ein­fach da. Er zieht erst mei­ne Hosen run­ter, dann sei­ne eige­nen. Kei­nen Ton gibt er von sich, als er vehe­ment in mich ein­dringt, nicht mal ein Äch­zen oder Grun­zen. Als brin­ge er eine Pflicht­übung hin­ter sich. Sein Kör­per­ge­ruch über­wäl­tigt mei­nen eige­nen Dunst in einer resi­gnier­ten feind­li­chen Über­nah­me. Es dau­ert über­ra­schend lan­ge, bis er sei­nen Prü­gel aus mir her­aus­zieht und sich, immer noch geräusch­los, anzieht und das Zim­mer ver­lässt. Auf dem Max Ernst Druck an der Wand neben mir ent­de­cke ich Details, die mir bis­her ver­bor­gen gewe­sen waren, obwohl der wei­ße Schlei­er des Mos­ki­to­net­zes dar­über liegt. Die Wol­ke links oben im Bild sieht fast aus wie ein Pan­da­ge­sicht. Ein Comic­pan­da. Ich mag Max Ernst lie­ber als H.R. Giger. Die Bil­der sind auf eine weni­ger pla­ka­ti­ve Art düs­ter und beklem­mend. Wenn man will, kann man eine Ahnung von Hoff­nung dar­aus zusam­men­su­chen, muss aber nicht.

Sper­ma läuft aus mir her­aus, es fühlt sich an, als mache ich ins Bett. Irgend­wie ist es auch genau­so. Ich mache stell­ver­tre­tend für den Mine­ra­li­schen in mein Bett. Besud­le es. Die gro­ße Eule schaut mir wohl­wol­lend mit plü­schig umrahm­ten Glas­au­gen dabei zu.

Ich krie­che durch die Löcher in der grü­nen Höh­le, das Licht drau­ßen ver­liert sich, die Pan­da­wol­ke ist jetzt ein Rochen, oder eine Schlan­ge. Sobald man in dem Bild drin ist, kann man sie nicht mehr sehen, doch die Wol­ken müs­sen sich ver­än­dern und wei­ter­zie­hen, denn mit mir in der Sze­ne muss zwangs­läu­fig Zeit ver­ge­hen, Dyna­mik entstehen.

Das Moos, das die Höh­len­ein­gän­ge weich auf­pols­tert und den Boden zu einer ers­ten Ruhe­stät­te macht, drü­cke ich mit Knien und Hän­den platt. Wo ich län­ger ver­har­re, rich­tet es sich nicht wie­der auf und an ande­ren Stel­len kann ich hören, wie es auf­at­met, weil mei­ne Last fort ist. Ich bin schon so weit in den Berg vor­ge­drun­gen, dass das Klop­fen und Öff­nen mei­ner Zim­mer­tür kaum noch zu hören ist. Jemand setzt sich neben mich auf die Bett­kan­te. Der Boden aus wei­chem Gestein knarrt lei­se und gibt unter dem zusätz­li­chen Gewicht nach. Eine Feder streicht über mein Haar und die Wan­gen. Sie schei­nen ganz feucht zu sein. Das Dun­kel ver­krampft sich, etwas nähert sich. Etwas Süß­li­ches, Dump­fes. Zwei wei­che Kis­sen legen sich auf mei­ne Stirn, die Feder streicht über mei­nen Bauch. Ich zie­he die Bei­ne an und dre­he den Kopf und den Rest von mir weg, wie­der dem Bild und der Wand zu. Die Höh­le hat mich in das fau­li­ge Bett aus­ge­spuckt. Gän­se­haut dringt auch dort hin, wo mich noch das eine Hosen­bein bedeckt. Mehr geht nicht, nur weg­dre­hen mit letz­ter Kraft. Die Feder löst sich nicht mit einem Puff in Luft auf, viel­mehr bohrt sie sich pene­trant sanft hin­ein. Nicht in den Kör­per, son­dern in mich. Es ist ange­nehm und absto­ßend gleich­zei­tig, wie Obst kurz vor dem Ver­fau­len. Wie an Ste­fa­nies Geburts­tag auf dem Schoß ihres Stief­va­ters. Michail gibt fort­wäh­rend Schhhs von sich, wie ein Zug. Er soll aus mir ver­schwin­den. Nie­mand darf in mich hinein.“

Die Frau starrt blick­los in mei­ne Rich­tung. Ihre Augen wogen selbst­stän­dig auf und ab mit den Wel­len des Fluss­was­sers. Vor­hin hat sie mich noch ange­se­hen, als hät­te sie mich erkannt und es war die­ser Blick, der mich bewog, den bei­den eine der kost­ba­ren, unend­li­chen Minu­ten für ihre Tren­nung zu schen­ken. Jetzt ist ihre Prä­senz ein Loch in der Luft. Der Mann legt den Arm um sie und ich schwim­me mit den ande­ren Enten am Ufer ent­lang auf eine alte Dame zu, die Brot­stü­cke ins Was­ser wirft. Auf dem Uhren­turm der Markt­kir­che schubst ein spiel­zeug­gro­ßer Mensch den Zei­ger an.

Teil I – Die Menschen

Han­no­ver Südstadt.
01.10.2014

Julia schloss die Tür zu ihrer Woh­nung auf und hat­te nur noch einen ein­zi­gen Gedan­ken. Im Ver­lauf der U‑Bahnfahrt nach Hau­se hat­te er sich zuneh­mend ver­fes­tigt und die Vor­stel­lung wur­de immer rea­ler, war schon fast so wär­mend und trös­tend wie die Rea­li­tät es sein würde.

Julia dach­te an ein hei­ßes Bad. Ein schau­mi­ges, woh­li­ges Bad mit einem Glas Pro­sec­co am Wan­nen­rand und einem Hör­buch. Die gan­ze Anspan­nung des Tages wür­de von ihr ablas­sen. Der star­ke Griff, den die Sor­ge um ihre Pati­en­ten immer häu­fi­ger fest um ihren Nacken drü­cken ließ, wür­de mit dem Was­ser ein­fach den Abfluss runterrauschen.

Julia ließ den neu­en, roten Man­tel von ihren Schul­tern glei­ten und sah sich einen Moment lang im Spie­gel neben ihrer Gar­de­ro­be in die Augen und in das müde drein­bli­cken­de Gesicht.

Ihre Freun­din­nen behaup­te­ten, es sei ein Bar­bie-Gesicht. Mit fei­nen Gesichts­zü­gen, hohen, aber nicht zu har­ten Wan­gen­kno­chen, korn­blu­men­blau­en Augen, einer zier­li­chen Nase und einem klei­nen, run­den Mund. Das gan­ze Kunst­werk wur­de umrahmt von vol­lem, blon­den Haar. Sie selbst fand, jedem müss­te genau wie ihr die schie­fe Nasen­schei­de­wand auf­fal­len, als wei­se eine Leucht­re­kla­me dar­auf hin. Die Haut, die im Som­mer nie brau­ner als ein gol­de­ner Honig wur­de, war nicht makel­los. Außer­dem war sie zwar lang­bei­nig und groß, immer­hin fast 1,80, aber ein­fach zu mollig.

Bar­bie! Dass sie nicht lachte!

Sie ging ins Bade­zim­mer und dreh­te den Was­ser­hahn ihrer Wan­ne auf, goss etwas Bade­schaum dazu und ging dann in die Küche, um sich ein Glas wohl­ver­dien­ten Fei­er­abend­pro­sec­co einzuschenken.

Gera­de, als sie den ers­ten köst­li­chen Schluck neh­men woll­te, hör­te sie ein Rascheln, das aus dem Wohn­zim­mer zu kom­men schien. Julia ging mit einem mul­mi­gen Gefühl hin­über. Die Fei­er­abend­ent­span­nung ver­schwand augenblicklich.

Im Wohn­zim­mer war jedoch nichts zu sehen.

Dann beweg­te sich ein Blatt der gro­ßen Yuc­ca­pal­me in der Ecke am Fens­ter. Das Ding war zwar so rie­sig, dass es fast bis zur Decke reich­te, aber nicht groß genug, um einem Ein­bre­cher Schutz vor Ent­de­ckung zu bie­ten. Komisch, dach­te Julia.

Dann ent­deck­te sie den klei­nen Spalt an der Tür zum Bal­kon. Offen­bar hat­te sie die­se am Mor­gen nicht rich­tig geschlossen.

Beru­higt ging Julia mit dem Pro­sec­co, den sie schon völ­lig ver­ges­sen hat­te, hin­aus und zün­de­te sich eine Ziga­ret­te an. Jetzt wür­de auf Teu­fel komm raus ent­spannt werden!

Sie inha­lier­te tief und stieß dann mit einem unda­men­haf­ten Grun­zen den Rauch wie­der aus. Mit jedem Zug ver­schwan­den die alten Leu­te, die wegen Dia­be­tes und Ein­sam­keit das War­te­zim­mer der Gemein­schafts­pra­xis bevöl­ker­ten, im Dampf. Mit jedem Zug stieß sie die Besorg­nis über das mager­süch­ti­ge jun­ge Mäd­chen aus. Sie alle bekä­men kei­nen Qua­drat­zen­ti­me­ter Platz in ihrem Heim. Die­se Schutz­maß­nah­me war not­wen­dig, das wuss­te sie.

Zum Baden wür­de sie einen harm­lo­sen Lie­bes­ro­man hören und sich mit rosa­ro­ter Zucker­wat­te umhüllen.

Die Wan­ne war jetzt voll und sie dreh­te den Was­ser­hahn zu. Schaum rag­te in gro­ßen Ber­gen in die Höhe und es knis­ter­te wun­der­bar, als sie ins Was­ser stieg und sich hin­ei­naal­te. Durch die offe­ne Bade­zim­mer­tür erzähl­te das Hör­buch, wie eine jun­ge Büro­kauf­frau den ers­ten Blick auf den Mann warf, der die Lie­be ihres Lebens sein muss­te. Ja, sein musste.

Julia schloss die Augen.

Ein Rascheln. Sie schrak hoch. Da war es schon wie­der. Dabei hat­te sie die Bal­kon­tür fest verschlossen!

Die­ses Mal kam es aus dem Flur.

Sie kniff die Lider fest zusam­men und öff­ne­te sie wie­der. Sie sah in die dunk­len Knopf­au­gen einer Ente.

Erneut schloss sie kräf­tig die Augen und schüt­tel­te den Kopf. Das war doch unmöglich.

Augen wie­der auf. Die Ente war noch da und schau­te sie an. Ganz gelas­sen, so schien es. Ihre pad­deln­den Füße ver­ur­sach­ten Strö­mun­gen im Badewasser.

Ich muss sie berüh­ren, um sicher­zu­ge­hen, dass das Vieh kei­ne Ein­bil­dung ist, dach­te Julia. So stres­sig war der Pra­xis­all­tag nun auch wie­der nicht.

Gemäch­lich, um das Tier nicht zu ver­schre­cken, streck­te sie den Zei­ge­fin­ger aus und strich über den lin­ken Flü­gel. Er fühl­te sich zugleich glatt und etwas rau an.

Die Ente schrak nicht zusam­men, schlug nicht panisch mit den Flü­geln auf und ab, son­dern sah sie nur sto­isch an. Dann wackel­te sie mit dem Bürzel.

Julia konn­te sich gera­de noch ein ent­zück­tes Quiet­schen verkneifen.

Han­no­ver List
01.10.2014

Er war erschöpft. Mehr als erschöpft. Er war eigent­lich nur zu erle­digt, um tot umzu­fal­len. Für die­se 36 Stun­den-Diens­te wur­de er lang­sam zu alt.

Sven wuss­te schon jetzt, dass er am ers­ten der bei­den frei­en Tage nichts von sei­ner To-do-Lis­te schaf­fen und es dann Ärger mit ihm selbst geben wür­de. Es wäre klü­ger, sich nicht mehr so viel… Nein. Er wür­de es nie ler­nen. Die­se und ande­re uncle­ve­re Eigen­ar­ten waren schon untrenn­bar mit sei­nem Cha­rak­ter verschmolzen.

Er schloss sei­ne klei­ne Ein­zim­mer­woh­nung auf, ließ sei­nen Ruck­sack auf den Boden fal­len und stapf­te in den schwe­ren Stie­feln in die Küche.

Die Lache vor der Wasch­ma­schi­ne war inzwi­schen kom­plett von dem Berg Schmutz­wä­sche auf­ge­saugt wor­den. Scheiße.

Er wür­de den Gerä­te­ser­vice sofort anru­fen. Viel­leicht hat­te er Glück und es käme schon mor­gen jemand.

Sven hol­te sich ein Bier aus dem Kühl­schrank, nahm das Tele­fon von der Sta­ti­on und rief die Hot­line an.

Es raschel­te ganz lei­se aus der Wasch­ma­schi­ne. Er zuck­te zusam­men. Genau in die­sem Moment ver­stumm­te die War­te­schlei­fen­mu­sik, wich einem Kla­cken in der Lei­tung und eine Frau, deren pro­fes­sio­nel­le Freund­lich­keit etwas gequält klang, mel­de­te sich. Einen Moment lang wuss­te Sven nicht genau, was er jetzt tun soll­te und sag­te nichts. Wie­der die­ses lei­se Rascheln. Kaput­te Wasch­ma­schi­nen lau­fen aus, aber sie raschel­ten nicht. Was war das?

Mit dem Hörer in der Hand näher­te er sich dem offe­nen Bull­au­ge des Geräts. Die Tür stand noch genau­so offen, wie er sie ges­tern zurück­ge­las­sen hatte.

„Hal­lo! Sind Sie noch dran?“ tön­te es aus dem Tele­fon. Sven konn­te noch immer nicht ant­wor­ten. Er war zu verblüfft.

„Hal­lo! Sie! Wenn Sie sich nicht mel­den, kann ich Ihnen lei­der nicht wei­ter­hel­fen und muss zum nächs­ten Kun­den umschal­ten. Hallo?!“

Aus dem Dun­kel der Wasch­ma­schi­nen­trom­mel lunz­te eine Ente und sah Sven direkt an. Sie, nein er, es war ein Erpel, schwamm in dem nicht abge­pump­ten Was­ser. Sei­ne Knopf­au­gen blick­ten ihn ruhig und gelas­sen an. Das Tier schien kei­ne Angst zu haben, dafür war jedoch Sven kurz davor, in sei­ner klei­nen Küche in Ohn­macht zu fallen.

Der Erpel wackel­te auf­mun­ternd mit dem Bür­zel. Fast so, als wol­le er sagen: „Nimm es nicht so schwer, Kum­pel. Wir alle ken­nen sol­che Tage.“

Sven ließ sich auf den Boden plump­sen und starr­te in das Gesicht der Ente. Sie gab kei­nen Laut von sich. Sven ächz­te und leg­te das Tele­fon zur Sei­te. Aus dem Hörer klang noch das Frei­zei­chen, aber das nahm er gar nicht wahr. In der ande­ren Hand hielt er noch die Bier­fla­sche fest umklam­mert. Er nahm einen gro­ßen Schluck, schüt­tel­te den Kopf und guck­te noch ein­mal in die Wasch­ma­schi­ne hin­ein. Da schwamm der Erpel und schau­te ihn unver­än­dert gelas­sen an.

Noch ein gro­ßer Schluck. Noch ein Kopf­schüt­teln. Erneu­ter Blick, die­ses Mal von der Sei­te. Der Erpel dreh­te den Kopf in sei­ne Rich­tung und sah ihm tief in die Augen.

Sven streck­te vor­sich­tig die Hand aus und tipp­te sach­te nach einem der Flü­gel. Der fühl­te sich über­ra­schend rau an. Über­haupt, er fühl­te sich an. Das bedeu­te­te, er hat­te tat­säch­lich eine leben­di­ge Ente in sei­ner Wasch­ma­schi­ne und jetzt wuss­te er auch nicht weiter.

Für der­ar­ti­ge Vor­komm­nis­se gab es kei­nen Leit­fa­den, kein stan­dar­di­sier­tes Vor­ge­hen aus einem Hand­buch. Das ein­zi­ge, was ihm gera­de zu tun ein­fiel, war, sein Bier auf­zu­trin­ken. Even­tu­ell könn­te er noch ein zwei­tes trinken.

Was er dann auch tat.

Eine gro­tes­ke Situa­ti­on war das. Sven fühl­te sich hilf­los ange­sichts die­ser Ente. Dabei war es doch nur eine Ente! Ein Vogel. Er könn­te die­sen Vogel ein­fach neh­men und nach drau­ßen brin­gen. Dann wür­de er noch ein­mal 15 kost­ba­re Minu­ten sei­ner Frei­zeit in der War­te­schlei­fe eines Call­cen­ters ver­plem­pern, um einen Ter­min für das defek­te Gerät ver­ein­ba­ren. Pro­blem gelöst, Wochen­en­de gerettet.

Wie war das Tier über­haupt in sei­ne Woh­nung hin­ein­ge­kom­men? Dass es in der Wasch­ma­schi­ne saß, konn­te er noch nach­voll­zie­hen, schließ­lich stand Was­ser drin. Aber sonst. Nein. Es wäre ja auch nicht so, als mache die­ser, zuge­ge­ben recht hüb­sche Erpel auch nur Anstal­ten, aus der beeng­ten Wasch­trom­mel wie­der raus zu wollen.

Und das er selbst nicht schon längst etwas getan hat­te, um Abhil­fe zu schaf­fen, war auch mehr als eigen­ar­tig. Gro­tesk, ein Begriff, den er bis­her eher mit Taran­ti­no Fil­men ver­bun­den hat­te, war das ein­zi­ge Wort, fand Sven, wel­ches das alles pas­send beschrieb.

Er pros­te­te der Ente zu. Die Ente bürzelte.

Sven war ent­zückt. Noch ein Bür­zeln. Sven quiekte.

Es sah fast so aus, als sei der Erpel zufrieden.

Han­no­ver Lin­den – Ener­ci­ty Gebäude
01.10.2014

Ralf sah aus dem gro­ßen Fens­ter im Büro des Abtei­lungs­lei­ters für Netz­er­wei­te­rung auf die Ihme. Es war ein sehr hüb­sches Büro, nicht nur wegen des Aus­blicks und weil es groß war. Der jun­ge Hin­richs hat­te es auch geschafft, den Raum sowohl gemüt­lich, als auch funk­tio­nell ein­zu­rich­ten. Ein viel­sei­ti­ger Mann. Sein Vater, der alte Hin­richs, der im Vor­stand des Unter­neh­mens saß, hat­te es dem Sohn auf dem Weg in die Füh­rungs­eta­ge nicht leicht gemacht. Ralf war trotz­dem ein wenig nei­disch. Ein biss­chen Neid ist erlaubt, ent­schied er. Sei­ne Eltern waren kei­ne ein­fluss­rei­chen Leu­te gewe­sen und so war er selbst zwar flei­ßig, aber den­noch nur ein Elek­tri­ker. Ein Elek­tri­ker, der im schi­cken Büro eines immer mäch­ti­ger wer­den­den Man­nes Hilfs­ar­bei­ten verrichtete.

Drau­ßen beweg­ten sich Jog­ger und Rad­fah­rer, Fami­li­en mit Kin­dern und Hun­den am Was­ser ent­lang. Die Son­ne schien auf sie alle her­ab, die sie da glück­lich einen der letz­ten wär­me­ren Tage des Früh­herbs­tes genossen.

Eine Oma samt Enkel, er ver­mu­te­te mal, dass es Oma und Enkel waren, stand am Ufer des Kanals und füt­ter­te eine Hor­de Enten. Ihre Brot­stü­cke flo­gen weit auf die Mit­te des Was­sers hin­aus. Der pumm­li­ge Arm des klei­nen Jun­gens beför­der­te das begehr­te Back­werk gera­de mal bis auf die Stei­ne zwi­schen Was­ser und Wiese.

Die Enten stürz­ten sich auf­ge­regt auf jeden neu­en Bro­cken Fut­ter. Er konn­te das Schnat­tern bei­na­he hören. Lei­der drang davon kein Laut bis in das obers­te Stock­werk des Ener­ci­ty Gebäu­des. Selbst den Ver­kehrs­lärm hör­te man hier oben nicht.

Ralf stell­te sich vor, wie es wäre, hier zu arbei­ten. Umge­ben nur von Stil­le. Das Leben außer­halb der Wän­de wäre zum Schwei­gen ver­don­nert, zur Bedeutungslosigkeit.

Im obers­ten Stock wäre man Gott. Durch Öff­nen und Schlie­ßen der Fens­ter durf­te das Leben sein oder eben nicht sein, drin­nen herrsch­te der Inha­ber des Büros, und es wäre auch kein Büro mehr, son­dern eine Schalt­zen­tra­le der Macht.

Wer hier saß, thron­te, herrsch­te bereits über die Strom­ver­sor­gung der Region.

„Ohne Strom sind wir alle nicht mehr weit ent­fernt vom Cha­os“ dach­te Ralf philosophisch.

Sein Meis­ter wäh­rend der Lehr­zeit war manch­mal von solch schwer­ge­wich­ti­gen Gedan­ken befal­len wor­den und ließ jeden, der nicht schnell genug fort­kom­men konn­te, dar­an teil­ha­ben. Das meis­te war zum einen Ohr rein und zum ande­ren wie­der raus­ge­gan­gen aber es blieb hän­gen, dass Elek­tri­zi­tät Wohl­tat und Gefahr zugleich war und äußers­te Sorg­falt im Umgang mit ihr lebenswichtig.

Er wand­te sich der kaput­ten Steck­do­sen­leis­te zu. Die Siche­run­gen und ande­ren dazu­ge­hö­ri­gen Abneh­mer hat­te er schon über­prüft. Alle waren in Ord­nung, nur die­se eine nicht, was eigent­lich unmög­lich war. Unter­wegs konn­te kein Strom ein­fach so ver­lo­ren gehen, oder im San­de ver­lau­fen. Am liebs­ten wür­de er den Boden auf­rei­ßen. Nur eine Über­brü­ckung zwi­schen Haupt­lei­tung und der Steck­do­se konn­te das Pro­blem ver­ur­sa­chen. Er hat­te alles abge­sucht und nichts gefun­den. Für alles, was er noch tun könn­te um die Stö­rung zu fin­den muss­te er zuerst Rück­spra­che hal­ten. Außer ihm war kei­ner mehr im Haus. Hat­ten schon Wochenende.

Für ihn war es jetzt auch Zeit.

Zeit, beim Rewe auf der ande­ren Sei­te des Kanals etwas Brot zu holen und die Enten zu füt­tern. Nie­mand leg­te schließ­lich fest, dass Enten­füt­tern nur für Kin­der sei. Und es war­te­te auch nie­mand mehr sehn­süch­tig auf ihn. Olga hat­te ihn letz­te Woche ver­las­sen. War einem in sei­nen Augen win­di­gen Foto­gra­fen aufgesessen.

„Er fin­det mich schön! Und er sagt es mir auch! Nicht wie Du! Du bist wie ein Stein!“ Ihren melo­dra­ma­ti­schen Abgang krön­te sie mit Tür­knal­len und wüten­dem Kla­ckern ihrer schwin­del­erre­gend hohen Schu­he. Zurück blieb eine ersti­ckend auf­dring­li­che Wol­ke von Par­fum, diver­ser Kos­me­ti­ka und dem bil­li­gen Weich­spü­ler. Sei­ne Trau­er um ihren Fort­gang wur­de von die­ser Kako­pho­nie der Gerü­che sofort im Keim erstickt.

Ralf schrieb Hin­richs eine Notiz und sich selbst eine Erin­ne­rung, recht­zei­tig vor Wochen­be­ginn eine Mail bezüg­lich der not­wen­di­gen Maß­nah­men zu schrei­ben. So was mach­te einen guten Eindruck.

Dann pack­te er sein Werk­zeug zusam­men und nahm die Trep­pen statt des Fahrstuhls.

Ein leich­tes Flat­tern durch­ström­te ihn und ein Taten­drang, den er schon lan­ge nicht mehr gespürt hatte.

Er war frei. Wenn er woll­te, konn­te er nach dem Enten­füt­tern einen Döner holen, im Pub Bier trin­ken und die Nacht zum Tag machen. Den Döner mit vie­len Zwie­beln und Knob­lauch. Kei­ne Vor­hal­tun­gen. Abso­lu­te Freiheit.

Aber das Bett wäre auch noch leer, wenn der Döner dann schwer im Magen lag.

„Idi­ot!“ schalt er sich selbst.

„Geht´s jetzt end­lich auch ins Wochen­en­de Herr Möller?“

Der Pfört­ner Herr Masow­ski war hol­ly­wood­reif ält­lich und väter­lich wohl­wol­lend. Er kann­te fast alle Mit­ar­bei­ter mit Namen. Sein Kol­le­ge von der Nacht­schicht war noch jung, von der Wich­tig­keit sei­ner Auf­ga­be so durch­drun­gen, dass es ihm eng wur­de zwi­schen Bei­nen und Armen. Der saß nicht am Emp­fang, son­dern stand breit­bei­nig dane­ben, oder patrouil­lier­te geschmei­dig wie eine mit Ste­ro­iden voll­ge­pump­te Mario­net­te durch die Eta­ge. Also er waren eigent­lich vie­le. Fast jede Nacht ein ande­rer. Sie sahen aber alle gleich aus, also waren sie einer.

„Ja. Gleich gehe ich die Enten an der Ihme füt­tern. Hab ich ewig nicht mehr gemacht.“

Der alte Herr Masow­ski lach­te. „Mei­ne Rena­te und ich, wir sind frü­her ganz oft Enten füt­tern gewe­sen. Viel­leicht, wenn das Wet­ter mor­gen noch mal so schön ist, wie heu­te…“ Er lach­te wie­der. „Und danach set­zen wir uns roman­tisch auf eine Bank und hän­gen unse­ren Erin­ne­run­gen nach.“ Ein Zwinkern.

„So sei es!“ ver­kün­de­te Ralf thea­tra­lisch, wedel­te mit den Armen und ent­schwand dra­ma­tisch durch die sich öff­nen­den Türen in den Lärm der Stadt.

HAZ vom 24.10.2014

Der OB der Stadt Han­no­ver, Ste­fan Schos­tok, hat ein neu­es Fami­li­en­mit­glied adoptiert.

„Edwin saß eines Tages ganz uner­war­tet in unse­rem Zim­mer­brun­nen. Offen­sicht­lich moch­te er uns. Die Zunei­gung beruht natür­lich auf Gegen­sei­tig­keit. Nun haben wir ihm offi­zi­ell ein Heim im Gar­ten­teich ange­bo­ten. Nach har­ten Ver­hand­lun­gen bewohnt er jetzt auch ein gro­ßes Kis­sen im Wohn­zim­mer. Dem treu­her­zi­gen Blick und dem Wackeln eines Enten­bür­zels hät­te nicht ein­mal die Oppo­si­ti­on wider­ste­hen können.“

Wir freu­en uns auf eine Home­sto­ry mit Edwin, Herr Oberbürgermeister!

HAZ vom 30.10.2014

Wir berich­te­ten vor einer Woche über den Erpel Edwin Schos­tok. Die Fami­lie des Ober­bür­ger­meis­ters hat dies­be­züg­lich ihren Exklu­si­vi­täts­sta­tus ver­lo­ren. Immer mehr Ein­woh­ner der Regi­on Han­no­ver berich­ten von tie­ri­schem Besuch, u.a. der Lan­des­vor­sit­zen­de der CDU Nie­der­sach­sen, David McAllister.

Wel­cher Fügung die Stadt die­ses neue Mit­ein­an­der von Ente und Mensch zu ver­dan­ken hat, lässt Orni­tho­lo­gen rät­seln und, dank Twit­ter und Co., Men­schen in den ent­le­gens­ten Win­keln der Welt gespannt teilhaben.

Eine Ente in der Stra­ßen­bahn ist kein unge­wohn­ter Anblick mehr für Hannoveraner.

„Noch muss für eine Ente kein Ticket gelöst wer­den, aber wir arbei­ten bereits dar­an.“ So Pres­se­spre­che­rin der Üstra, Brit­ta Kiel­mann, mit einem ver­schmitz­ten Lachen.

Auch die Deut­sche Bahn muss sich inzwi­schen mit die­ser neu­en Situa­ti­on aus­ein­an­der­set­zen. Immer mehr Rei­sen­de aus Han­no­ver möch­ten ihre Ente nicht allein zu Hau­se lassen.

Nicht nur in den öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln ist die fried­li­che Inva­si­on der „Was­ser­vö­gel von neben­an“ ein wich­ti­ges The­ma geworden.

„In die Biblio­thek dür­fen kei­ne Haus­tie­re hin­ein­ge­bracht wer­den. Das gilt nicht nur für Hun­de son­dern auch für jedes ande­re Tier.“ Sulei­ka Azman war in der ver­gan­ge­nen Woche mehr­fach gezwun­gen gewe­sen, die glück­li­chen Enten­part­ner, die nicht ohne den neu­en Mit­be­woh­ner Bücher aus­lei­hen woll­ten, der Biblio­thek zu ver­wei­sen. Dies ver­lief in ein­zel­nen Fäl­len nicht ganz gewaltfrei.

Vor Lebens­mit­tel­ge­schäf­ten und Kinos, Bars und Arzt­pra­xen wur­den ähn­li­che Sze­nen beob­ach­tet. „Nicht ohne mei­ne Ente!“

Han­no­ver Linden
02.11.2014

Ralf sah auf. Die Stim­me fuhr ihm durch Mark und Bein. Vor­sich­tig und, wie er hoff­te, unauf­fäl­lig sah er sich um.

Olga hat­te mit ihrem neu­en Lover den Pub betre­ten. Ihm ging in die­sem Moment auf, dass er sie doch ver­miss­te. Es war kein inne­rer Schmerz, der ihm das mit­teil­te, son­dern die Tat­sa­che, dass sein Schwanz sich ver­här­tet hat­te wie Gra­nit und er gleich­zei­tig nur sei­nen Kopf in ihren Schoß bet­ten woll­te, um sich von ihr den Kopf strei­cheln zu lassen.

Olga hat­te das oft getan, wenn sie der Mei­nung war, er sei auf­ge­wühlt. Das wie­der­um hat­te sie immer vor ihm wahrgenommen.

Wäh­rend sie dann mit leich­ten Hän­den ruhig und gleich­mä­ßig über sein dunk­les, dich­tes Haar strich und gur­rend vor sich hin plap­per­te, war es, als brä­che der Stress in ihm auf und ver­teil­te sich in der Luft wie Gas.

Jetzt also woll­te er das. Die gan­zen letz­ten Wochen hat­te er das gewollt. Das und ihre schlan­ken Bei­ne um sei­ne Hüften.

Erschüt­tert von der Erkennt­nis nahm er einen gro­ßen Schluck Cuba libre.

Man­ni stups­te ihn ver­ständ­nis­in­nig mit dem Schna­bel am Ellenbogen.

Ralf sah in die dunk­len Knopf­au­gen sei­nes neu­en Freun­des und fühl­te sich sofort besser.

Sei­ne Kum­pel und Arbeits­kol­le­gen waren Ralf seit der Tren­nung und seit die­sem einen Tag im Büro des jun­gen Hin­richs immer frem­der gewor­den. Anfangs hat­ten sie noch ver­sucht, ihm Aus­sa­gen der Trau­er oder auch Wut zu ent­lo­cken, waren aber gekränkt, weil er ihnen das mit Olga nicht sofort erzählt hat­te. Sie scho­ben es auf sei­nen Stolz, dann auf man­geln­de Freund­schaft, dann frag­ten sie nicht mehr und die The­men der weni­ger wer­den­den Tref­fen wand­ten sich wie­der dem aktu­el­len Tages­ge­sche­hen zu.

Ralf fand es sowie­so viel spannender.

In fast jedem Haus­halt wohn­te inzwi­schen eine Ente freund­schaft­lich mit den Men­schen zusam­men. Das war ein­fach so umwäl­zend spannend!

In sei­nem Fit­ness­club, in dem kei­ne Hun­de erlaubt waren, saßen Enten fröh­lich schnat­ternd neben den Cross­trai­nern und Gewicht­bän­ken, wäh­rend ihre Men­schen schwitz­ten und trainierten.

Ja, es wirk­te ein biss­chen so, als sei­en die Men­schen die Haus­tie­re der Enten, genau wie bei Katzen.

Die­se Par­al­le­le zwi­schen den Fress­fein­den amü­sier­te Ralf.

„Was meinst Du“, frag­te er sei­nen Erpel, „soll­te ich zu Olga rüber gehen und Hal­lo sagen? Ganz läs­sig und über den Dingen?“

Man­ni schüt­tel­te ener­gisch den Kopf und schau­te etwas mitleidig.

„Du hast Recht. Soll sie doch kommen.“

Man­ni stups­te ihn erneut an.

„Wol­len wir auf­bre­chen? Was essen und den Rest des Abends auf dem Sofa sit­zen wie die zwei Jung­ge­sel­len, die wir sind?“

Man­ni nick­te ernst.

„Home­land gucken?“

Man­ni nick­te wie­der. Es sah aus, als grins­te er.

„Car­rie ist scharf. Irre, aber scharf.“

Der Erpel bürzelte.

Als sie zur The­ke gin­gen, um zu bezah­len, sah Olga demons­tra­tiv in eine ande­re Rich­tung und leg­te beson­ders fröh­lich lachend den Kopf in den Nacken.

„So gut, wie sie tut, geht es ihr nicht“, stell­te Ralf befrie­digt fest. „Ich ken­ne sie gut genug, um das sofort zu erkennen.“

Er sah zu Man­ni hin­un­ter, der aber nur ziel­stre­big in Rich­tung Woh­nung zur Ampel wat­schel­te und kei­nen Blick für Gehäs­sig­kei­ten übrig hatte.

„Herr Möl­ler!“

Ralf erschrak. Auch Man­ni zuck­te zusammen.

Er dreh­te sich um und sah eine gro­ße blon­de Frau auf sich zu lau­fen. Sehr hübsch, das muss­te er sagen. Sie lächel­te ihn keu­chend an. Eine Ente drück­te sich schüch­tern an ihr Schienbein.

Als sie ihm die Hand ent­ge­gen­streck­te, wuss­te er auch wie­der, wer sie war: Sei­ne Haus­ärz­tin, Frau Dr. Thie­le­mann. Ohne den wei­ßen Kit­tel sah sie ganz fremd aus.

„Immer wie­der komisch, die Leu­te außer­halb ihrer natür­li­chen Umge­bung zu sehen“, dach­te Ralf.

„Frau Dr. Thie­le­mann. Wie geht es Ihnen?“

„Das ist eigent­lich mein Text“, sag­te sie und lächel­te noch strahlender.

„Es geht mir gut. Dan­ke. Eben war ich im Bronco´s mit Nata­lie.“ Sie nick­te in Rich­tung der Ente, die sich bereits ange­regt mit Man­ni zu unter­hal­ten schien.

„Da gibt es die bes­ten Moji­tos, fin­de ich. Ach, und sagen Sie doch Julia.“

„Freut mich, Julia. Ich hei­ße Ralf.“

Sie schüt­tel­ten sich erneut, dies­mal etwas ver­le­gen, die Hän­de. Dann waren sie bei­de sprachlos.

„Die bei­den ver­ste­hen sich ja schon sehr gut, wie es aus­sieht“, lach­te Julia.

„Es sieht ganz so aus“, sag­te Ralf und ärger­te sich sofort über die­se lah­me Erwiderung.

Julia fiel das gar nicht auf. Sie war zu sehr damit beschäf­tigt, Ralf nicht anzustarren.

Ihre Freun­din­nen wür­den natür­lich unum­wun­den läs­tern, viel­leicht etwas ver­rucht lachen und sie dar­an erin­nern, dass ein Elek­tri­ker höchs­tens fürs Bett in Ord­nung war. Kein Grund, sich ins Spit­zen­hös­chen zu machen.

Gera­de jetzt wur­de ihr bewusst, wie lan­ge sie sich schon nicht mehr mit den Mädels getrof­fen hat­te. Seit dem Stu­di­um hat­ten sie sich ein­mal in der Woche gese­hen, oder zumin­dest tele­fo­niert. Jetzt, da Nata­lie bei ihr „ein­ge­zo­gen“ war, hat­ten sie sich nicht mehr gese­hen oder ausgetauscht.

In die­sem Moment sah sie hin­un­ter, direkt in die dunk­len, freund­li­chen Enten­au­gen, und ver­gaß die ver­nach­läs­sig­ten Freun­din­nen sofort wieder.

Eben ent­fern­ten sich die bei­den Enten von ihnen.

„Wol­len die uns etwas Pri­vat­sphä­re gön­nen, oder selbst unter sich sein?“

Ralf kicher­te.

„Sogar, wenn er kichert, ist er sexy!“ Julia über­leg­te, was sie jetzt sagen könn­te. Etwas Schlag­fer­ti­ges. Aber nicht zu sehr, das wirk­te meist abschreckend.

„Nata­lie ist sonst eher zurück­hal­tend. Das spricht wohl für die­sen Erpel. Na ja, ich eigent­lich auch.“

„Das spricht dann wohl für mich!“

Sie lach­ten.

Teil II – Die Enten

Han­no­ver Lin­den – Ihme-Ufer unter der Benno-Ohnsorg-Brücke
02.11.2014

„Ruhe! Seid still und hört zu!“ Der bul­lig wir­ken­de Erpel reck­te den Kopf in die Höhe und begann dro­hend die Flü­gel zu öffnen.

„Schwimm etwas von mir weg, wir müs­sen Platz für Otto schaf­fen“, zisch­te Han­no sei­nem Kol­le­gen Erik zu. Erik war eben­so bul­lig und kräf­tig wie Han­no selbst und tat sofort, was von ihm erwar­tet wur­de. Heu­te Abend war es beson­ders wich­tig, dass ihr Anfüh­rer Otto die ange­mes­se­ne Büh­ne für sei­ne Rede bekam. Der Plan ging nun in die zwei­te Pha­se über, die Her­de brauch­te jetzt kla­re Anwei­sun­gen und straf­fe Füh­rung, damit nichts schiefging.

Sie dräng­ten die auf­ge­regt schnat­tern­de Schar zurück und schu­fen zwi­schen Ufer und War­ten­den einen frei­en Platz auf dem Was­ser. Dann wat­schel­te Otto an den Was­ser­rand und glitt in die Mit­te des müh­sam gehal­te­nen Freiraums.

Ihr Feld­herr, wie er sich gern selbst bezeich­ne­te, mach­te sich groß, zeig­te einen Moment lang die gan­ze Spann­brei­te sei­ner per­fek­ten Flü­gel, und erhob macht­voll sei­ne voll­tö­nen­de Stimme.

„Freun­de!“ rief er. „Mit­strei­ter und Mitenten!“

Die Men­ge verstummte.

Am Gelän­der der Brü­cke stand ein Pär­chen Men­schen und wun­der­te sich dar­über, dass die ins Was­ser gewor­fe­nen Brot- und Kuchen­stü­cke von den vie­len Enten unbe­ach­tet zum Grund des Kanals sanken.

„Enten!“ Otto streck­te erneut die Flü­gel und warf sich in die Brust.

Eini­ge weib­li­che Enten in der ers­ten Rei­he beka­men glän­zen­de Augen bei die­ser Demons­tra­ti­on des Herr­schafts­an­spruchs und bür­zel­ten hingebungsvoll.

„Die Welt schaut auf uns! Wir haben uns den Men­schen ange­nä­hert, zuge­las­sen, dass sie sich in uns und unse­re Art ver­lie­ben. Wir haben sie ver­führt und von­ein­an­der gelöst! Das ist groß­ar­tig! Eine Leis­tung und gleich­zei­tig der Beweis, wie über­le­gen wir die­sen angeb­li­chen Herr­schern der Erde sind!“

Begeis­ter­tes Schnat­tern und Joh­len erhob sich in die Luft.

„Ihr. Seid. Groß­ar­tig.“ Otto beton­te jedes Wort.

Wie­der Jubel.

„Eure Ziel­ob­jek­te wol­len und kön­nen nicht mehr ohne euch sein. Ihr habt Zugang zu allen Berei­chen ihres Lebens bekom­men. Das war har­te Arbeit und hat euch zum Teil ein erheb­li­ches Maß an Selbst­ver­leug­nung abver­langt, aber ihr habt es geschafft. Für unse­re Sache!“

Otto ließ den Blick über die Ver­samm­lung glei­ten und stell­te zufrie­den fest, wie viel Zustim­mung ihm ent­ge­gen flog. Er konn­te kei­ne Que­ru­lan­ten erken­nen. Wäre Wider­stand erkenn­bar gewe­sen, hät­ten sich die Mit­glie­der sei­ner per­sön­li­chen Leib­gar­de sofort dar­um geküm­mert. Alles lief bes­tens. Die Men­ge hing an sei­nem Schnabel.

Eini­ge Nach­züg­ler schwam­men her­an und füg­ten sich geräusch­los in die erwar­tungs­vol­le Stille.

„Wir haben den ers­ten Schritt getan. Die ers­te Pha­se unse­res Plans ist ein vol­ler Erfolg!“

Otto mach­te eine bedeu­tungs­schwan­ge­re Pau­se, um dem Jubel und der Freu­de Raum zu geben. Er schau­te nach links und rechts zu den treu­en und loya­len Anfüh­rern sei­ner Leib­gar­de. Auch Han­no und Erik wirk­ten ergrif­fen vom Zau­ber sei­ner Worte.

„Die Zeit ist jetzt reif, um die zwei­te Pha­se unse­res Plans ein­zu­läu­ten! Pha­se zwei wird noch heu­te Nacht begin­nen! Alle habt ihr eure beson­de­ren Instruk­tio­nen bekommen.“

Otto erhob don­nernd die Stimme.

„Seid! Ihr! Bereit?“

„Ja!“ schrien alle. „Ja! Wir sind bereit!“

„Seid! Ihr! Ent­schlos­sen. Und. Bereit?“

„Wir sind ent­schlos­sen und bereit!“ Die Enten ver­lo­ren sich in einem Tau­mel der Eupho­rie. „Ja! Ja! Jaaa!“

„DANN WER­DEN WIR DEN KAMPF BEGINNEN!“

Die Enten ras­te­ten aus. Ottos Leib­gar­de ver­such­te gar nicht erst, Ruhe in die Ver­samm­lung zu brin­gen. Man muss­te ihnen die Freu­de und den Wahn lassen.

Otto hat­te ihnen vor die­sem Abend den Ablauf genau erklärt. „Die Eupho­rie brau­chen sie. Das stärkt ihren Wil­len. Wir brau­chen die­sen Wil­len. Ohne die Kraft und den Wil­len der ein­fa­chen Enten kön­nen wir nicht gewinnen.“

„WIR WER­DEN GEWIN­NEN!“ Ottos Stim­me über­schlug sich.

Die geball­ten Emo­tio­nen die­ser Nacht steck­ten auch ihn an. Wochen­lang unter­drück­te Anspan­nung und der Ver­zicht bra­chen sich nun Bahn. Vie­le von ihnen hat­ten in der letz­ten Zeit ohne ihre Part­ner aus­kom­men müs­sen. Aber nie­mand hat­te gemurrt. Otto hat­te ent­schie­den, dass paar­wei­se auf­tau­chen­de Enten Miss­trau­en her­vor­ru­fen und ein Gefühl der Bedro­hung aus­lö­sen könn­te. Kei­ner hat­te die Weis­heit sei­ner Ent­schei­dung ange­zwei­felt. Man ver­trau­te ihm, ver­trau­te auf sei­ne Klug­heit und Intel­li­genz. Sein Füh­rungs­an­spruch war abso­lut und unangefochten.

Er hat­te Opfer gebracht. Jah­re­lan­ge Iso­la­ti­on war not­wen­dig gewe­sen, um sich all das Wis­sen anzu­eig­nen, das unab­ding­bar war zur Füh­rung aller Enten. Wis­sen war Macht. Und die­se Macht wür­de er nun aus­spie­len, um die Welt­herr­schaft an sich zu reißen.

Er dach­te an die vie­len ein­sa­men Näch­te in zahl­rei­chen Biblio­the­ken. Hor­te des Wis­sens, die für ihn nur zugäng­lich waren, wenn die Men­schen schlie­fen oder ver­bo­te­nen Heim­lich­kei­ten im Schut­ze der Dun­kel­heit nach­gin­gen. Ver­stoh­len und immer auf der Hut. Genau wie er selbst.

So hat­te er auch sei­nen Namen gefun­den, oder sein Name ihn. Otto. Nach dem ers­ten Kai­ser des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches deut­scher Nati­on. Die­ser Otto hat­te die Men­schen ver­eint. Er hat­te sei­nen Ein­fluss­be­reich ver­grö­ßert und eine Ein­heit geschaf­fen, die bis dahin auf die­sem Wege uner­reicht war. Ein gro­ßer Mann, der ihm, dem Erpel Otto, eben­bür­tig war, wie er befand. Und der Name war ein­fach und eingängig.

Wäh­rend alle ande­ren Enten umein­an­der balz­ten, sich fan­den und Fami­li­en grün­de­ten, Jahr um Jahr ihre Gele­ge durch die Kind­heit in eige­ne Fami­li­en­grün­dung hiev­ten und beglei­te­ten, hat­te er auf­ge­passt und gelernt. Otto hat­te früh erkannt, wie sehr die­se ubi­qui­tä­ren, um- unter- und über­ein­an­der wim­meln­den­den Para­si­ten, die sich Mensch nann­ten und die Idea­le erschu­fen und im glei­chen Atem­zug ver­ga­ßen, der Welt scha­de­ten. Sie höhl­ten alles auf der Suche nach einem Mehr voll­kom­men aus. Auf der Jagd nach Besitz­tum über­war­fen sie sich mit­ein­an­der, über­roll­ten und zer­stör­ten sich. Nach logi­schen Gesichts­punk­ten hät­te das genü­gen müs­sen, um sich selbst vom Ant­litz der Erde zu til­gen, aber es ging zum Einen nicht schnell genug, und zum Ande­ren, was das Schlimms­te war, ris­sen sie auch jedes ande­re Lebe­we­sen auf die­sem Pla­ne­ten mit in den Abgrund.

Sie began­nen sogar, ihr uner­sätt­li­ches Stre­ben auf ande­re Pla­ne­ten aus­zu­wei­ten. Otto wur­de klar, dass sie auf­ge­hal­ten wer­den muss­ten. Von ihm. Auf ihm las­te­te die gro­ße Ver­ant­wor­tung der Auf­ga­be, ihnen Ein­halt zu gebie­ten. Und er soll­te ver­dammt sein, wenn er sie nicht erfül­len würde.

Doch jetzt, wo sein Plan auf­ging und die Span­nung von ihm wich, traf ihn die Ein­sam­keit mit vol­ler Wucht.

Dort hin­ten trieb Eva.

„Mein Evchen“, dach­te er.

Die jun­ge, auf­fal­lend schö­ne Ente war umzin­gelt von halb­star­ken Erpeln, die sich gegen­sei­tig in Demons­tra­tio­nen ihrer Männ­lich­keit zu über­trump­fen such­ten. Eva ver­such­te sich spie­le­risch von ihnen zu ent­fer­nen. Ihr gol­de­nes Gefie­der strahl­te über die Wasseroberfläche.

Otto war nicht mehr so jung wie ihre Ver­eh­rer, aber er war immer­hin ihr Anfüh­rer. Er besaß Macht über alle Enten. Wenn das kei­ne Demons­tra­ti­on von Männ­lich­keit war, wuss­te er auch nicht. Die Art, wie sie sich den Erpeln immer wie­der ent­zog, ließ ihn hoffen.

Spä­ter, bevor er zurück­kehr­te in das Heim des Ober­bür­ger­meis­ters, wür­de er Han­no nach Eva schicken.

Nata­lie und Man­ni schnä­bel­ten zärt­lich mit­ein­an­der. Sie konn­ten es kaum fas­sen. So ein Glück, dass ihre Men­schen zuein­an­der gefun­den hat­ten. Ein unglaub­li­cher Zufall, oder hat­te Otto das in sei­ner schier unend­li­chen Weis­heit etwa gewusst und geplant?

Es war ihnen egal. Sie hat­ten sich so viel zu berich­ten. Und sie hat­ten ein­an­der so sehr ver­misst. Es war das ers­te Mal gewe­sen, dass sie län­ger als eine Fut­ter­su­che für die Küken von­ein­an­der getrennt waren. Eine schreck­li­che Zeit, die sie nur mit dem gro­ßen Ziel im Auge über­stan­den hatten.

Aus Juli­as Schlaf­zim­mer dran­gen immer lau­ter wer­den­de Schreie, und so muss­ten auch sie nicht lei­se und heim­lich sein. Kurz, sehr kurz, bedau­er­ten sie ande­re Paa­re, die nicht so viel Glück bei der Aus­wahl der ihnen zuge­teil­ten Men­schen hat­ten. Dann wen­de­ten sie sich wie­der ihrem eige­nen Glück zu.

Ralf und Julia hat­ten es in ihrer Tur­tel­ei gar nicht bemerkt, als Nata­lie und Man­ni lei­se die Woh­nung ver­lie­ßen, um an der Gene­ral­ver­samm­lung teil­neh­men zu können.

Die bei­den Enten waren noch erfüllt von der unglaub­li­chen Ener­gie des Abends. Vor­freu­de und ein Schau­der der Auf­re­gung erfüll­ten sie.

Dass ihre bei­den Men­schen jetzt zusam­men waren, mach­te ihre Auf­ga­be, die zwei zu über­wäl­ti­gen und ein­zu­sper­ren, gleich­zei­tig ein­fa­cher, weil sie ja selbst zu zweit waren, aber auch schwie­ri­ger, denn ver­eint wür­den sich Julia und Ralf nicht so schnell ein­schüch­tern lassen.

„Am bes­ten war­ten wir, bis sie wie­der zusam­men im Bett beim Kuscheln sind. Wuss­test Du“, kicher­te Man­ni, „dass die Men­schen es auch ‚Vögeln‘ nennen?“

„Was?!“ kreisch­te Nata­lie. Sie fass­te sich wie­der. „Gute Idee, dann sind sie gar nicht in der Lage, schnell zu reagieren.“

„Wir könn­ten sie ein­fach ein­schlie­ßen. Müs­sen nur den Schlaf­zim­mer­schlüs­sel umge­dreht kriegen.“

„Du bist ja wit­zig. Der steckt nicht mal im Schloss.“

„Dann“, über­leg­te Man­ni, „müs­sen wir sie irgend­wie dazu brin­gen, sich selbst einzuschließen.“

„Das ist ein­fach“, sag­te Nata­lie. „Sobald sie wie­der vögeln wol­len“, sie kicher­te albern, „ner­ven wir sie so lan­ge, bis sie abschließen.“

„Und dann? Die Tür kann dann jeder­zeit wie­der von innen geöff­net wer­den, aber wir kön­nen nicht mehr rein und müs­sen Wache hal­ten bis zum Ende unse­rer Tage!“

Man­ni schnaub­te. „Wir brau­chen eine ande­re Lösung.“

Han­no­ver – Zooviertel
02.11.2014

Ste­fan Schos­tok war auf dem Weg zu sei­nem Arbeits­zim­mer. Es war schon spät, aber es war noch so viel zu tun. Er seufz­te. Die Kin­der hat­ten ihn auf­ge­hal­ten. Edwin war ver­schwun­den und er hat­te mit ihnen zusam­men nach dem abgän­gi­gen Erpel gesucht. Lei­der ohne Erfolg.

„Er ist, das haben wir alle ver­ges­sen, noch immer ein Wild­tier. Viel­leicht hat­te er genug von uns. Oder er braucht ein­fach mal eine Nacht für sich, in einem schö­nen Teich.“

Die Kin­der waren nicht zu trös­ten gewe­sen und er hat­te ein Macht­wort spre­chen müs­sen, damit sie zu Bett gingen.

In der Poli­tik war so etwas ein­fa­cher als zuhause.

Er öff­ne­te die Tür zum Arbeits­zim­mer. Ein Licht­schein kam ihm entgegen.

Dann sah er Edwin auf dem Schreib­tisch vor dem Com­pu­ter sitzen.

„Da bist Du ja, Du Enten­vieh! Wir haben Dich über­all gesucht!“

Ste­fan Schos­tok ging um den Tisch her­um und ließ sich in den Schreib­tisch­ses­sel fallen.

„Die Kin­der waren völ­lig krank vor Sor­ge.“ Edwin sah ihn neu­tral an. „Und ich auch“, füg­te er hinzu.

Der Schna­bel des Erpels saus­te auf die Tas­ta­tur nie­der. Erst jetzt sah der Bür­ger­meis­ter, dass der Rech­ner ein­ge­schal­tet und Word geöff­net war.

‚Wenn Du um Hil­fe rufst, hacke ich Dir mit dem Schna­bel die Augen aus‘, stand dort.

„Edwin, was…“

‚Du und die Stadt befin­den sich ab sofort in der Gewalt der Enten‘, hack­te Edwin.

„Aber Edwin…“, ver­such­te Ste­fan Schos­tok es erneut.

Der Erpel hack­te wie­der mit dem Schna­bel auf die Tas­ta­tur ein.

‚Außer­dem hei­ße ich nicht Edwin. Mein Name ist Otto‘, las er.

Er woll­te auf­ste­hen. Irgend­et­was machen. Das war doch völ­lig grotesk!

Da flog ihm der Erpel ins Gesicht. Die Federn stri­chen über sei­ne Haut und er nahm den Geruch des Vogels, sei­ne Wär­me wahr. Es fühl­te sich merk­wür­dig an.

Er hat­te Edwin, nein, Otto schon zuvor berührt, aber da war die Initia­ti­ve von ihm aus­ge­gan­gen. Das hier war etwas anderes.

Sicher, den Kin­dern hat­te er gesagt, Edwin… Nein, er muss­te sich schon wie­der ver­bes­sern. Das Mist­vieh nann­te sich ja selbst Otto.

Also Otto sei ein Wild­tier, hat­te er den Kin­dern gesagt, dabei aber nur gedacht, der Erpel sei unter ein Auto gera­ten, oder von einem eif­ri­gen Jäger geschos­sen wor­den. Er hat­te kei­nes­wegs an so etwas gedacht.

Und der ver­damm­te Vogel konn­te einen Com­pu­ter bedienen!

Er sank in den Ses­sel zurück.

‚Schön brav bleiben.‘

„Okay. Ich blei­be ein­fach hier sit­zen und tue nichts. Okay?“

‚Ja.‘

Otto sah ihm fest ins Gesicht. Sei­ne Enten­au­gen starr­ten feind­lich und kalt.

Jetzt bür­zel­te das Vieh auch noch. Ste­fan Schos­tok mein­te, dar­in Häme wahr­zu­neh­men. Das könn­te natür­lich Ein­bil­dung oder Über­tra­gung sein. Konn­te eine Ente hämisch bür­zeln? Nein. Bestimmt nicht.

Ande­rer­seits hät­te er bis vor fünf Minu­ten auch jeden in die Klaps­müh­le schi­cken wol­len, der behaup­te­te, Enten könn­ten mit­hil­fe von Word irgend­je­man­dem drohen.

‚Otto, nach Otto I., dem Kai­ser des hl. röm. Rei­ches deut­scher Nati­on.‘ Otto quak­te zufrie­den. Der Mann im Ses­sel starr­te ihn völ­lig ent­geis­tert an.

‚Also. Fol­gen­des…‘

Ste­fan Schos­tok, Ober­bür­ger­meis­ter der nie­der­säch­si­schen Lan­des­haupt­stadt Han­no­ver, pass­te jetzt sehr genau auf.

Der Mor­gen danach

Han­no­ver Mit­te – U‑Bahnstation Kröpcke
03.11.2014

Seit die Enten in die Hei­me der Men­schen ein­ge­zo­gen waren, war bereits Ruhe in die Stadt ein­ge­kehrt. Nachts und in den frü­hen Mor­gen­stun­den waren, im Gegen­satz zu Zei­ten davor, kaum noch Nacht­schwär­mer unter­wegs. Aber an die­sem frü­hen Mor­gen war gar kei­ner unter­wegs. In einem Wes­tern wür­den Büschel von Prä­rie­gras umher rollen.

Julia und Ralf trau­ten die­ser Ruhe jedoch nicht und zuck­ten bei jedem Geräusch zusam­men. Inter­es­san­ter­wei­se mach­te die zen­tra­le U‑Bahnstation auch Geräu­sche, wenn sie völ­lig leer war.

Kei­ne Men­schen­see­le, und auch kei­ne Ente war zu sehen. Nicht mal die all­ge­gen­wär­ti­gen Tauben.

Sie hat­ten beschlos­sen, es sei am bes­ten, sich unter­ir­disch zu ver­ste­cken und fortzubewegen.

In den Wohn­ge­bie­ten patrouil­lier­ten Enten durch die Stra­ßen. Julia frag­te sich, ob die dienst­ha­ben­den Vögel ihre Men­schen so, wie Nata­lie und Man­ni das bei ihnen getan hat­ten, zusam­men­ge­legt hat­ten, um kei­nen Men­schen ohne enti­sche Wache las­sen zu müs­sen. Woll­ten sie ande­re befrei­en, war das eine wich­ti­ge Information.

Viel­leicht schlie­fen noch eini­ge und hat­ten noch gar nicht bemerkt, was in die­ser Nacht pas­siert war.

Zuerst hat­ten sie über­haupt nicht ver­stan­den, was los war. Ralf hat­te ins Bad gewollt und die Tür hat­te sich nicht öff­nen las­sen. Irgend­wann im Lau­fe die­ser unglaub­li­chen Nacht began­nen die Enten, immer wie­der ins Schlaf­zim­mer zu stür­men. Sie hüpf­ten aufs Bett, dräng­ten sich an sie und waren nicht zum Ver­las­sen des Zim­mers zu bewegen.

Eifer­sucht, hat­ten sie gedacht und schwe­ren Her­zens bei­de Vögel gepackt und ins Wohn­zim­mer ver­frach­tet. Dann waren sie zurück­ge­flitzt und hat­ten die Tür von innen abge­schlos­sen. Kurz mach­te sich ein schlech­tes Gewis­sen bemerk­bar, aber bei­de ver­ga­ßen das schnell.

Und dann beka­men sie die Tür nicht mehr auf. Kau­gum­mi im Schloss.

Im Flur hör­ten sie die Enten schnat­tern, als führ­ten die­se ein ange­reg­tes Gespräch. Nach einer Wei­le wur­de die Woh­nungs­tür geöff­net, das Gera­schel von Flü­geln, und sie waren allein.

Ralf hat­te das Schlaf­zim­mer­fens­ter ein­schla­gen müs­sen, und sie flo­hen ohne Zögern über den Bal­kon aus dem Haus. Der Weg zum Kröp­cke war eine nerv­li­che Zer­reiß­pro­be gewe­sen, bei­na­he wären sie einer Enten­pa­trouil­le in die Hän­de geraten.

Sie hat­ten an der Archiv­stra­ße kurz Halt gemacht und konn­ten beob­ach­ten, wie zwei Enten neben einer Frau her­lie­fen. Julia und Ralf ver­steck­ten sich hin­ter einem gro­ßen Rho­do­den­dron. Zuerst schien es, die Enten gehör­ten zu ihr, denn sie wat­schel­ten nied­lich wie immer, doch die Frau beach­te­te die Enten kaum. Eine von ihnen sprin­te­te vor­aus, was beson­ders put­zig aus­sah, und bür­zel­te hef­tig. Die Frau igno­rier­te es. Bei­de Enten stopp­ten kurz und sahen sich an. Dann flo­gen sie auf, lan­de­ten kurz vor der Frau erneut und bür­zel­ten nun bei­de. Die Frau blick­te stur gera­de­aus. Eine der Enten bür­zel­te unauf­hör­lich wei­ter und wat­schel­te dabei stän­dig zwi­schen den Füßen der Frau hin­durch, blick­te fra­gend nach oben, bis die­se der Ente einen klei­nen Tritt ver­setz­te. Die­se flat­ter­te ein wenig mit den Flü­geln, bis sie sich gefan­gen hat­te, und begann dann wie wild zu qua­ken. Im Nu war die Frau von unge­fähr einem Dut­zend wei­te­rer Enten umge­ben. Eini­ge setz­ten sich auf ihre Schul­tern, eine sogar auf ihren Kopf. Die Frau ver­such­te sie mit den Armen zu ver­scheu­chen, da began­nen die Enten auf sie ein­zu­ha­cken. Julia sah erschreckt, wie eine der Enten wie wild ihren Schna­bel in das lin­ke Auge der Frau ramm­te, bis ein plop­pen­des Geräusch ertön­te. Die Vögel erstarr­ten. Auf­ge­regt lie­ßen sie von ihrem Opfer ab und umkreis­ten sie mehr­mals, eini­ge schlu­gen kon­fus die Flü­gel auf und ab. Julia kam es so vor, als sei­en die Tie­re von ihrer eige­nen Tat über­wäl­tigt. Im nächs­ten Moment lag die kläg­lich Wim­mern­de allein auf der Stra­ße. Julia erhob sich, um der Frau zu hel­fen, doch Ralf nahm ihre Hand und hielt sie zurück.

„Sie kön­nen jeder­zeit zurück­kom­men“, sag­te er ein­dring­lich. „Wir müs­sen sofort hier weg!“

„Aber…“

„Nein! Sofort! Du hast doch gese­hen, was gera­de pas­siert ist.“

Nach­dem sie sich ver­ge­wis­sert hat­ten, dass sie allein waren, ver­lie­ßen sie ihre Deckung und rann­ten, so schnell sie konnten.

Nun waren sie ange­kom­men und konn­ten end­lich auf­at­men, die Situa­ti­on begrei­fen. Das alles war so völ­lig fern­ab ihrer Vorstellungskraft.

Plötz­lich gin­gen alle Lich­ter aus. Es war mit einem Mal stock­dun­kel. Ralf zerr­te sein Han­dy aus der Jeans­ta­sche und ent­sperr­te es. Das Leuch­ten des Dis­plays schuf eine grau­si­ge Atmosphäre.

„Kein Netz“, sag­te er lang­sam. „Sie müs­sen über­all den Strom abge­stellt haben.“

„Sie haben was?!“, rief Julia. „Es sind doch Enten!“

„Enten“, erwi­der­te Ralf, „die uns ein­ge­sperrt haben. Enten, die dabei ganz offen­sicht­lich plan­voll vor­ge­gan­gen sind.“

„Ich kann noch gar nicht glau­ben, dass mei­ne Nata­lie das getan haben soll. Sie ist doch so lieb und anhäng­lich.“ Sie schnief­te lei­se. Im Tun­nel wur­de das Geräusch laut und hall­te ihr von den Wän­den des Schachts entgegen.

„Es hat sich tat­säch­lich kei­ner gefragt, wie es zu die­ser Annä­he­rung der Enten an uns kam. Wir waren alle so ver­zückt von ihren Knopf­au­gen über den Schnä­beln, dem Bür­zeln… Kei­ner ist miss­trau­isch geworden.“

„Und jetzt ist es zu spät.“

„Ja, jetzt ist es anschei­nend zu spät.“ Ralf straff­te die Schul­tern. „Also gut. Wir müs­sen die Situa­ti­on und unse­re Mög­lich­kei­ten zusam­men­fas­sen und über­le­gen, was wir tun wollen.“

„Wir kön­nen kei­nen anru­fen. Und wir kön­nen auch nicht durch die Tun­nel aus der Stadt ent­kom­men, denn die Bah­nen fah­ren alle irgend­wann ober­ir­disch wei­ter. Und wir haben bei­de kein Auto.“

„Das sieht doch ganz gut aus. Wir haben reich­lich Mög­lich­kei­ten“, wit­zel­te Ralf.

„Lus­tig!“

Ent­mu­tigt lie­ßen sie sich auf die Schie­nen sinken.

Han­no­ver, auf jedem Fernsehbildschirm
09.11.2014

Neben Ste­fan Schos­tok, auf dem Red­ner­pult, thron­te Otto und sah ernst in die Kamera.

„Lie­be Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­ger, ich spre­che heu­te an die­sem bedeut­sa­men Tag zu Ihnen, um die ver­än­der­te Situa­ti­on in der Stadt zu erklären.

Neben jedem von Ihnen sitzt eine Ente, von der Sie, und da gebe ich Ihnen mein Ehren­wort, ich wie­der­ho­le, mein Ehren­wort, nichts zu befürch­ten haben.“ Mit einem schnel­len Sei­ten­blick konn­te er erken­nen, dass Otto ihn ansah.

„Die Enten wer­den auch wei­ter­hin unse­re Freun­de sein. Sie haben nichts als unser Wohl im Sinn. Zwar wer­den Sie sicher­lich fest­ge­stellt haben, dass vie­le Berei­che des öffent­li­chen Lebens von Enten über­nom­men wor­den sind, doch dies geschieht zu unse­rem eige­nen Schutz. Enten an den Uni­ver­si­täts­fa­kul­tä­ten, bei den Stadt­wer­ken, im Poli­zei­dienst und der Stadt­ver­wal­tung bemü­hen sich nach Kräf­ten die öffent­li­che Ord­nung auf­recht zu erhal­ten und sol­len Sie kei­nes­falls verunsichern.

Wahr­schein­lich haben Sie in den letz­ten Wochen eben­so wie ich ein­ge­se­hen, dass das bis­he­ri­ge Macht­ge­fäl­le zwi­schen Men­schen und Enten uns kei­ner­lei Frie­den gebracht hat. Viel­mehr befin­det sich unse­re Gesell­schaft in einem deso­la­ten Zustand, den wir als Ver­ur­sa­cher kaum noch wahr­ge­nom­men haben. Wir Men­schen sind immer mehr zu Para­si­ten ver­kom­men. Die Enten wer­den uns hel­fen, die­sem Teu­fels­kreis zu ent­flie­hen und ein neu­er Mensch zu wer­den. Das bedeu­tet aber auch, dass wir die Weis­heit unse­rer neu­en Füh­rer aner­ken­nen und uns ihr bedin­gungs­los unter­wer­fen müssen.

Es ist in unse­rem eige­nen Inter­es­se, den Enten Gehor­sam zu leis­ten und kei­nen Wider­spruch aus unse­ren Rei­hen zu dul­den. Sehen Sie die Enten als das, was sie sind: Uns überlegen.“

Ste­fan Schos­tok war ein Medi­en­pro­fi, dem es gelang, wäh­rend die­ser Rede sei­ne eige­nen Gefüh­le nicht nach außen drin­gen zu las­sen. Er fuhr fort.

„Unse­re glor­rei­chen Füh­rer hal­ten in den Bür­ger­bü­ros für jeden Han­no­ve­ra­ner einen per­sön­li­chen Pas­sier­schein bereit, der zur kos­ten­lo­sen Nut­zung der öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel inner­halb der Stadt sowie der Biblio­the­ken und Muse­en berech­tigt. Die­se wur­den von jeder Art Glo­ri­fi­zie­rung der para­si­tä­ren mensch­li­chen Kul­tur berei­nigt. Hal­ten Sie Ihren Pas­sier­schein jeder­zeit bereit und zei­gen Sie ihn bei jeder Enten­pa­trouil­le unauf­ge­for­dert vor. Zuwi­der­hand­lung wird zu Ihrem eige­nen Bes­ten streng geahn­det. Sehen Sie die­se Maß­nah­men als eine Hil­fe, die wir dan­ken anneh­men, und ein Licht, das uns den Weg zur Wahr­heit weist.

Und nun möch­te ich Ihnen vol­ler Stolz den gro­ßen Geist vor­stel­len, der uns in eine bes­se­re Zukunft füh­ren wird.“ Ste­fan Schos­tok klatsch­te in die Hän­de, ver­beug­te sich leicht und wies auf ihn: Otto.

Der Erpel reck­te den Hals, warf sich in die Brust, öff­ne­te leicht die Flü­gel, und nick­te bedäch­tig. Dann ent­spann­te er sich wie­der und bürzelte.

Die Enten vor den Emp­fangs­ge­rä­ten tob­ten und jubel­ten fre­ne­tisch, die Men­schen neben ihnen starr­ten betre­ten ins Leere.

Han­no­ver List
09.11.2014

Sven hat­te die Rede von Ste­fan Schos­tok gemein­sam mit sei­nem Erpel Chris­toph gebannt ver­folgt. Chris­toph hüpf­te auf dem Sofa auf und ab und schlug mit den Flü­geln. Zwi­schen­durch erzit­ter­te sein Bür­zel. Sven betrach­te­te das Schau­spiel und konn­te in der Freu­de des Erpels nichts Böses erken­nen. Sie hat­ten sich vor der ange­kün­dig­ten Rede ein Bier geteilt und Sven heg­te den Ver­dacht, der noch nicht so trink­fes­te Chris­toph sei schon besof­fen. Eine Wel­le unend­li­cher Zunei­gung durch­flu­te­te ihn. Der Erpel strahl­te ihn an. In die­sem Moment erkann­te Sven, was er schon seit eini­ger Zeit geahnt hat­te: ‚Ich muss pissen!‘

„Ich muss mal weg“, sag­te er zu Christoph.

Chris­toph beäug­te ihn miss­trau­isch und wirk­te mit einem Mal gar nicht mehr betrun­ken. ‚Wohin?‘ schie­nen sei­ne Augen zu fragen.

„Bier weg­brin­gen. Soll ich deins mitnehmen?“

Der Erpel gab ein Geräusch von sich, das wie ein Lachen klang. Dann schüt­tel­te er den Kopf.

Als Sven aus dem Bade­zim­mer kam, begeg­ne­te ihm eine Ente mit Koch­schür­ze. Sie blieb ste­hen. Auf ihrer Schür­ze stand: „Küss mich, ich bin der Koch“. Sven glotz­te ver­dat­tert. Die Ente starr­te ihn keck an, bür­zel­te kurz und wat­schel­te dann in die Küche. Sven folg­te ihr. In sei­ner klei­nen Küche wühl­te ein Erpel in der Besteck­schub­la­de. Auch er trug eine Koch­schür­ze und dreh­te sich fra­gend zu Sven um. Auf sei­ner Schür­ze stand: „Geht eine Ente in eine Bar…“. Chris­toph streck­te sei­nen Kopf aus der Wasch­ma­schi­ne und nick­te ihm auf­mun­ternd zu, fast so als wol­le er sagen: „Hey, Kum­pel, ich habe da mal ein paar Leu­te für ein unge­zwun­ge­nes Sit-In ein­ge­la­den. Das ist doch okay für dich, oder?“

Sven fühl­te sich über­for­dert und schüt­tel­te sich. Obwohl die Enten ihn freund­lich anschau­ten, fühl­te er sich bedroht. Er warf schnel­le Bli­cke in die ande­ren Zim­mer, aber dort war nie­mand. Kurz­ent­schlos­sen warf er die Küchen­tür zu, schnapp­te sich Jacke und Diens­t­ruck­sack und rann­te aus der Woh­nung, aus dem Haus. Von oben, aus der Woh­nung, hör­te er ein lau­tes Klop­fen, als die Enten mit ihren Schnä­beln gegen das Küchen­fens­ter hack­ten. Chris­tophs ent­täusch­ter Blick ver­folg­te ihn.

Han­no­ver Linden
09.11.2014

Sven wuss­te nicht so recht, wie er es bis hier­hin geschafft hat­te, aber jetzt stand er vor einem der ver­wais­ten Laden­lo­ka­le des Ihme-Zen­trums. Erst jetzt bemerk­te er, dass er völ­lig außer Atem war. Er sah nach oben. Dort brann­te ein Licht. Ohne genaue Vor­stel­lung, was ihn dort erwar­ten wür­de, stieg er die Außen­trep­pen hin­auf. Nicht ein ein­zi­ges Mal schau­te er sich um, son­dern stie­fel­te Stu­fe um Stu­fe auf­wärts. Daher wuss­te er auch nicht genau, auf wel­chem Stock­werk er sich gera­de befand, als er die eksta­ti­schen Rufe meh­re­rer Enten ver­nahm. Sie kamen aus der Woh­nung direkt an der Trep­pe. Kurz frag­te er sich, ob sie ihn gehört hat­ten. Er blieb ste­hen und lausch­te von Sekun­de zu Sekun­de ent­setz­ter dem, was da zu ihm aus der Woh­nung drang. Die Wor­te klan­gen unbe­hol­fen, wie ein Kind, das gera­de sei­ne ers­ten Schrit­te tat, doch er war sich sicher, es waren die Enten. Sie konn­ten spre­chen. Also doch.

Aus dem Dun­kel des Flu­res kam ein lei­ses „Psst!“

Erschro­cken wand­te er sich um. Ein Paar am auf ihn zu. Man konn­te ihnen anse­hen, dass sie schon seit meh­re­ren Tagen unter­wegs gewe­sen sein mussten.

„Das ist Otto“, sag­te die Frau. „Er schwört sei­ne Leib­gar­de auf sich ein. Wir erklä­ren dir alles, wenn wir oben sind. Hier kön­nen wir nicht bleiben.“

Sie pack­te Svens Hand. Gemein­sam rann­ten sie wei­ter die Trep­pen hinauf.

„In die obers­te Woh­nung kom­men sie nicht hin­ein, frag mich nicht, wie­so. Ich bin übri­gens Ralf“, rief ihm der Mann über die Schul­ter hin­weg zu.

Bei­de leg­ten ein ordent­li­ches Tem­po vor und Sven wur­de lang­sam die Schwe­re sei­nes Ruck­sacks bewusst. War­um hat­te er ihn über­haupt mitgenommen?

Hin­ter sich hör­ten sie Flü­gel­schla­gen und lau­tes Quaken.

„Da sind sie“, rief die Frau. „Wir müs­sen noch schnel­ler laufen!“

„Es sind nur noch drei Stock­wer­ke“, rief nun Ralf. Sei­ne Stim­me über­schlug sich bei­na­he vor Auf­re­gung und Panik. „Wir haben es fast geschafft!“

Sie rann­ten. Ihnen schmerz­ten die Bei­ne. Dann sahen sie die ret­ten­de Tür. Sie öff­ne­te sich einen Spalt. Förm­lich war­fen sie sich dage­gen und stol­per­ten über­ein­an­der in einen klei­nen Woh­nungs­flur. Es roch nach Kek­sen und Gemütlichkeit.

Hin­ter ihnen schloss eine klei­ne alte Dame behut­sam die Tür. „Bei mir seid ihr in Sicher­heit. Setzt euch doch erst mal. Kann ich euch ein paar Kek­se anbie­ten? Sie sind auch ohne Rosi­nen. Ich weiß ja, dass ihr sie nicht mögt.“

An der Tür kratz­te und schab­te es. Sie hör­ten Otto, der mit lau­ter Stim­me Befeh­le erteil­te: „Bewacht die Tür, ihr dum­men Küken! Jetzt sind sie bei IHR!“

Die vier sahen sich an. „Habt ihr Angst?“ frag­te die klei­ne alte Dame liebenswürdig.

„Ja“, ant­wor­te­ten sie im Chor.

„Gut. Aber noch nicht annä­hernd genug.“

Ralf ver­schluck­te sich an sei­nem Keks.

Der Kampf beginnt.

…wird fort­ge­setzt…

Als ich die Wor­te zum ers­ten Mal aus sei­nem Mund ver­nahm, fand ich sie furcht­bar flach: »Wir alle brau­chen manch­mal einen Lotsen«.

Die­ser nichts­sa­gen­de Satz, die­se inhalts­lee­re Belang­lo­sig­keit war einer sei­ner Lieb­lings­sprü­che, sein Man­tra, sei­ne Lösung für alles und sei­ne Lösung für jeden. Nun, für fast jeden, muss ich ergän­zen. Er selbst, der gro­ße Kapi­tän, schien kei­nen Lot­sen nötig zu haben, auf kei­ner Rei­se sei­nes Lebens, nein, im Gegen­teil, stets bot er sich ande­ren als Bei­stand an, weil er wohl glaub­te, er sei der ein­zi­ge, der ver­stan­den habe, wo im Leben die Untie­fen lie­gen und wel­che unsi­che­ren Gewäs­ser es zu mei­den gilt.

Es war ein Satz wie einer die­ser uner­träg­lich opti­mis­ti­schen Kalen­der­sprü­che, die Unzu­frie­de­nen das Leben etwas freund­li­cher gestal­ten sol­len und in ihrer Bot­schaft so belang­los, so stu­pi­de sind, dass nie­mand je etwas Ver­nünf­ti­ges dage­gen ein­zu­wen­den ver­mag. Was hät­te jemand auch gegen die­sen Satz ein­wen­den sol­len? Er war ja rich­tig. Das war es, was mich dar­an zur Weiß­glut brach­te. Aus­ge­rech­net er muss­te es sein, der mir die­sen bedeu­tungs­lo­sen Satz mit einer Ernst­haf­tig­keit vor­pre­dig­te, so als wüss­te er genau, wor­um es im Leben gehe und wie man es sich ein­zu­rich­ten habe. Er wähn­te sich nicht nur als stol­zer Kapi­tän sei­nes eige­nen, wind­schnit­ti­gen Lebens und Lot­se der Leben aller ande­ren, son­dern gleich als Kar­to­graf für Leben über­haupt. In mei­nen Augen war er ein arro­gan­ter, chau­vi­nis­ti­scher Idiot.

Mit der Zeit fing ich an, die­sen Satz zu has­sen, und dadurch letzt­lich auch des­sen Urhe­ber. Er mach­te mich rasend, zumin­dest inner­lich, und ich muss­te mich schier beherr­schen, ihm nicht offen ins Gesicht zu fau­chen. Mit einer gelas­se­nen Regel­mä­ßig­keit wag­te er es hin und wie­der, die­se Plat­ti­tü­de in Dis­kus­sio­nen ein­zu­streu­en, die er mit mir führ­te, oder den Satz zu vari­ie­ren, ihm ein Tro­ja­ni­sches Pferd als Vehi­kel zu kon­stru­ie­ren und ihn einer Meta­pher unter­zu­schie­ben, damit die Wor­te nachts her­vor­kom­men und in mei­nem Kopf ihre Wir­kung ent­fal­ten konn­ten. Wenn er sich mit ande­ren unter­hielt oder wenn wir in einer Grup­pe unter­wegs waren und er jeman­dem die­sen Tipp, die­se Nich­tig­keit zuteil­wer­den ließ, blick­te er mit einem süf­fi­san­ten Lächeln in mei­ne Rich­tung, so als woll­te er ganz sicher­stel­len, dass ich den Satz auch zwei­fel­los ver­nom­men hätte.

War­um war es ihm so wich­tig, mir die­sen Satz immer und immer wie­der unter die Nase zu rei­ben? Es kotz­te mich ehr­lich gesagt an. Ich war doch Kapi­tän mei­nes eige­nen Lebens und ich brauch­te kei­nen Lot­sen. Schon gar nicht ihn!

Was also woll­te er mir mit die­sem dümm­li­chen Satz sagen, was pass­te ihm nicht an mir? Ich ver­stand es nicht und ich wuss­te nicht, ob ich es über­haupt ver­ste­hen wollte.

In den fol­gen­den Mona­ten hat­ten wir sel­ten mit­ein­an­der zu tun, wir tra­fen uns nur dann und wann rein zufäl­lig, so auch an Sil­ves­ter. Wir plau­der­ten ganz ober­fläch­lich über die­ses und jenes, denn auch ihm muss­te auf­ge­fal­len sein, dass unser Kon­takt sich ver­rin­gert hat­te. Bei einem Bier erzähl­te ich ihm kurz von jenen Din­gen, die mich zu die­ser Zeit beweg­ten, belas­te­ten, ganz nor­ma­ler All­tags­kram, und er sprach bloß leicht ange­trun­ken von einem Schiff, das auf Grund lau­fen wür­de, wenn ihm ein Lot­se fehl­te, denn schließ­lich bräuch­te selbst der bes­te Kapi­tän manch­mal einen Lot­sen und so wei­ter. Er spul­te sein Pro­gramm ab.

Mir war klar, dass er mich mein­te. Ich wür­de mit mei­nen Pro­ble­men auf Grund lau­fen, wenn nicht er, der gro­ße, all­wis­sen­de Lot­se mich ret­ten wür­de. Arsch­loch! Er kam sich in die­sem Moment sicher unglaub­lich lus­tig und über­le­gen vor, und es war wie­der ein­mal typisch für ihn, der glaub­te, ich hät­te nur auf sei­ne, gera­de sei­ne ret­ten­de Hil­fe gewar­tet. Sah ich so aus, als hät­te ich das nötig? Nein! Er konn­te mich mal.

Als er mir von sei­ner neu­en Woh­nung vor­zu­schwär­men begann, hör­te ich ihm schon nicht mehr rich­tig zu. Völ­lig unver­bind­lich ließ ich mir das Ver­spre­chen abrin­gen, ihn irgend­wann ein­mal besu­chen zu kom­men, und ver­schwand sofort dar­auf im anony­men Tru­bel der Sil­ves­ter­fei­ern­den. Ich sah noch, wie er mir nach­wink­te. Er schien mit die­ser Ant­wort glück­lich zu sein, aber ich hat­te nicht vor, ihn tat­säch­lich zu besuchen.

Ein Jahr ver­ging, in dem ich ihn kaum sah. Jedes Mal, wenn es doch geschah, leb­te in mir die Erin­ne­rung an jenen Satz auf. Ich ver­mied es schließ­lich voll­ends, ihm zu begeg­nen, und ging ihm aus dem Weg. Es war kei­ne bewuss­te Ent­schei­dung, die mich dazu gebracht hat­te, son­dern die­ses auf eine vage Art ver­un­si­chern­de Gefühl, das mich über­kam, wenn ich durch ihn an sei­nen Satz erin­nert wur­de. Ich ertapp­te mich dabei und fand es albern, konn­te mich aller­dings nie über­win­den, ihn ein­fach anzu­ru­fen oder ein Tref­fen mit ihm zu ver­ein­ba­ren. Mir fiel wie­der ein, dass er in der Stadt eine neue Woh­nung gefun­den hat­te und ich nun weder sei­ne neue Anschrift noch sei­ne Tele­fon­num­mer besaß. Das beru­hig­te mich, denn selbst wenn ich ihn hät­te errei­chen wol­len, so hät­te ich es nicht gekonnt. Es lag nicht in mei­ner Macht.

Er wie­der­um mach­te eben­so weni­ge Anstal­ten, sich bei mir zu mel­den, und so ver­gaß ich ihn fast, bis ich eines Tages im Super­markt auf jeman­den traf, den er mir einst als einen Freund vor­ge­stellt hat­te. Unschlüs­sig, ob ich die­sen Freund ein­fach anspre­chen soll­te, blieb ich zwi­schen den Rega­len ste­hen und dach­te nach, bis mir die Ent­schei­dung abge­nom­men wur­de und er sei­ner­seits auf mich zukam. Von der Situa­ti­on über­rum­pelt, ent­fuhr mir ein »Hal­lo!«, er aber griff bloß nach einer Packung Corn­flakes. Ich stand genau davor. Das war alles. Wort­los mus­ter­te er mich, bis ich ihn schließ­lich unbe­hol­fen frag­te, ob er sich an mich erin­ne­re, wir hät­ten einen gemein­sa­men Freund, und wo die­ser gemein­sa­me Freund denn hin­ge­zo­gen sei. Sein Gesicht ver­riet mir, dass er mich erkann­te. Zunächst erstaunt, dann bedrückt sah er mich an, bejah­te, sah sich um, als sei­en sei­ne Wor­te für die­sen Ort unge­eig­net, und sprach in gedämpf­tem Ton:

„Du weißt es noch gar nicht, hm? Man fand ihn vor, ja, knapp andert­halb Mona­ten in sei­ner Woh­nung. Tablet­ten oder so. Er hat­te sogar einen Abschieds­brief geschrie­ben, na ja, mehr eine Abschieds­no­tiz: »Ohne dich lau­fe ich auf Grund«. Selt­sam, was? Nie­mand weiß, wen oder was er damit gemeint hat.“

Und da ver­stand ich sei­nen Satz.

Ich habe letz­te Nacht von dir geträumt, von uns, von den Wegen, die wir gemein­sam hät­ten gehen, den Geheim­nis­se, die wir alle hät­ten tei­len kön­nen, von dem, was wir einst waren, und von dem, was wir noch alles hät­ten sein kön­nen. Die Träu­me sind der letz­te Ort, an dem ich dir noch nah sein kann. Es ist vor­bei, habe ich gedacht, und ich käme damit klar. Nun aber ver­brin­ge ich mei­ne Tage im Bett, manch­mal acht­zehn Stun­den und mehr, weil doch mit dir der letz­te Grund zum Auf­ste­hen schwand. Schla­fen jedoch kann ich kaum, und ob ich wach bin oder nicht, mei­ne Gedan­ken dre­hen sich um dich, um das, was von dir noch immer in mir übrig ist. Du bist in mir ein­ge­zo­gen, damals, als wir uns ken­nen­lern­ten, und als du gegan­gen bist, hast du dei­ne Sachen ein­fach in mir zurück­ge­las­sen. Sie ste­hen in mei­nen Räu­men her­um und erin­nern mich an dich, sie bele­gen so viel Platz in mei­nen Kam­mern, dass mir zum Leben kei­ner bleibt. Mein Appe­tit hat mir den Rücken zuge­kehrt, genau wie du, doch ohne Nah­rung kann ich über­le­ben, bloß ohne dich fällt mir das reich­lich schwer.

Mit Trä­nen gehe ich in jede Nacht und mei­ne Augen sind am nächs­ten Tag so schwer wie rot. Mor­gens treibt mich nur die Hoff­nung an, du könn­test dich heu­te bei mir mel­den. Abends ban­ge ich dann vor dem Schla­fen­ge­hen, viel­leicht ja mel­dest du dich mor­gen. Was zwi­schen die­sen Punk­ten liegt, ist jene Zeit, in wel­cher ich ein Leben simu­lie­re, frech und selbst­be­wusst, das sorg­lo­se Mäd­chen; die­se Zeit, in der ich hoff­nungs­los ver­su­chen muss, mit Kopf und Herz nicht jeden Augen­blick bei dir zu sein. Ohne ein Zei­chen von dir sind mei­ne Tage leer.

Wann immer ich in letz­ter Zeit durch die­se Stadt schlen­der­te, in der dein Leben das mei­ne zum ers­ten Mal betrat, fühl­te ich die Aura dei­ner Anwe­sen­heit. Hier lebst du, arbei­test du, ver­bringst du dei­ne Tage. Hier lach­ten wir, spra­chen wir, teil­ten wir ein Dasein mit­ein­an­der. Es ist dei­ne Stadt, das war sie schon, als wir uns ken­nen­lern­ten, und sie liegt vor mir wie ein Mahn­mal, wie ein Tor zu einer bes­se­ren Zeit. Hin­ter jeder Ecke könn­test du her­vor­kom­men, auf jeder Stra­ße könn­test du spa­zie­ren, und tat­säch­lich war­test du auf mich an jedem Ort. Nicht du, nicht als Per­son, aber als Erin­ne­rung, als Gespenst mei­ner Ver­gan­gen­heit, unse­rer Ver­gan­gen­heit, das mich auf Schritt und Tritt ver­folgt. Du hast die Stadt für mich unbe­nutz­bar gemacht, denn über allem liegt der Schlei­er dei­nes Wesens. Kei­nen Meter kann ich gehen, ohne dass du mir erscheinst. So wie du mich im Schlaf in jeder Nacht ver­folgst, ver­folgst du mich bei jedem Schritt.

Du weißt, es beschränkt sich nicht auf eine lee­re Meta­pher, wenn ich dir sage, dass du für mich die Welt gewe­sen bist. Alles hier erin­nert mich an dich. Die Stadt, sie schmeckt nach dir, sie riecht nach dir, der Wind ver­brei­tet dei­nen Duft, die Häu­ser erzäh­len Geschich­ten über dich, die Brun­nen spei­en dein Was­ser. Stra­ßen, Gebäu­de und Men­schen erschöp­fen sich in ihrer Rela­ti­on zu dir, ich neh­me sie wahr als Kulis­sen und Kom­par­sen unse­res ver­gan­ge­nen, gemein­sa­men Lebens. Ich beweg­te mich wie auf Schie­nen mit dir, war durch dich Zug gewor­den, der sei­ne Glei­se immer mit sich führt, was links und rechts von uns geschah, war mir egal, denn Augen hat­te ich doch bloß für dich. Mit dir war alles schön, schon weil du da warst. Heu­te aber sind die Wei­chen umge­stellt, die alten Tras­sen am Verrotten.

Mit beben­dem Her­zen kreu­ze ich in die­sen Tagen dann und wann den wei­ten Platz, auf dem der klei­ne Brun­nen steht, an dem wir uns so vie­le Näch­te um die Ohren schlu­gen, bis das Mor­gen­licht uns unter­brach. Fast jeden Tag betre­te ich den men­schen­lee­ren Bahn­steig, an des­sen Ende du so oft auf mich gewar­tet hast. Wenn ich irgend­wo bloß einen Zug vor­über­rau­schen sehe, fah­re ich im Traum zu dir. Mit mat­tem Blick ver­fol­ge ich die Stra­ßen­bahn, die auch zu dei­ner Stra­ße führt. An jeder Hal­te­stel­le suche ich nach dir. Manch­mal schlen­de­re ich durch den Park, in dem wir auf der Wie­se saßen, um uns die Ster­ne anzu­se­hen, doch wenn ich heu­te in den Him­mel bli­cke, zeigt jedes Ster­nen­bild bloß dein Gesicht. Wie Split­ter der Ver­gan­gen­heit sind all die Knei­pen, Clubs und Restau­rants, in denen wir zusam­men saßen, tanz­ten und lach­ten, lose über die­se Stadt ver­streut. Wenn ich dort heu­te etwas trin­ken gehe, trin­ke ich dabei auf dich, und wenn ich hier und da ein wenig Nah­rung zu mir neh­me, hun­ge­re ich dabei nach dir.

Wie gern wir bei­de im Thea­ter waren, wie oft wir Lesun­gen besuch­ten, das hat sich ein­ge­brannt in mei­nen Kopf und geht dort nie­mals wie­der raus. Bei jeder Vor­stel­lung, bei jedem Wort, bei jedem Kunst­werk und bei jedem Expo­nat bist du im Geist noch immer neben mir und dar­um mei­de ich das alles nun fast ganz, aus Furcht, du könn­test in der Men­ge sein. Manch­mal lese ich in dei­nen Brie­fen, die du mir geschrie­ben hast, und wenn ich heu­te Post emp­fan­ge, hof­fe ich, sie ist von dir. All die Bands, die du so moch­test, sind mir kei­ne Freu­de mehr, und in den Büchern, über die ich mit dir sprach, wohnst du auf ewig zwi­schen allen Zei­len. Alles Schö­ne, das ich neu für mich ent­de­cke, jedes Buch, in dem ich mich ver­lie­ren kann, jeden Film, der mich begeis­tert, alles will ich wei­ter­hin so ger­ne mit dir tei­len – und dann den­ke ich mit tie­fem Seuf­zen: ja, das wür­de dir gefallen.

Selbst mei­ne Woh­nung ist nicht län­ger mein Zuhau­se, die Din­ge spre­chen alle nur von dir. Ich bin hier nie­mals mehr allein. Jedes Klin­geln führt mich hoff­nungs­froh an mei­ne Tür, doch hat sie mich noch alle­mal ent­täuscht. Ich war­te auf E‑Mails, die nicht kom­men, star­re auf Tele­fo­ne, die nicht klin­geln. In mei­ner Küche stand ich nicht, seit wir gemein­sam dort zugan­ge waren, und lie­ge ich in mei­nem Bett, erdrückt mich dei­ne Abwe­sen­heit. Es fühlt sich leer an, denn du fehlst, nicht nur in mei­nem Bett, vor allem in mei­nem Leben.

Ich wer­de die­se Stadt nicht län­ger ertra­gen kön­nen. An jeder Ecke tref­fe ich auf dich, ohne dich je berüh­ren zu kön­nen; aller­orts erscheinst du mir, an jeder Wand, in jeder Spie­ge­lung auf einer Schei­be, auf dem Asphalt und in der Luft, ohne wirk­lich bei mir zu sein. Über­all ver­ste­cken sich Gespens­ter. Bei jedem Men­schen, der dir ähnelt, beginnt es schnell in mir zu pochen, bis die Hoff­nung still ver­welkt. Wie Fata Mor­ga­nas schrei­ten dei­ne Erschei­nun­gen durch die­se Stadt und blen­den mich, doch kei­ne davon stillt den Durst.

Nicht bloß die Stadt ver­kommt für mich zur Kryp­ta unse­rer Ver­gan­gen­heit. Bald wird er los­ge­hen, der unge­len­ke Tanz durchs Minen­feld mei­ner Freun­de, die sich zwei­fel­los an dich erin­nern wer­den, weil ich ihnen von dir vor­lieb­te, ihnen alles über dich erzähl­te, mit einer Ver­ve, wie das nur jemand kann, der dir von Kopf bis Fuß ver­fal­len ist. Erzählt man etwas, dann ver­fes­tigt es sich mit jedem noch so klei­nen Wort als Rea­li­tät, und wenn es schief­geht, dann wird es zur Höl­le. Sie wer­den sich nach dir erkun­di­gen, sie wer­den wis­sen wol­len, was du machst und wie es dir so geht. Wie war noch gleich sein Name, wer­den sie mich bei­läu­fig fra­gen, und wäh­rend ich genau weiß, von wem die Rede ist, weil ich dich nie­mals ver­ges­sen kann, wer­de ich doch nichts ande­res her­vor­brin­gen als: Wen meinst du? Wenn aber jemand dei­nen Namen aus­spricht, kann man für einen kur­zen Moment in mei­nen Augen sicher Wel­ten auf­blit­zen sehen, gan­ze Gala­xien, bevor sie kurz dar­auf als Schat­ten unbe­merkt vergehen.

Glau­ben kann ich es dir nicht, dass da bei dir nichts mehr war, kein Wunsch nach Zukunft, kein Gefühl, und ich den­ke nicht ein­mal, dass du dir selbst das alles glaubst. Wo wir nun ste­hen, wäre mir begreif­li­cher, wenn es nicht du gewe­sen wärst, der die­sen Stein erst ins Rol­len gebracht hat­te, der mit mir flir­te­te, ganz offen­siv, obwohl du sonst so schüch­tern bist. Dein Strah­len jedes Mal, wenn wir uns irgend­wie begeg­ne­ten, erwärm­te mei­ne gan­ze Welt. Ich fühl­te, du bist mein Zuhau­se, und ich woll­te dir das dei­ne sein. Mein Lächeln muss mich schon von Anfang an ver­ra­ten haben, die­se Mas­ke einer hoff­nungs­los Hoff­nungs­vol­len, die­ses gut­mü­ti­ge Grin­sen, weil ich gänz­lich glück­lich war, und du, du lächel­test zurück.

Immer warst du so bemüht, mich fas­zi­niert auf unse­re Gemein­sam­kei­ten hin­zu­wei­sen, auf alle noch so klei­nen Zufäl­le, auf die gewöhn­li­chen Ereig­nis­se, die nicht mehr so gewöhn­lich waren, weil du sie gleich mit mir ver­bun­den hast und ich sie wie­der­um mit dir. Zwi­schen uns gedieh eine Art geis­ti­ger Inti­mi­tät und wir ver­voll­stän­dig­ten uns, als hät­ten wir das immer schon getan. Du warst fröh­lich, wenn wir Din­ge zeit­gleich erle­dig­ten, ohne uns irgend­wie abge­spro­chen zu haben, oder wenn uns ein und das­sel­be völ­lig unab­hän­gig von­ein­an­der gefiel. Es waren sol­che Bana­li­tä­ten, die dich glück­lich mach­ten, selbst wenn die Welt dir gera­de läs­tig war, und ich war glück­lich, schon weil du es warst.

Du merk­test dir so vie­les, was ich dir erzähl­te, all die Din­ge, die ich mag. Ich stand für dich im Licht, war Sam­mel­stel­le dei­ner Auf­merk­sam­keit und das zeig­test du mir deut­lich, nur zuge­ge­ben hät­test du es nie. Noch über die dümms­ten mei­ner Wit­ze hast du gelacht, wie das nur jemand kann, der nicht mehr ganz bei Trost oder ernst­haft ver­liebt sein muss, was unterm Strich ja irgend­wie das Glei­che ist, mit einem herz­lich schö­nen Lachen, dem ich im ers­ten Augen­blick sofort verfiel.

Du hast dich ein­mal als einen Men­schen bezeich­net, der zual­ler­erst an sich denkt, und den­noch mach­test du so viel für mich, du sorg­test dich um mich, du woll­test, dass ich mich bei dir wohl­füh­le. Für jeman­den, der nur an sich denkt, hast du erstaun­lich viel an mich gedacht. Ich nahm in dei­nem Leben einen so gro­ßen Raum ein, dass es mir schon bei­na­he unan­ge­nehm wur­de. Am Ende unse­rer Tref­fen hast du mich kein ein­zi­ges Mal ein­fach so fort­ge­hen las­sen, ohne mir zwi­schen Tür und Angel nicht noch Vor­schlä­ge für ein Wie­der­se­hen ans Herz zu legen. Dei­ne Phan­ta­sie über­schlug sich bei dem höl­zer­nen Ver­such, neue Vor­wän­de für ein Tref­fen zu erdenken, mit einer bei­läu­fi­gen Art, die sicher dei­ne Schüch­tern­heit ver­ber­gen soll­te, die du immer schon für unmänn­lich gehal­ten hast. Dir lag etwas dar­an, dass wir uns wie­der­se­hen, das war es, was für mich von all­dem hän­gen­blieb. Du orga­ni­sier­test dei­ne Zeit um mich her­um, um mei­ne Mani­fes­ta­ti­on in dei­nem Leben, wäh­rend ich dich sach­te in dem mei­nen ver­an­ker­te, als bau­test du in mei­nem Vor­hof dein Quar­tier. Ich nahm mir mei­ne Zeit für dich, ich nahm mir alle Zeit der Welt. Heu­te willst du sie nicht mehr.

Es spielt kei­ne Rol­le, was ich glau­be und was tat­säch­lich dei­ne Grün­de waren, denn es bringt uns nicht wie­der zusam­men, macht aus den Trüm­mern nicht mehr eins.

Mei­ne Brie­fe, in denen ich dir schrieb, wie viel du mir bedeu­test, hast du lei­der nie beant­wor­tet, und mei­ne Vor­schlä­ge, was wir gemein­sam unter­neh­men könn­ten, schlägst du seit­dem alle aus. Du warst mit einem Mal wie aus­ge­wech­selt, kamst mir vor wie ein Magnet, des­sen Pola­ri­tät sich schlag­ar­tig ver­än­dert hat­te. Was mir gefiel, konn­test du plötz­lich nicht mehr aus­ste­hen. Bei jeder Ange­le­gen­heit, in der wir immer einer Mei­nung gewe­sen waren, behaup­te­test du nun das Gegen­teil. Wenn wir uns doch noch ein­mal tra­fen, brach­test du stets irgend­wel­che Freun­de mit, Bekann­te oder Arbeits­kol­le­gen. Mein Ein­druck war, es hät­ten Unbe­kann­te sein kön­nen, solan­ge das für dich bedeu­te­te, nicht mit mir allein zu sein, als sei ich über Nacht zu einer düs­te­ren Bedro­hung gewor­den, die nur als Grup­pe über­haupt bezwun­gen wer­den kann.

Du woll­test es mir ver­weh­ren, dich auch wei­ter­hin zu mögen, so wie jemand, der einem armen Bett­ler etwas Geld ver­wehrt, nicht weil er selbst ein böser Mensch ist, son­dern um die Brief­ta­sche nicht öff­nen zu müs­sen. Es sticht schon höl­lisch in der Brust, wenn man ernüch­tert fest­stel­len muss, dass eine Lie­be nicht erwi­dert wird, doch wenn die eige­nen Gefüh­le noch als Zumu­tung emp­fun­den wer­den, ist das wie Stark­strom mit­ten durch das Herz. Du hast kei­ne Vor­stel­lung davon, wie sehr es schmerzt, auf ein­mal so behan­delt zu wer­den. Nun muss ich mir anse­hen, wie aus­tausch­bar ich allem Anschein nach für dich gewor­den bin. Ich woll­te bei dir ankom­men, aber für dich war ich in dei­nem Leben nur zu Gast.

Du konn­test nie rich­tig begrei­fen, wie­so ich etwas an dir fand, wes­halb ich etwas an dir mag. Womög­lich war ich dir nicht über­zeu­gend genug, aber muss­te wirk­lich ich dich über­zeu­gen oder nicht viel eher du dich selbst von dei­ner Liebenswürdigkeit.

Men­schen wie du und ich machen sich mit ihrer Nach­denk­lich­keit das Leben so unnö­tig schwer. Gemein­sam hät­ten wir leich­ter sein kön­nen, leicht genug zum Flie­gen, doch abzu­he­ben trau­test du dich nie. Ich bau­te für dich Brü­cken, wo kei­ne Flüs­se, Häu­ser, wo kei­ne Städ­te, Tun­nel, wo kei­ne Ber­ge waren. Du warst mein Leucht­turm in der Nacht, der selbst noch strahlt und mir als Rei­sen­dem die Rich­tung weist, wenn alles Sons­ti­ge in Dun­kel­heit ver­sinkt. Es hat vor dir schon Ande­re in mei­nem Her­zen gege­ben, doch ich mach­te dich zum Aller­ers­ten und du wirst für mich der Letz­te blei­ben. Wel­che Zukunft es mit dir gege­ben hät­te, weiß ich nicht. Ohne dich gibt es kei­ne Zukunft. Nach dir kommt nichts. Es gibt kei­ne Zukunft mehr, nicht ein­mal Gegen­wart, bloß noch Vergangenheit.

Was ich noch an Hoff­nung hat­te, setz­te ich auf dich und ver­lor sie ein für alle Mal. Mit wach­sen­der Ver­zweif­lung habe ich ver­sucht, sie zu bewah­ren. Jedes dei­ner Wor­te, auch die unge­sag­ten, dreh­te ich in mei­nem Kopf her­um, bis ich schließ­lich einen Ansatz fand, eine Inter­pre­ta­ti­on, die mir ein wenig Zuver­sicht ver­sprach. Dei­ne Wor­te waren mei­ne Hypo­thek, auf deren Dar­le­hen ich mein Leben errich­te­te. Jeden mei­ner Schrit­te mach­te ich auf einem Steg aus Hoff­nung, den ich mir aus den Bret­tern dei­ner Wor­te gezim­mert hat­te, bis es jeden Tag etwas weni­ger wur­de, an dem ich mich noch fest­hal­ten, auf das ich mich noch stüt­zen, mit dem ich mir einen Weg nach vor­ne hät­te bau­en kön­nen. Du warst mei­ne letz­te gro­ße Hoff­nung auf Zukunft.

Sein gan­zes Leben ist der Mensch ein Baum im Wind. Er trotzt den Gewal­ten, die auf ihn ein­wir­ken, er stemmt sich ihnen ent­ge­gen, tag­ein und tag­aus, doch wenn der Baum erst ein­mal ange­sägt ist, genügt ein leich­ter Stoß, um ihn zu Fall zu brin­gen. Gesägt haben an mir schon vie­le, aber erst du hast mir den Stoß ver­setzt. Nun bin ich am Boden, habe kei­ne Ener­gie mehr, kei­ne Kraft, um wie­der auf­zu­ste­hen. Je näher man jeman­den an sich her­an­lässt, des­to kür­ze­re Mes­ser braucht er. Mei­ne Rüs­tung, die ich mit mir durchs Leben tra­ge, mein Pan­zer, der mich vor der Welt beschützt, er ist ver­braucht und abgenutzt.

Es gibt kei­nen unbe­grenz­ten Vor­rat an Ener­gie, den man in ein Leben ste­cken kann. Jede fri­sche Ver­let­zung zehrt an den Kräf­ten, bis irgend­wann die Kraft erlischt. Eines Tages wächst ein­fach kei­ne Haut mehr, wo eine neue Wun­de ent­steht. Der inne­re und der äuße­re Tod soll­ten in einer idea­len Welt zur glei­chen Zeit von­stat­ten­ge­hen, doch bei den meis­ten Men­schen ist das nicht der Fall, denn unse­re Welt ist alles ande­re als ide­al. Es heißt, die Hoff­nung stirbt zuletzt, doch meint das Sprich­wort wirk­lich deren Lang­le­big­keit, oder bedeu­tet es denn nicht viel mehr, dass nach dem Tod der Hoff­nung nichts mehr bleibt, das dann noch ster­ben kann. Wie sehr rühmt sich die moder­ne Medi­zin, Men­schen am Leben erhal­ten zu kön­nen, aber was hilft das, wenn man im Inne­ren schon lan­ge nicht mehr lebt. Es gibt kei­ne Maschi­nen, kei­ne lebens­ver­län­gern­den Maß­nah­men, an die man die Hoff­nung eines Men­schen anschlie­ßen könn­te. Der bio­lo­gi­sche Tod wird redu­ziert auf eine Formsache.

Mach dir nichts draus, das Leben geht wei­ter, sagen sie dir mit her­ab­las­sen­dem Mit­leid. Ja, es geht wei­ter, denn das Hin­ter­häl­ti­ge an gebro­che­nen Her­zen ist, dass der ande­re sei­ne Tat nicht voll­endet, sie nicht kon­se­quent zum Abschluss führt, weil er einen nie wirk­lich umbringt. Man ist leer, aus­ge­laugt, ver­braucht, man blickt in ein Schwar­zes Loch und über­schrei­tet den Ereig­nis­ho­ri­zont, man wird hin­ein­so­gen und kommt nicht mehr her­aus. Das Leben geht wei­ter, ja, aber man selbst lebt nicht wei­ter, man exis­tiert bloß noch vor sich hin.

Auch ich füge mich ein ins Heer der wan­deln­den Toten. Erst ver­liert man die Hoff­nung und dann sich selbst. Nichts hat für mich noch irgend­ei­ne Bedeu­tung. Ich kann nichts mehr füh­len, wenn es nicht mit der Ver­gan­gen­heit ver­bun­den ist, mit dir. Ich spü­re kei­ne Gegen­wart, nicht ein­mal Schmerz, nicht ein­mal Wut, schon gar nicht Lie­be. Wie das Archiv einer längst ver­gan­ge­nen Kul­tur ver­wal­te ich die Samm­lung mei­ner Emo­tio­nen, aber es kom­men kei­ne neu­en mehr hin­zu. Du hast den Men­schen aus mir entfernt.

Es gibt so vie­le wie mich. Ich sehe sie jeden Tag, kann sie durch­schau­en, sie sind leer, und doch simu­lie­ren sie ein Leben, genau wie ich, sie gehen ihrer Arbeit nach, sie essen und schla­fen wie jeder ande­re Mensch auch. Das Schei­tern beginnt, wenn man nicht mehr fragt, was man will, son­dern bloß noch, was man kann. Mein Schick­sal ist es, tot zu sein und wei­ter­le­ben zu müs­sen. Ich woll­te dir alles geben, du hast mir alles genom­men. Nicht aus böser Absicht, ver­mut­lich nicht ein­mal bewusst, doch unterm Strich zählt letzt­lich nur, wie alles endet. Du sag­test mir zum Abschied noch, ich sei ein unglaub­li­cher Mensch, wie du ihn nie zuvor getrof­fen hast, doch was bedeu­tet das schon, wenn du mich dar­auf­hin kalt abser­vierst. Ich bin in mei­nem Leben eine Frem­de geworden.

Ande­re wür­den sagen, ich hät­te mei­ne Zeit mit dir ver­schwen­det, aber ver­schwen­det war sie nie, denn sie hat mich, wenn auch nur vor­über­ge­hend, zu einem glück­li­chen Men­schen gemacht.

Es gäbe noch so vie­les, das ich dir ger­ne sagen wür­de, so viel Unaus­ge­spro­che­nes, das noch aus­zu­spre­chen wäre, doch ich wer­de dir nie wie­der schrei­ben, ich wer­de mit dir nie wie­der reden, ich wer­de dich nicht mehr zum Lachen brin­gen und dir kei­ne Nach­rich­ten mehr auf der Mail­box hin­ter­las­sen Ich wer­de dir kei­ne Fra­gen mehr stel­len und mich nicht län­ger für dein Leben inter­es­sie­ren, weil ich die Ant­wor­ten nicht ertra­gen wür­de. Du wirst kein Lebens­zei­chen von mir erhal­ten, weil es die­ses Leben nicht mehr gibt, das auf sich auf­merk­sam machen könn­te. Wie sagt man jeman­dem Lebe­wohl, ohne den man nicht leben kann.

In die­ser Stadt ist kein Platz mehr für mich, genau­so wenig wie in dei­nem Leben. Was mich hier noch hält, ist mir ein Rät­sel. Ziel­los strei­fe ich durch die Stra­ßen die­ser Stadt und ich wünsch­te mir dabei, ich wäre Nero. Ich möch­te dich nicht nur ver­ges­sen, dich in mei­nem Kopf nicht bloß ver­blas­sen sehen, ich möch­te sämt­li­che Andenken an dich voll­stän­dig aus­ra­die­ren, in mir wie in der Welt. Die­se Stadt soll bren­nen, sie soll ver­glü­hen und in Rauch auf­ge­hen, denn sie ist für mich unbe­geh­bar gewor­den. Ich möch­te Feu­er legen, rasend alles nie­der­rei­ßen, ich möch­te sie zer­stö­ren, noch bis hin­un­ter auf den letz­ten Stein. Die gan­ze Welt kann unter­ge­hen, es wäre mir egal. All die von dir besetz­ten Gebäu­de und mei­ne Erin­ne­rung an dich sol­len ein für alle Mal in Flam­men auf­ge­hen und zu Asche zer­fal­len, wor­aus ich als Phö­nix neu her­vor­ge­hen kann.

Viel­leicht ja wür­de es in eini­gen hun­dert Jah­ren eine Grup­pe von Archäo­lo­gen zu den Trüm­mern die­ses lieb­lo­sen Ortes füh­ren und sie wür­den sich even­tu­ell fra­gen, was hier wohl vor­ge­fal­len sein mag. Es wäre nur ein wei­te­res Puz­zle­teil in der unend­li­chen Geschich­te der Mor­de, Krie­ge und Zer­stö­run­gen aus purer Ver­zweif­lung an mensch­li­cher Lie­be. Sie ist die edels­te aller Kräf­te, die auf einen Men­schen jemals wir­ken kann, aber auch die unbarm­her­zigs­te und ver­nich­tends­te. Wie vie­le Bur­gen und Fes­tun­gen, wie vie­le Städ­te und Rei­che, wie vie­le Macht­ha­ber und Impe­ri­en gin­gen bereits zugrun­de, nur weil ein Mensch sein Herz verlor.

Auch ich habe dich bela­gert, wenn man es so aus­drü­cken möch­te, aber dei­ne Mau­ern waren zu stark, dein Boll­werk zu mas­siv, und den­noch rann­te ich voll Freu­de mit dem Herz dage­gen an. Du hast dich am Ende gegen mich ent­schie­den, hast dei­ne Zug­brü­cke hoch­ge­fah­ren, als ich noch auf ihr stand. Nur zu ger­ne wäre ich ein wüten­des Infer­no, das mich wie alles ande­re im Flam­men­meer ver­schlingt, doch statt den Glas­pa­läs­ten in der Innen­stadt, die mit Getö­se aus­ein­an­der­bre­chen, ist es bloß mein Glück. Die Welt bleibt kalt und unbe­rührt, wäh­rend mein Inners­tes heim­lich verbrennt.

Dann geht es wei­ter, das Leben, die dunk­len Wol­ken zie­hen aus dem Kopf, ich esse wie­der aus­wärts und mache mein Haar, ich trin­ke Cock­tails und gehe ins Büro, ich flir­te und lache und bin nor­mal und habe kei­ne Angst vor dem nächs­ten Tod. Der nächs­te wird wie­der der letz­te sein. Ich bin drei Mal schon gestor­ben und immer habe ich mir ein­ge­re­det, dies­mal sei es beson­ders schlimm, und ich glau­be, das ist gut. Das Lei­den gehört dazu, wenn es schief­geht, es zeugt von Bedeu­tung, es zeugt von Gefüh­len, es zeugt von mir. Schlimm ist es erst, wenn man nicht mehr stirbt.

Es ist ein ver­reg­ne­ter Sams­tag­abend und ich sit­ze mit dir in einer klei­nen Knei­pe in Frank­furt Bocken­heim. Du trägst Jeans und ein rotes Ober­teil, dein Haar ist zu Zöp­fen gebun­den, du rauchst. Zuvor sind wir essen gewe­sen, beim Per­ser, ich habe dich ein­ge­la­den, du hast einen ehe­ma­li­gen Mit­be­woh­ner getrof­fen, dann sind wir kurz durch die Nacht spa­ziert. Nun trin­ken wir Cock­tails, wir unter­hal­ten uns, wir wer­den kri­tisch, wir wer­den trau­rig, wir lachen und spin­nen her­um. Du bist jemand, bei dem ich sein kann, wer ich bin, ohne Unver­ständ­nis zu pro­vo­zie­ren, ohne mich ver­stel­len zu müs­sen, ohne Erwar­tun­gen zu begeg­nen, die mir so fremd sind wie eine außer­ir­di­sche Kul­tur. Wir tei­len eine Sicht auf die Welt, auf das, was uns stört, was wir mögen, und ich mer­ke, ich mag vor allem dich.

Wir ste­hen uns poli­tisch nahe, wenn man das so aus­drü­cken kann. Uns eint der Kampf gegen die Übel die­ser Welt, doch Hoff­nung treibt dich dabei nicht, eher sei es Rast­lo­sig­keit, man kön­ne eben etwas tun oder schwei­gend resi­gnie­ren. Eigent­lich aber möch­test du hier weg, sagst du, und mit hier meinst du Deutsch­land, nicht die­sen Moment in die­ser klei­nen, gemüt­li­chen Knei­pe. Ein Häus­chen, viel­leicht ein Bau­ern­hof, gemein­sam mit ein paar Freun­den, das wäre das Rich­ti­ge, erklärst du mir, und dei­ne Augen fun­keln ein wenig bei der Vor­stel­lung dar­an. Du nennst es andäch­tig Utopia.

Es man­gelt am Wil­len zur Umset­zung, ant­wor­te ich dir und es stimmt. Du bist nicht die ers­te, die mir von die­sem Traum vor­schwärmt, denn ich ken­ne vie­le, die vom Weg­ge­hen träu­men, vom selbst­be­stimm­ten Leben, nur kei­nen, der es macht. Auch für dich sei es eher ein Plan B, eine Rück­zugs­mög­lich­keit, gesellst du dich zu ihnen, für die Zeit, wenn dir das Leben hier in die­sem Land nicht mehr ange­nehm erscheint.

Ich fin­de es jetzt schon nicht mehr ange­nehm, geste­he ich dir, und du bist der ers­te Mensch, der bei die­sen Wor­ten nicht lacht, nicht min­des­tens schmun­zelt oder mich fra­gend ansieht. Du näm­lich schaust mich an, mit einem Blick, der mir sagt, dass du genau ver­stehst. Wir füh­ren den Gedan­ken wei­ter, bis du mir erklärst, wie du dir das Gan­ze vor­stellst, viel­leicht in Grie­chen­land, mit ein paar Tie­ren und Gemü­se und was man eben braucht, um so aut­ark zu sein, wie es die Umstän­de erlau­ben. Der Abend klingt aus und ich sto­ße mit dir dar­auf an, ihn umzu­set­zen, dei­nen Plan B, und du lachst und freust dich und sagst: Ja, das machen wir. Ich sehe Zukunft, wo ein Fra­ge­zei­chen war. Wir sind Kom­pli­zen, die den Aus­bruch wagen.

In den Tagen dar­auf rech­ne ich zusam­men, was ich gespart habe, dru­cke Immo­bi­li­en­an­ge­bo­te aus, rei­se um die hal­be Welt, um mir einen guten Ein­druck von den inter­es­san­tes­ten Objek­ten zu machen, lese Bestim­mun­gen, pla­ne vor­aus. Drei Wochen spä­ter tref­fen wir uns in dei­ner Woh­nung, ich lege dir Fotos vor, ohne dir mei­nen Favo­ri­ten zu ver­ra­ten, und dei­ne Wahl fällt auf das glei­che Haus. Wir lachen, freu­en uns, gehen Pla­nun­gen durch, über­schla­gen Finan­zen. Ganz die Rea­lis­tin, die du bist, wirfst du ein, du fän­dest das alles wun­der­bar, nur könn­test du nicht von heu­te auf mor­gen dei­ne Woh­nung auf­ge­ben und dei­nen Job kün­di­gen, da gäbe es Fris­ten, und dein Kater mache dir Sor­gen, der habe doch sein Revier, und all das Recht­li­che. Das macht nichts, beschwich­ti­ge ich, dann fah­re ich allei­ne schon mal vor, rich­te alles her, ich küm­me­re mich um unser Haus, wid­me mich dem Büro­kra­ti­schen, freue mich auf dich, und dem Kater wird es gefal­len. Du nickst und dann umarmst du mich auf eine Art, dass ich mich füh­le, als wür­de ich nach lan­ger Odys­see zu Hau­se ankommen.

Am nächs­ten Tag plün­de­re ich mei­ne Kon­ten, bestei­ge ein Flug­zeug und flie­ge einem neu­en Leben ent­ge­gen. Ich kau­fe ein Haus, das Haus, unser Haus, mit rie­si­gem Grund­stück und mod­ri­gem Holz­zaun rund­her­um, die Mau­ern in einem Rot­ton, der dir gefal­len wird, die Zim­mer groß genug, falls wir Besuch oder mal Kin­der haben wol­len. Das Dach ist nicht ganz dicht, wie ich beim ers­ten Regen fest­stel­len muss, aber wir sind es auch nicht. Ich reno­vie­re, ich strei­che, ver­le­ge Böden und ler­ne mau­ern, ich lege mich ins Zeug und füh­le mich zum ers­ten Mal als frei­er Mensch. So ver­brin­ge ich Wochen, dann Mona­te. Mit der Begeis­te­rung eines Kin­des schi­cke ich dir immer wie­der Fotos und selbst­ge­dreh­te Vide­os, und du sagst, du willst noch dei­ne Pro­mo­ti­on fer­tig­stel­len, dann kommst du. Ich freue mich wahn­sin­nig dar­auf, wenn du kommst, ant­wor­te ich dir.

Das Dach ist mitt­ler­wei­le gut, das Haus bezugs­fer­tig, was aus­zu­bes­sern war, habe ich aus­ge­bes­sert. Die Reno­vie­rung kommt vor­an, wenn auch lang­sam, und zwi­schen­drin ver­su­che ich mich als Gärt­ner, lese mich schlau, pflan­ze an, gie­ße, ver­tei­le Dün­ger, hof­fe und war­te. Eini­ges gedeiht, man­ches nicht, und ich bin stolz, weil das für einen ers­ten Ver­such gar nicht so schlecht ist. Du hast von uns bei­den den grü­ne­ren Dau­men, du wirst mich aus­la­chen, wenn du kommst.

Zwei Mona­te spä­ter bekommst du ein Ange­bot für eine Stel­le an der Uni, ein Ein­jah­res­ver­trag, und du sagst, so lan­ge sol­le ich mich noch gedul­den, danach aber kämst du. Mir macht es nichts aus, die Reno­vie­rung braucht noch etwas Zeit, und ich sage, ich freue mich dar­auf, wenn du kommst, du wirst ein wun­der­schö­nes Haus vorfinden.

Drau­ßen wird es lang­sam grün und ich fil­me auch das, schi­cke es dir, will dir zei­gen, dass selbst unter mei­ner Regie pflanz­li­ches Leben mög­lich ist. Du lachst so herz­lich über mei­ne ange­streng­ten Gärt­ner­ver­su­che, dass alle Kilo­me­ter zwi­schen uns ver­ges­sen sind. Kurz bevor du auf­legst, seufzt du, denn du wärst so ger­ne hier, und ich spie­le es her­un­ter, es ist doch nicht mal mehr ein Jahr.

Vier Mona­te ver­ge­hen, in denen wir mai­len, chat­ten, tele­fo­nie­ren, ich schi­cke dir wei­ter­hin Bil­der und Vide­os, hege Vor­freu­de, und dann schreibst du mir, du bist jetzt an einem For­schungs­pro­jekt betei­ligt, das du super inter­es­sant fin­dest, und man erwägt, dich fest ein­zu­stel­len, und wie groß­ar­tig das ist und ob ich mich freue.

Drei Tage spä­ter ant­wor­te ich dir, schi­cke dir einen Link auf ein klei­nes regio­na­les Nach­rich­ten­por­tal, schrei­be sonst nichts. Du rufst mich an, obwohl du nicht viel Zeit hast, wie du mir erklärst, du machst gera­de Pau­se, gleich musst du zurück. Du bist ver­wirrt, sagst du, und ob das ein Scherz sei, aber es ist alles echt, ver­si­che­re ich dir, das Feu­er und der Total­scha­den. Uto­pia ist abgebrannt.

Es ist nur Wider­stand, wenn dir Wider­stand ent­ge­gen­schlägt. Das klingt tri­vi­al und doch scheint es vie­le zu über­for­dern. Sie nen­nen sich Wider­ständ­ler und – das ist das Tra­gi­sche dar­an – sie füh­len sich auch so. Am Wochen­en­de und nach Fei­er­abend neh­men sie an Kund­ge­bun­gen teil, ver­zich­ten dafür immer­hin auf Par­ty, Fern­se­her oder Shop­pen­ge­hen, sie schrei­ben kri­ti­sche Arti­kel, man­che noch Leser­brie­fe, sie besu­chen Kon­gres­se und Dis­kus­si­ons­run­den, kurz­um: Sie sagen ihre Mei­nung. Das hal­ten sie für Wider­stand, für radi­kal, man­che gar für einen Umsturz des Sys­tems, und das Sys­tem lacht sich ins Fäust­chen, weil es weiß, wie alles läuft: Eine Mei­nungs­äu­ße­rung ist kein Wider­stand, kei­ne ernst­zu­neh­men­de Pro­vo­ka­ti­on, viel­mehr selbst­ver­ständ­lich oder wenigs­tens banal, und alles ist so herr­lich rela­tiv, dass jede Mei­nung recht hat, jeder Ein­wand wird umarmt und rasch osmo­tisch ein­ge­saugt, kommt nie mehr raus, noch jeder Blöd­sinn wird als Blöd­sinn aner­kannt. Jeder kri­ti­sche Gedan­ke wird ver­ein­nahmt. Die Welt ist schlecht, sagst du, und die­se Welt sagt: Lass uns gemein­sam dar­an arbei­ten, und schon bist du ein Kollaborateur.

Du kannst sagen, der Staat sei zum Kot­zen, ein Mons­ter und ein Men­schen­feind, und wenn du schlech­te Freun­de hast, dann wer­den sie dich dafür aus­la­chen, und wenn du etwas weni­ger schlech­te Freun­de hast, wer­den sie bloß mit ihren Köp­fen nicken, und dem Staat ist es egal. Auf letz­te­res kommt es an. Die Staats­macht hat kein Inter­es­se an dei­ner per­sön­li­chen Pri­vat­mei­nung, solan­ge du noch höf­lich ihren Regeln folgst, denn dar­auf baut sie auf; sie schert sich nicht um dei­ne Sym­pa­thie, so sicher ist ihr ihre Herr­schaft. Das ist der so genann­te Fort­schritt gegen­über einem Unrechts­staat, dem freie Mei­nung noch als Tücke gilt, weil er den Umstand nicht begrif­fen hat, wie man­che Frei­heit hier und da, groß­mü­tig gewährt, dem eige­nen Bestehen hilft. Je län­ger die Lei­ne, des­to frei­er fühlt sich der Hund und hält sein Herr­chen für den Hei­land. Du kannst dir nun natür­lich ein­bil­den, du wür­dest Tag und Nacht ver­folgt, kannst dich zum Hel­den ver­klä­ren und einen Kämp­fer nen­nen, kannst para­no­id wer­den und dein Tele­fon nicht mehr benut­zen, kannst hin­ter jedem nur noch Staats­macht sehen, weil du glaubst, dei­ne Mei­nung wäre irgend­je­man­dem ein Dorn im Auge, doch die Wahr­heit ist: Sie ist egal, so wie es dei­nen Chef nicht im gerings­ten schert, wie sehr du dei­ne Arbeit auch ver­flu­chen magst, solan­ge du bloß jeden Mor­gen pünkt­lich bist.

Mei­nungs­äu­ße­rung allei­ne ist kein Wider­stand. Du kannst auf Demos gehen und dei­ne Mei­nung kund­tun, du kannst ganz schreck­lich radi­kal ins Inter­net schrei­ben oder Flug­zet­tel ver­tei­len und damit Leu­te über­zeu­gen, die schon längst über­zeugt sind, oder ganz ande­ren Leu­ten dei­ne Tex­te in die Hand drü­cken, die noch nicht über­zeugt sind und die sich den­ken: Ach! Die dann nach Hau­se gehen und ihr Leben wei­ter­le­ben wie bis­her, weil es sie einen Scheiß inter­es­siert, wel­che Fak­ten du ihnen ins Gesicht wirfst, denn sie haben schon ihre Mei­nung und die ist stär­ker als jeder Fakt. Es ist ein bil­dungs­bür­ger­li­ches Mär­chen, man kön­ne ande­re mit Fak­ten über­zeu­gen. Spart euch eure Fly­er, sie sind nur Umwelt­ver­schmut­zung. Es geht nicht um Fak­ten und Argu­men­te und Ratio­na­li­tät. Das ging es nie. Gin­ge es um Fak­ten, hät­ten wir eine ande­re Welt, eine schö­ne­re, für alle; Ras­sis­mus wäre kein Pro­blem, es gäbe kei­ne Into­le­ranz, Krie­ge wür­den sel­ten, Armut wäre abge­schafft, dafür über­all Frie­den, Freu­de, Eierkuchen.

Es geht nicht um Fak­ten, es geht ums Gefühl. Das ist der wah­re Klas­sen­ge­gen­satz bei uns: Auf der einen Sei­te die Klas­se derer, die sich gut füh­len, selbst wenn es ihnen schlecht geht, die posi­ti­ven Den­ker, die Ver­drän­ger, die Igno­ran­ten, die Arsch­lö­cher und Nai­ven, und auf der ande­ren Sei­te jene, die an der Welt ver­zwei­feln, die sich schlecht füh­len, selbst wenn es ihnen gut zu gehen hat. Wer sich gut fühlt, der mei­det jene, die sich schlecht füh­len, weil sie ihn anste­cken könn­ten mit ihrer schlech­ten Lau­ne, mit ihrem Welt­schmerz und ihrer nega­ti­ven Aura, die­se Mies­ma­cher, die alles ändern wol­len, die den neu­en Mit­tel­klas­se­wa­gen nicht als hei­ße Schleu­der, son­dern bloß als Umwelt­schan­de sehen, als lächer­li­ches Sta­tus­sym­bol. Das will doch kei­ner hören! Du kannst dich wohl­füh­len, selbst wenn es allen schei­ße geht, und dar­an krankt die Welt. Dann lebst du lie­ber in dei­ner wun­der­ba­ren Schaum­stoff­um­ge­bung, dei­ner Gum­mi­zel­le mit Voll­pen­si­on, anstatt dich dem Leben aus­zu­set­zen, wie es dort drau­ßen wütet, denn wüten tut es, mehr als du dir denkst. Wen inter­es­sie­ren Fak­ten, wenn du ein gutes Leben füh­ren kannst.

Nein, Mei­nungs­äu­ße­rung allei­ne ist kein Wider­stand. Die effek­tivs­te Art des Wider­stands, die alle Herr­schafts­for­men über­dau­ern wird, ist die Ver­wei­ge­rung, wenn du dich dem ver­wehrst, das Besitz von dir ergrei­fen und dein Den­ken und dein Tun bestim­men will. Schick dei­ne Kin­der nicht zur Schu­le, und man wird sie dir schleu­nigst ent­rei­ßen oder dich wenigs­tens für dei­nen Trotz bestra­fen, bis du Ein­sicht zeigst, so nen­nen sie die Kapi­tu­la­ti­on. Geh nicht arbei­ten, und man wird dich einer Zwangs­ar­beit zuwei­sen, die man flüch­tig rosa anmalt und als gut gemein­te Ein­glie­de­rungs­maß­nah­me tarnt, selbst wenn einer gar nicht ein­ge­glie­dert wer­den will, weil das Böse immer schö­ne Namen trägt und mit guten Absich­ten daher­kommt, oder aber man wird dich trie­zen, bis du zer­brichst und resi­gnierst und dir »frei­wil­lig« eine Arbeit suchst, nur um der Ernied­ri­gung zu ent­ge­hen – das gilt hier heu­te schon als Frei­heit. Geh in den Super­markt und nimm dir, was du brauchst, ohne zu bezah­len, und man wird dich dafür ankla­gen. Dei­ne Mei­nung ist kein Wider­stand, solan­ge du brav bist, unter­wür­fig, füg­sam, treu, solan­ge du arbei­ten gehst, wenn man es von dir ver­langt, solan­ge du zahlst, was die Kas­se anzeigt, solan­ge du folgst, wenn man dir befiehlt. Mei­nungs­äu­ße­rung ist ein Ven­til, das man dir zuge­steht, damit du nicht zum Wider­ständ­ler wirst, denn du darfst ja alles sagen, frei und unbe­schwert, und jeder darf es toll fin­den oder dumm oder lächer­lich oder gemein und es hat alles kei­ne Konsequenz.

Du kannst nicht gegen etwas sein und dich dann doch dar­an betei­li­gen, nicht wenn du ehr­lich mit dir sein willst. Ver­wei­gerst du aber, bist du ein Fall für Mora­lis­ten und Pädagogen­propaganda, Sozialarbeits­kollaborateure oder Therapeuten­gaslighting, Poli­ti­ker und sons­ti­ge Wider­stands­be­kämp­fer. Nur in den sel­tens­ten Fäl­len steht dir ein Poli­zist mit Schild und Schlag­stock gegen­über, die Macht hat viel sub­ti­le­re Metho­den. Du bist gestört, sagt der The­ra­peut, du bist ein Para­sit, sagt der Poli­ti­ker, du han­delst unmo­ra­lisch, sagt der Pre­di­ger, du musst doch an die Zukunft den­ken, sagt dei­ne Erzie­hung, und alle wol­len sie dich wie­der ein­glie­dern in ihre Vor­stel­lung von einem guten Leben und kei­ner begreift, war­um du dich wehrst. Ein­glie­de­rung, das ist der Punkt, und das Wort drückt es schon aus: Sei ein Glied in unse­rer For­ma­ti­on, mar­schie­re mit, sei stän­dig fro­hen Mutes. Da ste­hen sie dann, stu­dier­te und klu­ge Leu­te, und fra­gen sich Beu­len in den Kopf, wie sich einer gegen die­ses tol­le Leben auf­leh­nen kann, die­ses Leben in der Schaum­stoff­welt, in der alles herr­lich bunt ist, weich und wun­der­bar, man stößt nir­gends an, solan­ge man nur brav ist und gehorcht, sie krie­gen das nicht in ihren Schä­del rein. Sie haben stu­diert, um blöd zu wer­den, und dafür hat es sich gelohnt, sie sind kon­form, bestan­den haben sie mit Bestnote.

Rei­ne Mei­nungs­äu­ße­rung ist kein Wider­stand, nie­mand wird für sei­ne Mei­nung an die Wand gestellt, kei­ner gefol­tert, nicht hier, nicht heu­te, nicht wenn jede Mei­nung gleich­gül­tig vor­über­zieht, du bist nicht Hans und Sophie Scholl. Eine Mei­nungs­äu­ße­rung ist bloß bequem, Schaum­stoff um das toben­de Gewis­sen. Äuße­re dei­ne Mei­nung und bewei­se der Welt, vor allem aber bewei­se dir selbst: Ich habe mei­nen Unmut kund­ge­tan, ich war nicht still. Es schläft sich ruhi­ger in der Nacht, nur ändern wird es frei­lich nichts.

Heu­te Mor­gen schloss ich eine Tür, obwohl ich wuss­te, sie wird sich nie wie­der für mich öff­nen. Man­che Türen ver­schlie­ßen ein Zim­mer, man­che Türen ver­schlie­ßen ein Haus. Die­se hier ver­schließt eine gan­ze Welt. Die Die­len knarz­ten, als ich in den Flur trat, ich schlich fast sanft dar­auf her­um, sie soll­ten dich nicht wecken, auch wenn ein Teil von mir ganz heim­lich hoff­te, sie wür­den es doch, du stün­dest auf und alles wäre gut. Ich zog mei­ne Jacke an und schau­te in dei­ne Rich­tung, ich ließ mir Zeit, blick­te auf mein Han­dy, prüf­te alle Taschen, leg­te mei­nen Schal um. Es war ein Abschied auf Raten, aber erst die Hand an der Tür ließ ihn wirk­lich offi­zi­ell wer­den, jener Moment, in dem sie hin­ter mir ins Schloss fiel, ein für alle Mal, quiet­schend und zäh, als wür­de sie es sich noch ein­mal über­le­gen. Wo bis­lang stets ein Durch­gang gewe­sen ist, ein Tun­nel zwi­schen den Wel­ten, war nun bloß eine Fort­set­zung der Wand. Als ich im Trep­pen­haus nach unten ging, war es der Abstieg vom Glück. Ich hät­te dich zum Abschied ger­ne noch geküsst.

Letz­te Nacht war ich dir so nah, und doch hät­test du nicht uner­reich­ba­rer sein kön­nen. Das Mond­licht fiel fra­gend durch ein Fens­ter oder viel­leicht waren es bloß die schim­mern­den Stra­ßen­la­ter­nen vor dei­nem Haus, aber was immer es auch war, Erleuch­tung brach­te es nicht. Hin und wie­der fuhr ein Auto vor­bei, zu schnell und mit grö­len­der Musik, und dann war es für einen Augen­blick dort drau­ßen so laut wie in mei­nem Kopf. Wenn ich die Augen schloss, erschienst du mir, du tanz­test quer durch mei­ne Phan­ta­sie, nahmst jede Kam­mer mei­ner Welt, dei­ne Stim­me besetz­te mein Ohr. Ich sprach mit dir zum aller­letz­ten Mal, als du müde aus dem Bade­zim­mer kamst, dein Kater saß schnur­rend neben mir, da husch­test du laut­los an uns vor­bei, du schau­test mich nicht an, ich weiß nicht, war­um. Geschla­fen habe ich in die­ser Nacht kaum, und wenn doch, dann träum­te ich von dir.

Ich schloss die Tür und ging, nun ste­he ich ver­lo­ren in der U‑Bahnstation. Eine Fast­nachts­ka­pel­le stapft fröh­lich die Trep­pen her­un­ter und spielt das trau­rigs­te Lied der Welt, nicht weil es selbst trau­rig ist, son­dern ich. Von rechts braust end­lich der Zug ins Unge­wis­se her­an, kommt mit Getö­se zum Ste­hen, dann stei­ge ich ein, wir rol­len ins Nichts. Hin­ter mir im Wagen sitzt ein Mäd­chen und weint. Ich fah­re mit der U‑Bahn durch die Stadt, bestimmt ein paar Stun­den; Men­schen kom­men und gehen, wie Land­schaf­ten zie­hen sie vor­bei, ver­wischt und unscharf, mein Fokus ruht immer­fort auf dir. Irgend­wann bin ich es leid, ver­las­se irgend­wo den Zug und trot­te in den Groß­stadt­schluch­ten her­um, apa­thisch und ziel­los, hun­gernd nach Leben. Gigan­ten aus Glas säu­men mei­nen Weg und bli­cken unbe­rührt auf mich her­ab. Eine Kiosk­ver­käu­fe­rin sagt, es sei ein wun­der­schö­ner Tag, dabei lächelt sie mich an, sie meint es ernst. Auf dem Heim­weg gera­te ich in Schnee­re­gen, der die Welt mit unschul­di­gem Weiß bedeckt, so als wäre alles gut, doch in mir ist es dun­kel. Um die Sehn­sucht zu über­tö­nen, höre ich Musik, und der Zufall wählt ein Lied von Ele­ment of Crime – natür­lich trägt es dei­nen Namen. Alles wirkt zuneh­mend sur­re­al und ich ver­ste­he, genau des­we­gen ist es Wirklichkeit.

Wenn ich auch trau­rig bin, gibst du mir doch Kraft, da ich nun weiß, dass du dort drau­ßen bist und lebst und lachst und dafür ein­stehst, wor­an du glaubst, mit gro­ßem Her­zen und so unbe­irrt wie Sisy­phos am Hang. Mein gan­zes Leben habe ich nach dir gesucht, dich ver­misst, das wur­de mir mit vol­ler Wucht bewusst, als ich lang­sam aus der Woh­nung trat. Jeman­den wie dich fin­det man nur ein Mal oder nie. Die gro­ßen Träu­me blie­ben hin­ter dei­ner Tür zurück, sie drin­gen bloß noch als Gespens­ter durch die Wand. Mein Kopf lebt immer noch bei dir, wenn du ihn fin­dest, stell ihn bit­te vor die Tür, der Rest ging irgend­wo ver­lo­ren. Die Zukunft wird Ver­gan­gen­heit, die Gegen­wart ver­fliegt. Nichts ist so ver­gäng­lich wie das Wun­der­ba­re, leben­dig wäre alles nur mit dir.

Du weißt das nicht, weil ich am Mor­gen durch die Tür gegan­gen bin, als du noch tief und fest geschla­fen hast.

Der blaue Brief starr­te mich an. Nein, Quatsch, ich starr­te den blau­en Brief an. Der blaue Brief lag ein­fach nur da. Brie­fe konn­ten nicht star­ren. Gegen­stän­de konn­ten über­haupt kei­ne mensch­li­chen Hand­lun­gen voll­zie­hen. Vie­ler­lei dritt­klas­si­ge Schrift­stel­ler ver­such­ten Din­ge zu ver­mensch­li­chen, lie­ßen sie star­ren, füh­len, rufen, stau­nen. Meist han­del­te es sich dabei um Men­schen, die das Schrei­ben als Beruf bezeich­ne­ten. Wer aber das Schrei­ben als Beruf ver­un­glimpf­te, im Schrei­ben folg­lich eine Art von insti­tu­tio­na­li­sier­ter Arbeit sah, die ja in der Regel mit aller­hand nerv­tö­ten­den Ter­mi­nen, stän­di­ger Pla­cke­rei und dem maß­geb­li­chen Ziel der finan­zi­el­len Absi­che­rung ver­bun­den war, der hat­te sei­ne Lie­be zum geschrie­be­nen Wort schon lan­ge hin­ter sich gelas­sen. Um die­sen Umstand zu ver­ber­gen, bedien­te er sich zahl­rei­cher Knif­fe wie jenem der Ver­mensch­li­chung. Der Leser soll­te wis­sen: Hier ist ein Krea­ti­ver am Werk, ein Poet und Genie, das toten Din­gen Leben ein­hau­chen kann. Aber tote Din­ge waren tot. Wären sie leben­dig gewe­sen, hät­te man sie Lebe­we­sen genannt. Gegen­stän­de konn­ten her­um­lie­gen, fal­len, rol­len, bren­nen, stin­ken, also ein­fach nur da sein, ihre Funk­ti­on erfül­len oder Schwer­kraft und ande­ren äuße­ren Ein­flüs­sen gehor­chen. Was sie nicht konn­ten, war star­ren. Wie­so aber hat­te ich das für einen Moment gedacht? Ich ver­trieb die­sen lau­si­gen Gedan­ken aus mei­nem Kopf, mach­te schlech­te Roma­ne für mei­nen Faux­pas ver­ant­wort­lich und starr­te wei­ter auf Brief.
Aus der Küche hol­te ich mir ein Mes­ser, schnitt einen Apfel in mund­ge­rech­te Stü­cke und setz­te mich essend an den Tisch. Als der blaue Brief sich auch nach zwei Minu­ten noch nicht gerührt hat­te, war ich mir sicher, es han­del­te sich dabei um einen Gegen­stand wie jeden ande­ren, soll hei­ßen: einen leb­lo­sen. Es befand sich kei­ne Brief­mar­ke auf dem Umschlag, was bedeu­te­te, jemand hat­te sich die Mühe gemacht, bis zu mir aufs Land hin­aus zu fah­ren, nur um das Ding dann dis­kret im Brief­kas­ten zu ver­sen­ken, anstatt nach all dem Auf­wand ein­fach an der Tür zu klin­geln. Wäre da die Post nicht sinn­vol­ler gewe­sen, frag­te ich mich. Ande­rer­seits erfor­der­te die Brief­be­för­de­rung per Post gewal­ti­ge finan­zi­el­le Mit­tel auf Sei­ten des Absen­ders, wes­halb sich die­ser ver­mut­lich gedacht hat­te, es wäre doch sehr viel klü­ger, flink ins eige­ne Auto zu stei­gen, ein Dut­zend Kilo­me­ter mit einem Brief auf dem Bei­fah­rer­sitz durch die Land­schaft zu gon­deln, schön viel Schei­ße in die Luft zu bla­sen und den Brief ganz ein­fach per­sön­lich bei mir ein­zu­wer­fen, anstatt es Men­schen zu über­las­sen, die das haupt­be­ruf­lich aus­üb­ten, sowohl das Brie­fe­trans­por­tie­ren als auch das Schei­ße-in-die-Luft-Bla­sen. Das kam dabei her­aus, wenn Men­schen das Recht auf Mobi­li­tät mit einem Anspruch auf Umwelt­ver­schmut­zung ver­wech­sel­ten und Frei­heit mit der Pflicht, von einem Ter­min zum nächs­ten zu düsen, zum Bei­spiel von der Arbeit zur Knei­pe und spä­ter ange­trun­ken ins hei­mi­sche Bett.
Vom Stich­wort ›ange­trun­ken‹ inspi­riert, voll­zo­gen mei­ne Gedan­ken einen Sprung zu einer nahe­lie­gen­den Fra­ge: Wie­so war der Brief eigent­lich blau? Ich wuss­te, dass es hieß, Schu­len wür­den blaue Brie­fe ver­schi­cken, zumal ich wäh­rend mei­ner Schul­zeit so man­chen Brief von mei­ner Schu­le erhal­ten hat­te, sogar mit Brief­mar­ken dar­auf, doch blau war kei­ner davon gewe­sen. Was blieb mir ande­res übrig als ihn zu öff­nen, um die Neu­gier zu befrie­di­gen. Im Brief­um­schlag erwar­te­te mich eine unper­sön­li­che Einladung:

Lie­be Freun­din­nen und Freunde,
zehn Jah­re sind ver­gan­gen, seit wir von der Schul­bank ins wah­re Leben gezo­gen sind. Herz­lich laden wir euch zum gemein­sa­men Wie­der­se­hen ein.

Unter­halb des Tex­tes waren Zeit­punkt, Ort und Anfahrts­weg ver­merkt, wäh­rend auf der Rück­sei­te der Ein­la­dung eine lachen­den Schild­krö­te abge­bil­det war, die ein Zeug­nis in der Hand hielt, was mir als Aus­druck schu­li­scher Leis­tung irgend­wie unan­ge­mes­sen schien, aber genau des­we­gen fast schon sym­pa­thisch wirk­te, gera­de­zu sub­ver­siv. Wahr­schein­li­cher jedoch war, dass der Urhe­ber kei­ner­lei sub­ver­si­ve Ambi­tio­nen heg­te, son­dern das Bild­chen ein­fach nur für lus­tig befun­den hat­te. Man­ches änder­te sich eben selbst in zehn Jah­ren nicht, zum Bei­spiel schreck­li­cher Humor.
Es gab vie­les, das Leid und Elend über die Mensch­heit brach­te, wo immer es auf­trat: Krieg, Miss­gunst, Gier, Eifer­sucht, Natur­ka­ta­stro­phen und eben Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen. Bis jetzt war ich von all­dem ver­schont geblie­ben, aber jemand unter­nahm den Ver­such, das zu ändern. Jemand, der mich uni­la­te­ral als einen Freund bezeich­ne­te, was das Kon­zept der Freund­schaft ad absur­dum führ­te bis ver­höhn­te. Jemand, der die dumm­dreis­te Vor­stel­lung kul­ti­vier­te, nach der Schu­le wür­de man ins ›wah­re Leben‹ zie­hen, wäh­rend die meis­ten doch tat­säch­lich bloß in Ehe, Fabrik oder Büro umge­zo­gen waren.
Ein Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen war eine Ver­an­stal­tung, bei der sich die Bana­li­tät des Bösen unbarm­her­zig offen­bar­te. Men­schen kamen zusam­men, die sich seit ihrer gemein­sa­men Inter­nie­rung in einer Lehr­an­stalt nicht mehr gese­hen, geschwei­ge denn mit­ein­an­der gespro­chen hat­ten. Mit eini­gen war man befreun­det geblie­ben, als man den Schul­ab­schluss end­lich in der Tasche gehabt hat­te, doch beim Groß­teil schätz­te man sich froh, ihn end­lich los zu sein. Das Jubi­lä­ums­tref­fen nun war ein erzwun­ge­ner Pro­zess, der dazu führ­te, die­se natür­lich gewach­se­ne Distanz mit einer syn­the­ti­schen Nähe zu über­win­den, um eine Grund­stim­mung des gegen­sei­ti­gen Wett­be­werbs zu pro­vo­zie­ren. Der Ablauf eines sol­chen Zusam­men­tref­fens war sozi­al streng gere­gelt und ähnel­te jenem Kar­ten­spiel, bei dem die Spie­ler bei­spiels­wei­se Hub­raum, Höchst­ge­schwin­dig­keit, Beschleu­ni­gung oder Zylin­der­zahl der Fahr­zeu­ge auf ihren Spiel­kar­ten mit­ein­an­der ver­gli­chen, wobei der bes­te Wert gewann. Gespielt wur­de es bei einem Klas­sen- oder Jahr­gangs­tref­fen aller­dings nicht mit tech­ni­schen Daten, son­dern mit per­sön­li­chem Erfolg, beruf­li­cher Leis­tung, Schön­heit des Ehe­part­ners, Lage des Hau­ses, Preis des PKW, Zen­su­ren der Kin­der, Exklu­si­vi­tät des Urlaubs­ziels, Aus­übung von Macht und ande­ren erbärm­li­chen Sta­tus­sym­bo­len der jewei­li­gen Mit­spie­ler. Ich war arbeits­los und unver­hei­ra­tet, besaß weder Auto noch Eigen­heim und war dem­zu­fol­ge alles, was man nicht sein woll­te, wenn man zu einem Klas­sen­tref­fen ging.
Trotz mei­ner Abnei­gung gegen die­ses klein­ka­rier­te Spiel und der offen­sicht­li­chen Zumu­tun­gen einer sol­chen Ver­an­stal­tung nahm ich mir vor, der Ein­la­dung zu fol­gen. Wie eine Art Kriegs­be­richt­erstat­ter woll­te ich das ent­setz­li­che Elend begut­ach­ten, aller­dings mit der nicht zu unter­schät­zen­den Dif­fe­renz, dass ich im Gegen­satz zum unbe­tei­lig­ten Beob­ach­ter auch in Nah­kämp­fe ver­wi­ckelt sein wür­de und aktiv ins Kampf­ge­sche­hen ein­grei­fen müss­te. Das jedoch war ich gewohnt.
Noch am Abend des­sel­ben Tages rief ich jene Freun­de an, die ich von der Schul­zeit ins ›wah­re Leben‹ mit­ge­nom­men hat­te. Ich erkun­dig­te mich, ob sie die Ein­la­dung eben­falls erhal­ten hat­ten und was sie von ihr hiel­ten. Anschlie­ßend erzähl­te ich ihnen von mei­nem Vor­ha­ben und frag­te nach, ob sie die Absicht hät­ten, der Ver­an­stal­tung ihrer­seits bei­zu­woh­nen. Sie lach­ten über die­se Fra­ge und wünsch­ten mir Glück bei mei­ner Expe­di­ti­on. Des­we­gen waren sie mei­ne Freunde.
Eini­ge Wochen spä­ter war es so weit, an einem win­di­gen Sams­tag­abend. Die Ver­an­stal­tung fand in einer Vil­la nahe von Ham­burg statt. Wir waren ein Abitur­jahr­gang, daher gehör­te Distink­ti­on anschei­nend zwangs­läu­fig dazu, die Sehn­sucht nach stan­des­ge­mä­ßer Insze­nie­rung, die­se Selbst­ver­herr­li­chung als Eli­te. Als ich die Räum­lich­kei­ten betrat, war das Gesche­hen schon in Gang. Zu mei­ner Erleich­te­rung hat­te man die Ver­an­stal­tung als eine Art offe­ner Par­ty kon­zi­piert, ohne Sitz­ord­nung und irgend­wel­che Anspra­chen. Es gab ein Buf­fet mit Häpp­chen und Haupt­spei­sen sowie eine Bar mit einem leid­lich moti­vier­ten Bar­kee­per, der unter ande­rem Sekt und schlech­te Drinks ser­vier­te, sodass die Anwe­sen­den sich in wech­seln­der Kon­stel­la­ti­on an Tischen nie­der­las­sen oder kol­lek­tiv her­um­ste­hen konn­ten, was sehr viel ange­neh­mer war, als den gesam­ten Abend an einem gro­ßen Tisch gemein­sam ein­ge­pfercht zu sein.
Ein wenig ver­lo­ren blick­te ich mich um, bis ich Chris sah. Eigent­lich hieß er Chris­ti­an. Zu Schul­zei­ten war er ein Punk gewe­sen, ein Rebell und Non­kon­for­mist, der sich Auto­ri­tä­ten und Hier­ar­chien nicht hat­te beu­gen wol­len und in der Schu­le, die sich ihren Häft­lin­gen als Dis­zi­pli­nie­rung par excel­lence auf­dräng­te, folg­lich so sei­ne Pro­ble­me gehabt hat­te. Er war mir immer sym­pa­thisch gewe­sen, genau aus die­sem Grund. Heu­te trug er einen ver­dammt gut sit­zen­den Anzug und etwas, das er frü­her als Spie­ßer­fri­sur bezeich­net hät­te. Inner­lich muss­te ich lachen. Er ist eine Kari­ka­tur, dach­te ich, er kommt hier­her und hält allen den Spie­gel vor, macht sich lus­tig über sie, betreibt Sub­ver­si­on. Das ver­dien­te Respekt, daher ging ich zu ihm ans Buf­fet, wo er gera­de das Ange­bot begutachtete.
»Mensch, Chris! Schi­ckes Out­fit«, grins­te ich und nahm mir einen Teller.
»Dan­ke«, erwi­der­te er mit einem Hauch von Überraschung.
»Nur für den Scheiß hier hast du dir so’n Ding besorgt?«
»Was? Wer bist du eigentlich?«
Zuerst lach­te ich, doch dann wur­de mir klar, dass er mich wirk­lich nicht erkannt hat­te. Ich stell­te mich ihm vor und wir plau­der­ten eine Wei­le über die Schul­zeit, die frü­he­re Leh­rer, unser Leben nach dem Abschluss und schließ­lich die beruf­li­che Kar­rie­re. Ein Wort, für das er frü­her nur Ver­ach­tung übrig gehabt hat­te. Nun war er der­je­ni­ge, der es aus­sprach. Nach dem Abitur hat­te er her­um­ge­lun­gert, stän­dig gekifft, viel gesof­fen, was man halt so mach­te, wenn man alles ande­re zum Kot­zen fand, was den Alko­hol bis­wei­len ein­schloss. Doch irgend­wann sei ihm die Erleuch­tung gekom­men, sag­te er. Man dür­fe ein Leben nicht so ver­schwen­den, man müs­se etwas auf­bau­en, etwas leis­ten. Ein Sozi­al­ar­bei­ter habe ihm gehol­fen, sich aus sei­ner Cli­que zu befrei­en, wie er es aus­drück­te. Er hat­te einen Job bekom­men, wenig spä­ter auch eine eige­ne Woh­nung. Von da an sei es nur noch auf­wärts gegan­gen, er habe unglaub­lich hart gear­bei­tet, gespart, ange­legt und investiert.
»Heu­te fehlt es mir an nichts«, schwärm­te er mit hör­ba­rem Stolz. »Ich krieg die Kri­se, wenn ich einen jam­mern höre, er fin­det kei­nen Job. Wer nicht faul ist, der fin­det auch was. Man muss sich halt zusam­men­rei­ßen. Sieh mich an. Statt­des­sen wird jeder bestraft, der erfolg­reich ist. Steu­ern hoch, Steu­ern hoch, das ist alles, was ich höre. Mit mei­nem Geld wer­den sol­che Faul­pel­ze finanziert.«
»Sag mal, muss das nicht anstren­gend sein?« hak­te ich mit total beein­druck­tem Gesichts­aus­druck nach.
»Die Arbeit? Ja, schon, aber nur durch Leis­tung kommt man nach oben…«
»Neee, nicht die Arbeit. Jeden Tag die Idea­le, die du mal hat­test, kräf­tig in den Arsch zu ficken, nur für ein paar Scheinchen.«
Ich dreh­te mich um und führ­te einen inne­ren Kampf zuguns­ten der äuße­ren Con­ten­an­ce. Am liebs­ten hät­te ich ihn aus­ge­lacht, wäre das nicht der siche­re Ruin für mei­nen Abgang gewesen.
Das sind die Schlimms­ten, dach­te ich und ließ mei­nen Blick durch den Raum schwei­fen, auf der Suche nach einem neu­en Gesprächs­part­ner. Die­se Schlimms­ten, das waren für mich sozia­le Auf­stei­ger, die von ihren Wur­zeln nichts mehr wis­sen woll­ten. Weil sie selbst es ›geschafft‹ hat­ten, weil sie von der Frucht der Macht gekos­tet hat­ten, ver­teu­fel­ten sie alle, die es nicht taten. Ganz arme Würst­chen waren das. Mit klei­nen Würst­chen ver­mut­lich, weil sol­che Typen immer klei­ne Würst­chen hat­ten und die­sen Zustand irgend­wie zu kom­pen­sie­ren trach­te­ten, doch so genau woll­te ich es nicht in Erfah­rung brin­gen. Das Jahr­gangs­tref­fen fing an, mir Spaß zu machen. Ich kam in Fahrt, und das war gera­de erst der Anfang.
Plötz­lich wur­de ich von der Sei­te ange­spro­chen. Es war Tors­ten, der sei­nen Tel­ler so bers­tend mit Spei­sen bela­den hat­te, wie man es sonst nur von deut­schen Tou­ris­ten aus dem Urlaub kann­te, die die Angst umtrieb, bei einem zwei­ten Gang zum Buf­fet von der Zom­bie­apo­ka­lyp­se heim­ge­sucht zu wer­den, wes­halb sie auf ihren Tel­lern gewag­te Tür­me kon­stru­ier­ten, die allen Regeln der Sta­tik zu wider­spre­chen schie­nen. Im Gegen­satz zu Chris hat­te er mich umge­hend erkannt und wir kamen ins Gespräch. Tors­ten war jemand, mit dem ich mich in der Schu­le gut ver­stan­den hat­te, obwohl ich ihn nie­mals als einen Freund betrach­tet hät­te. Er war das, was man klas­sisch einen Schul­ka­me­ra­den nann­te. Nach­dem wir die Ein­gangs­flos­keln hin­ter uns gebracht hat­ten, erzähl­te er mir von sei­nem Job bei einer gro­ßen inter­na­tio­na­len Werbeagentur.
»Das gei­le an dem Job ist, so vie­le unter­schied­li­che Kun­den zu haben. Man hat stän­dig eine neue Her­aus­for­de­rung, dau­ernd eine kom­plett neue Arbeit mit kom­plett neu­en Ideen. Ich kann mich krea­tiv ganz aus­le­ben und ver­die­ne dabei auch noch ordentlich.«
»Hm«, gab ich den nach­denk­lich Inter­es­sier­ten. »Was für Kun­den hast du da so? Gibt’s da auch wel­che, bei denen du sagst: Das mach ich nicht, die mag ich nicht?«
»Klar gibt’s die! Ich arbei­te nicht für Rüs­tungs­kon­zer­ne, da hab ich ganz deut­lich eine Linie gezo­gen.« Mit dem Fin­ger zog er ganz deut­lich eine Linie in die Luft. »Man will ja auch noch mit gutem Gewis­sen ein­schla­fen können.«
Rüs­tungs­kon­zer­ne taten mir Leid. Kein ein­zi­ger Wer­ber die­ser Welt woll­te frei­wil­lig für sie arbei­ten. Alle sag­ten sie: Nein, das kann ich ethisch nicht ver­ant­wor­ten. Das muss­te der ers­te Satz gewe­sen sein, den sie auf der Wer­be­kas­per­schu­le gelernt hat­ten und seit­dem wie ein Man­tra vor sich her­be­te­ten. Zum Glück besa­ßen Rüs­tungs­kon­zer­ne in der Regel Toch­ter­ge­sell­schaf­ten oder eigen­stän­di­ge Divi­sio­nen, die sich mit zivi­ler Res­te­ver­wer­tung der mili­tä­ri­schen For­schung beschäf­tig­ten und bei­spiels­wei­se LKW statt Pan­zern her­stell­ten, sodass man sich als Wer­ber oder über­haupt als Ange­stell­ter gut damit her­aus­re­den konn­te, mit der Pro­duk­ti­on von dedi­zier­ten Tötungs­in­stru­men­ten nichts am Hut zu haben. Das war for­mal zwar zwei­fel­los kor­rekt, aber spitz­fin­dig, doch wenn es dem Selbst­be­trug dien­lich sein konn­te, war frei­lich jedes Mit­tel erlaubt.
»Wow!« bewun­der­te ich sei­ne ethi­sche Stand­fes­tig­keit und erin­ner­te mich an die Arbei­ten sei­ner Lügen­bu­de. »Ich stel­le mir das gera­de vor. Da kommt so ein schmie­ri­ger Rüs­tungs­kon­zern zu dir und sagt: Bit­te erstel­len Sie mir eine tol­le Wer­be­kam­pa­gne – und du, du sagst ganz kon­se­quent: Nein! Am nächs­ten Tag stellt sich dann ein Ener­gie­kon­zern bei dir vor, der zu den größ­ten Umwelt­sün­dern des Lan­des gehört, und du ver­passt ihm ein grü­nes Image. Das ist ethisch echt gleich viel besser.«
»Über die­se Kam­pa­gne gab es intern eine rege Dis­kus­si­on, auch ethisch. Wir haben uns dann am Ende für den Auf­trag ent­schie­den, weil der Kon­zern auch viel in grü­ne Ener­gie inves­tiert und…«
»Und weil das Geld so zahl­reich floss, du schlei­mi­ge Wer­be­hu­re!« unter­brach ich ihn frech und nutz­te sei­ne sicht­li­che Über­for­de­rung, um noch ein wenig nach­zu­le­gen: »Eini­ge Wochen spä­ter kriechst du einer Fir­ma zu Kreuz, die ihre Mit­ar­bei­ter wie den letz­ten Dreck behan­delt. Dei­ne schö­ne Agen­tur aber küm­mert sich dar­um, sie als sozi­al gerech­tes Wohl­tä­tig­keits­pa­ra­dies dar­zu­stel­len. Ich mei­ne, hey, du bist so kon­se­quent mit dei­nen mora­li­schen Grund­sät­zen, das ist echt beein­dru­ckend! Mann, ich bin so froh, dass du nachts gut schla­fen kannst, weil du nichts für Rüs­tungs­kon­zer­ne machst.«
Da stand er und schau­te wie ein Hund beim Kacken, der sich kei­ner Schuld bewusst war. Wenn es einen irdi­schen Zugang zur Höl­le gab, dann lag er unter­halb die­ses Gebäu­des und hat­te sich erst kürz­lich auf­ge­tan, um die hier anwe­sen­den Geschöp­fe aus­zu­spei­en. Er wür­de sie hof­fent­lich auch wie­der zurücknehmen.
Gab es denn kei­ne ver­nünf­ti­gen Men­schen in die­sem Haus? Zwei klei­ne Grup­pen stan­den her­um und waren unter­ein­an­der jeweils in Dis­kus­sio­nen ver­tieft, soweit ich das beur­tei­len konn­te. Ich über­leg­te, ob ich mich zu einem der bei­den Grüpp­chen dazu­ge­sel­len und mit­dis­ku­tie­ren soll­te, war aber an der Umset­zung die­ser Vor­stel­lung nicht ernst­haft inter­es­siert, weil ich seit jeher das Gespräch unter vier Augen bevor­zug­te. Dann sah ich Pia. Sie saß allei­ne an einem Tisch, vor sich ein Glas Sekt, an dem sie hin und wie­der nipp­te. In der Schu­le war sie so etwas wie eine graue Maus und eher am unte­ren Ende der aus­rei­chen­den Noten­ska­la behei­ma­tet gewe­sen, was ich nicht tra­gisch fand, ihre Eltern damals aller­dings umso mehr. Nun jedoch trug sie zwei ansehn­li­che Bil­dungs­ab­schlüs­se vor sich her, die sie für jede Beschäf­ti­gung qua­li­fi­zier­ten. Außer­dem hat­te sie zu viel Make-up auf­ge­tra­gen, doch war dies ein Phä­no­men, das ich an vie­len Frau­en beob­ach­ten konn­te, die allem Anschein nach ver­in­ner­licht hat­ten, was man ihnen fort­wäh­rend weis­ma­chen woll­te. Jede belie­bi­ge Kos­me­tik­wer­bung sug­ge­rier­te, Frau­en sei­en von Natur aus häss­li­che Krea­tu­ren, nicht im Ansatz begeh­rens­wert, wenn sie sich nicht hin­ter Mas­ken ver­ber­gen wür­den, an denen ande­re kräf­tig ver­dien­ten. Lie­ber tru­gen sie zu viel auf als gar nichts, aus Angst vor ihrem eige­nen Gesicht. Ein­mal war ich ver­liebt an mei­ne dama­li­ge Freun­din her­an­ge­tre­ten mit den Wor­ten: ›Du bist am schöns­ten, wenn du unge­schminkt bist‹. Da hat­te sie gelacht und mir kein Wort geglaubt.
Pia sah nicht so aus, als wäre ihr zum Lachen zumu­te. Ner­vös durch­streif­te sie mit ihren Bli­cken den Raum und schien nach jeman­dem zu suchen. Sie war zu Schul­zei­ten immer sehr nett zu mir gewe­sen, viel­leicht auch ein biss­chen ver­knallt, dar­um ließ ich mich an ihrem Tisch nie­der und begrüß­te sie mit eini­gen freund­li­chen Wor­ten. Wir kamen ins Gespräch. Eigent­lich, so erzähl­te sie mir, war sie mit einer Freun­din her­ge­kom­men, mit Kath­rin, die sich jedoch auf der Suche nach einer Toi­let­te im Ober­ge­schoss ver­drückt hat­te, in ver­däch­ti­ger zeit­li­cher Nähe zu Sebas­ti­an, was deren bei­der Abwe­sen­heit durch­aus erklär­te. Sebas­ti­an war ver­hei­ra­tet, hat­te die­sen unglück­li­chen Umstand, wie es schien, gleich­wohl tem­po­rär ver­drängt, so wie man trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen eben häu­fig den Zugang zum Bewusst­sein ver­wehr­te. Das war wis­sen­schaft­lich erwie­sen, daher soll­te nie­mand den Zei­ge­fin­ger erhe­ben und behaup­ten, der Betrug an sei­ner Frau sei Sebas­ti­ans eige­ne Ent­schei­dung, geschwei­ge denn des­sen Schuld gewesen.
Pia und ich jeden­falls mach­ten uns dar­über lus­tig wie gute Läs­ter­schwes­tern. Nach einer Wei­le ver­such­te ich, das Gespräch in span­nen­de­re Gewäs­ser zu navi­gie­ren, weil harm­lo­se Läs­te­rei­en zwar recht auf­lo­ckern­de Gesprächs­in­hal­te dar­stell­ten, mich das gesam­te Kon­zept des Läs­terns aber doch sehr an Gar­ten­zwer­ge und Block­wart­ment­a­li­tät erin­ner­te. Ein The­men­kom­plex, mit dem man jeder­zeit Freun­de gewin­nen konn­te, ob nun im Super­markt an der Kas­se, in der Sau­na oder auf dem Zahn­arzt­stuhl, war das gern kon­fe­rier­te Feld der Poli­tik. Ich sprach die um sich grei­fen­de Finanz­kri­se an, die bereits jetzt das Leben von Mil­lio­nen Men­schen zer­stört hat­te, obwohl sie gera­de erst am Anfang stand. Ich belä­chel­te die anhal­tend her­bei­fan­ta­sier­te Mär vom Auf­schwung, der komi­scher­wei­se bei nie­man­dem so recht ankam. Ich erwähn­te den Jubel um sin­ken­de Arbeits­lo­sen­zah­len, die kei­ner, der noch ganz bei Trost war, für etwas ande­res als Pro­pa­gan­da hal­ten konn­te. Die gan­zen ekel­haf­ten Nach­rich­ten eben, wäh­rend Pia bei allem still nickte.
»Mich kotzt das echt an, so ver­arscht zu wer­den«, rumor­te es aus mir her­aus. »Ver­gleich das mal mit dem Ara­bi­schen Früh­ling. Da gehen Men­schen auf die Stra­ße, weil sie demo­kra­ti­sche Mit­be­stim­mung for­dern. Hier­zu­lan­de schimpft man über die Schwer­fäl­lig­keit demo­kra­ti­scher Ent­schei­dungs­fin­dung und ver­tei­digt allen Erns­tes ein­ge­schränk­te Mit­be­stim­mungs­rech­te, wo immer sie auf­tre­ten, weil Beschlüs­se ja so viel effi­zi­en­ter gefällt wer­den könn­ten, wenn weni­ger Men­schen dar­an betei­ligt wären. Markt­ge­rech­te Demo­kra­tie nen­nen sie das und schie­len mit einem Auge auf Chi­na. Da weiß man doch, was man von so einer Demo­kra­tie zu hal­ten hat, oder?«
»Ach, weißt du, das inter­es­siert mich alles nicht so recht. Man darf im Leben nur das Posi­ti­ve sehen, und das tue ich. Ich schaue kei­ne Nach­rich­ten mehr, weil mich das unglück­lich macht.«
So also sahen Men­schen aus, die Lebens­rat­ge­ber lasen wie: ›Mit Yoga zum Glück‹, ›Lachen für ein gutes Leben‹, ›Dank Posi­ti­vem Den­ken aus der Arbeits­lo­sig­keit‹, ›Grin­sen gegen Krebs‹. Oder schlim­mer noch: die sol­chen Schund schrie­ben, um ande­re aus­zu­neh­men, die den Mist glaub­ten. Die­se Men­schen hat­ten kei­nen ande­ren Lebens­in­halt vor­zu­wei­sen als alles wahn­sin­nig schön zu fin­den. Wenn es eines gab, das mich stär­ker ankotz­te als ver­arscht zu wer­den, dann war es die Kraft der posi­ti­ven Wahr­neh­mung, die Igno­ranz auf Speed, die alle Pro­ble­me der Mensch­heit leicht­fü­ßig lösen soll­te. Hun­ger in der Drit­ten Welt? Man schlürf­te Pro­sec­co. Mord im Namen der Frei­heit? Man sah sich einen lus­ti­gen Film an. Ölplatt­form geplatzt? Man gönn­te sich mal was. Opti­mis­mus statt Ver­nunft, Apa­thie statt Zorn. Die Höl­le, das war sie. Wer vor­über­ge­hend doch ein­mal aus dem Glück­se­lig­keits­fa­schis­mus pur­zel­te, der schlug rasch in der Rat­ge­ber­li­te­ra­tur nach, wie man ange­passt zu leben hat­te, anstatt ein­fach mal in sich hin­ein­zu­hor­chen und auf den Tisch zu hauen.
»Wür­dest du das auch klei­nen Kin­dern ins Gesicht sagen, die vor Hun­ger ver­re­cken? ›Seht das Posi­ti­ve: Ihr müsst zum Abneh­men nicht jog­gen gehen‹? Oder zu Zwangs­ar­bei­tern im KZ? ›Seht das Posi­ti­ve: Jeder hier hat einen Arbeits­platz‹? Men­schen wie du kot­zen mich an, weil sie mit ihrer opti­mis­ti­schen Igno­ranz die gan­ze Schei­ße auf der Welt erst ermöglichen.«
Mit ihrem am Boden hän­gen­den Unter­kie­fer ließ ich sie zurück, bevor sie die Chan­ce hat­te, mir den Sekt ins Gesicht zu schüt­ten. Ich kam mir vor wie eine Mut­ter, die ihrem Balg irgend­was ver­bie­ten oder es zum Auf­es­sen bewe­gen woll­te und zu die­sem Zweck ganz scham­los die afri­ka­ni­sche Bevöl­ke­rung ins Spiel brach­te, als hät­te die es nicht schon schwer genug gehabt, selbst ohne euro­päi­sche Scheiß­müt­ter. Glück­li­cher­wei­se hat­te ich mit mei­nem Nazi­ver­gleich noch auf die seriö­se rhe­to­ri­sche Ebe­ne zurück­ge­fun­den. Einer­seits tat Pia mir leid, weil sie mir vor­mals wirk­lich sym­pa­thisch gewe­sen war; ande­rer­seits dien­te sie ja wirk­lich als Steig­bü­gel­hal­ter für das Böse auf die­sem Pla­ne­ten, zwar nicht sie allein, aber ihre Denk­wei­se. Das soll­te man Men­schen auch klipp und klar mitteilen.
Von einer der her­um­ste­hen­den Grup­pen spal­te­te sich jemand ab und kam gera­de­wegs auf mich zu. Es war Mai­ke. Sie muss­te mei­ne Unter­hal­tung mit Pia gese­hen haben, die zuge­ge­be­ner­ma­ßen etwas aus dem Ruder gelau­fen war. Vor­sorg­lich berei­te­te ich mich auf das Schlimms­te vor. Mai­ke aber kam zu mir her­über, leg­te einen Arm um mei­ne Schul­ter und fing an, sich über Pia lus­tig zu machen.
»Ihr zwei habt euch ganz schön in die Haa­re gekriegt. Was war da los? Haben dir ihre neu­en Tit­ten nicht gefal­len? Ganz schön bil­lig so was. Was für ein Flittchen!«
Mai­ke trug Schu­he mit Keil­ab­sät­zen, die bei jun­gen Frau­en und sol­chen, die sich dafür hiel­ten, schwer ange­sagt waren. Wenn ich ein sol­ches Unge­tüm an einem Frau­en­fuß ent­deck­te, war mein ers­ter Ein­druck jedes Mal, die arme Frau sei behin­dert und dass es sich um eine ortho­pä­di­sche Maß­nah­me han­deln muss­te, die die Län­ge ihrer Bei­ne künst­lich aus­glei­chen soll­te. Da der ande­re Fuß jedoch in der Regel mit einem ent­spre­chen­den Gegen­stück aus­ge­stat­tet war, prä­zi­sier­te ich mei­ne Dia­gno­se gewöhn­lich auf eine geis­ti­ge Behin­de­rung, die sich als so genann­tes Mode­be­wusst­sein aus­gab. Vie­le Frau­en und Män­ner fie­len ihr tag­täg­lich zum Opfer. Aus die­ser Posi­ti­on her­aus über die Ästhe­tik auf­ge­pump­ter Brüs­te zu urtei­len, erschien mir gewagt.
»Ihre Brüs­te sind ihr kleins­tes Pro­blem«, sag­te ich, was sehr viel lus­ti­ger gewe­sen wäre, hät­te sie klei­ne Brüs­te gehabt. Der Alko­hol in Mai­kes Blut­bahn befand es trotz­dem des Kicherns wür­dig. »Du wirst es nicht glau­ben, aber wir sind über Poli­tik ins Strei­ten geraten.«
»Ha! Genau mein Metier. Kein Wun­der, dass du da ver­zwei­felt bist. Mit der kann man sich über so was nicht unter­hal­ten. Die ist dafür halt zu dumm.«
Vol­ler Stolz erklär­te sie mir wort­reich, für ein Nach­rich­ten­ma­ga­zin bei einem gro­ßen Pri­vat­sen­der zu arbei­ten und sich in die­ser Funk­ti­on natür­lich viel mit Poli­tik zu beschäf­ti­gen, zumin­dest unter ande­rem. Das war der Knack­punkt: Unter ande­rem. Ihr Arbeits­platz befand sich in der Redak­ti­on eines die­ser Life­style-Maga­zi­ne, die am frü­hen Abend auf allen Pri­vat­sen­dern aus­ge­strahlt wur­den und das Pro­jekt der Auf­klä­rung mit nega­ti­vem Vor­zei­chen fort­führ­ten. Zu sehen gab es dort groß­ar­ti­ge Ein­spie­ler über stol­pern­de Poli­ti­ker, was Mai­kes Inter­es­se an poli­ti­schen Pro­zes­sen erklärt und auch erschöpft haben dürf­te, inves­ti­ga­ti­ve Repor­ta­gen über neu­es­te Mode­trends aus Hol­ly­wood und wis­sen­schaft­li­che Bei­trä­ge über was­ser­fes­tes Make-up, in denen wil­li­ge Feu­er­wehr­män­ner geschmink­ten Frau­en ins Gesicht spritz­ten, was in den Hir­nen der Redak­ti­ons­chefs für rie­si­ge Stän­der und puber­tä­res Geki­cher gesorgt haben dürf­te. Den­noch gab es Frau­en, die sich dazu ernied­ri­gen lie­ßen, so eine Sen­dung zu mode­rie­ren oder an deren Pro­duk­ti­on will­fäh­rig teil­zu­neh­men, wor­auf sie am Ende auch noch stolz waren. Die Eman­zi­pa­ti­on dreh­te sich im Grab her­um, wenn sie sol­che Sen­dun­gen emp­fing, obwohl Gleich­be­rech­ti­gung ja auch bedeu­te­te, genau­so schei­ße wie manch Mann sein zu dürfen.
»Wow!« sprach ich, wor­auf Mai­ke mich eitel anlä­chel­te. »Du arbei­test also für einen Ver­ein, der sich tage­lang mit den Hös­chen von Lady Gaga beschäf­ti­gen kann, aber für das Welt­ge­sche­hen kei­ne Sen­de­mi­nu­ten übrig hat; der Men­schen unauf­hör­lich Luxus­gü­ter prä­sen­tiert und sie wie Esel mit gol­de­ner Möh­re vorm Maul zum ewi­gen Wei­ter­ackern moti­viert; der sich über Rand­grup­pen lus­tig macht, damit sich noch der letz­te Idi­ot vor dem Fern­se­her so rich­tig gut füh­len kann?«
Zum Abschluss unse­rer Show stell­te ich ihr die Eine-Mil­li­on-Euro-Fra­ge: »Wie kann man denn so weit sinken?«
Sie stieß ein empör­tes ›Pöh!‹ aus, dreh­te sich um und zisch­te mit erho­be­nem Näs­chen davon. Eini­ge Augen­bli­cke spä­ter gesell­te sie sich zu Tors­ten an einen Tisch. Sie tuschel­ten mit­ein­an­der, als sie zu mir her­über­sa­hen. Ich hob mein Glas, zwin­ker­te ihnen fröh­lich zu und stat­te­te mein Gesicht mit einem wohl­wol­len­den Lächeln aus, das sie ver­wirr­te. Bei­de gaben vor, mich nicht gese­hen zu haben, wand­ten mir ihre Rücken zu, schüt­tel­ten die Köp­fe. Lang­sam wur­de es heiß.
Von so viel Ekel erschüt­tert, such­te ich kör­per­li­che Erleich­te­rung. Im gesam­ten Erd­ge­schoss konn­te ich nur ein ein­zi­ges Bade­zim­mer ent­de­cken, was ich für eine Vil­la dann doch recht schä­big fand. Noch schä­bi­ger aber war, dass es von jeman­dem benutzt wur­de. Vor der geschlos­se­nen Tür stand Micha­el, der offen­sicht­lich auch auf Ein­lass in das Hei­lig­tum war­te­te. Sei­nen Kopf schmück­te eine Gel­fri­sur, die irgend­wie mit einer grau gerahm­ten Klug­schei­ßer­bril­le eine Sym­bio­se ein­ge­gan­gen war. Klug­schei­ßer­bril­len unter­schie­den sich von regu­lä­ren Bril­len dadurch, dass dem Trä­ger in ers­ter Linie nicht die funk­tio­na­le Leis­tung am Her­zen lag, also mit sei­nen Glub­schern etwas von der Welt wahr­neh­men zu kön­nen, son­dern die Fremd­wahr­neh­mung als gebil­de­ter Bür­ger, als Mensch mit Durch­blick, nicht phy­sisch, son­dern intel­lek­tu­ell. Die­ser wie­der­um unter­schied sich deut­lich vom hip­pen Mit­läu­fer, der eine Bril­le aus rein ästhe­ti­schen Grün­den trug, bevor­zugt im so genann­ten Vin­ta­ge-Look, und die­sen Schwach­sinn auch noch mit­ge­macht hät­te, wenn es ange­sagt gewe­sen wäre, Hör­ge­rä­te oder Krü­cken zu tragen.
Den gebüh­ren­den Respekt wah­rend, der mit der Benut­zung öffent­li­cher Bedürf­nis­an­stal­ten all­ge­mein ein­her­ging, stand ich untä­tig her­um und begut­ach­te­te schwei­gend das auf­re­gen­de Mus­ter der Rau­fa­ser­ta­pe­te. Micha­el kann­te kei­nen Respekt. Er sprach mich an. Nach kur­zem Weißt-du-noch- und Na-wie-geht’s‑Geplänkel fing auch er an, letz­te­re Fra­ge mit lan­gen Aus­schwei­fun­gen über sei­ne beruf­li­che Tätig­keit zu beant­wor­ten. War­um bloß rede­ten so vie­le Men­schen von ihrer Arbeit, von ihrem Stu­di­um, von ihrem Fit­ness­club oder ihrem liebs­ten Fuß­ball­ver­ein, wenn man sie frag­te, wie es ihnen geht. Hat­ten sie kein eige­nes Leben jen­seits der Fremdbestimmung?
Micha­el jeden­falls erzähl­te mir, schon seit län­ge­rer Zeit für eine sehr bekann­te Musik­zeit­schrift zu arbei­ten, für den unglaub­lich krea­tiv benann­ten ›Laut­spre­cher‹.
»Die Atmo­sphä­re in der Redak­ti­on ist ein­fach toll«, him­mel­te er mir unge­fragt vor. »Alle sind total jung, total locker. Jeder hat ganz viel Frei­heit. Das ist für mich echt ein Traum­job. Die gan­ze Zeit darf ich Musik hören, dar­über schrei­ben, sie bewer­ten, darf mich mit Künst­lern tref­fen und Inter­views füh­ren, in die Sze­ne ein­tau­chen und neue Trends ent­de­cken – oder wel­che set­zen. Natür­lich steckt da auch viel Arbeit drin, aber die ist es wert. Uns geht es ein­fach nur um gute Musik.«
Wer kei­nen Musik­ge­schmack auf­wei­sen konn­te, der las Musik­zeit­schrif­ten, die ihren Lesern die läs­ti­ge Auf­ga­be eige­ner Mei­nungs­bil­dung gegen ein Ent­gelt bereit­wil­lig abnah­men. Ähn­li­che Publi­ka­tio­nen gab es für Lite­ra­tur, Mode, Lyrik, Fil­me, Kat­zen­bil­der, Scheiß­hau­fen und so ziem­lich alles, was Men­schen sonst noch her­vor­brach­ten. Sie stan­den in bes­ter Tra­di­ti­on jenes Men­schen­ty­pus, der sich von Gott oder ande­ren Wahn­vor­stel­lun­gen dazu beru­fen fühl­te, kul­tu­rel­le Aus­drucks­for­men zu bewer­ten und dabei vor­wie­gend ›man‹ statt ›ich‹ zu gebrau­chen, wie etwa: ›das hört man nicht‹, ›das liest man nicht‹, ›das sagt man nicht‹, ›das trägt man nicht‹. Die­se hoheit­li­chen Ver­dik­te fan­den ihre treu­en Abneh­mer unter jenen, die sich durch Anschluss an bestehen­de Trends und Moden Indi­vi­dua­li­tät zu geben ver­such­ten. Das Resul­tat war eine Armee von see­len­lo­sen Zom­bies, die sich bei jedem Lied, bei jedem Film, bei jedem Klei­dungs­stück und jedem Buch erst ein­mal ange­strengt den Kopf dar­über zer­bra­chen, ob sie es denn über­haupt gut fin­den dür­fen, und zur Klä­rung die­ser Fra­ge ihre hei­li­gen Schrif­ten konsultierten.
»Du sagst also ande­ren, was gute Musik ist und was nicht? Woher willst du das denn wis­sen? Bist du die Talent­po­li­zei? Die Geschmacks­ge­sta­po? Ist dir klar, dass es da drau­ßen unglaub­lich vie­le Men­schen gibt, die irgend­wel­che Bands schlecht fin­den, bloß weil du sie schlecht fin­dest? Die dei­ne Tex­te lesen und deren Inhalt dann als eige­ne Mei­nung aus­ge­ben? Macht dich das geil? Raffst du nicht, wie spie­ßig das ist?«
»Bist du…«, woll­te ich wei­ter aus­ho­len, als die Tür des Bade­zim­mers abrupt geöff­net wur­de. Her­aus kam René, wäh­rend sich Micha­el dank­bar dar­in ver­drück­te. René muss­te so sehr auf die Beherr­schung sei­nes bes­ten Stücks fixiert gewe­sen sein, dass er die Unter­hal­tung vor der Bade­zim­mer­tür gar nicht mit­be­kom­men hat­te. Anders konn­te ich mir nicht erklä­ren, wie­so er ste­hen­blieb und mir beschwingt die Hand gab, die er hof­fent­lich gewa­schen hat­te. Wie ich bald dar­auf erfuhr, war er Bank­an­ge­stell­ter und leb­te mit sei­ner Frau und zwei Kin­dern in der Frank­fur­ter Innen­stadt. Stolz zeig­te er mir Fotos der bei­den Töch­ter, gar­niert mit epi­schen Geschich­ten von Hele­nes wun­der­vol­ler Ein­schu­lung und den groß­ar­ti­gen Noten der fünf Jah­re älte­ren Marie-Sophie. Mein Ein­druck war, ich hat­te einen Men­schen vor mir, der ein Leben am Limit führ­te, weil er ohne Kom­pro­mis­se eine kon­se­quent selbst­be­stimm­te Linie fuhr und sei­ne abge­dreh­ten Lebens­träu­me erfüllt hat­te, also Füh­rer­schein, Abitur, dann Wirt­schafts­stu­di­um und Rei­hen­haus­hälf­te. Als er nach einer gefühl­ten Ewig­keit den Vor­rat des fami­lia­len Erfolgs erschöpft hat­te, den es zu erzäh­len lohn­te, war es an mir, den eige­nen Kar­rie­re­pfad gla­mou­rös nachzuzeichnen.
»Und was machst du so? Ich hab gehört, bei dir lief es nicht so toll?«
»Ich bin arbeits­los«, erwi­der­te ich treuherzig.
»Oje. Ist das nicht schrecklich?«
Ich fand, das war eigent­lich eine sehr gute Fra­ge, wenn er sie nur nicht unbe­dingt mir gestellt hätte.
»Ich fin­de, das ist eigent­lich eine sehr gute Fra­ge«, ant­wor­te­te ich der Wahr­heit zulie­be. »Mal sehen. Du stehst jeden Mor­gen auf, damit du etli­che Stun­den hin­ter Pan­zer­glas ver­brin­gen kannst, wo du den Gewinn dei­ner scheiß Bank ver­mehrst, von dem du aber nie etwas zu Gesicht bekom­men wirst. Wenn du Glück hast, kannst du zwei Mal im Jahr in irgend­ei­nen tol­len Pau­schal­ur­laub fah­ren oder Ski­lau­fen gehen, aber sonst ist jeder Tag so lang­wei­lig wie der letz­te. Stän­dig machst du dir die Hosen voll vor Angst, irgend­wann mal dei­nen Job zu ver­lie­ren oder bei einem Über­fall erschos­sen zu wer­den – was auch sein Gutes hät­te, weil dei­ner Fami­lie dann immer­hin noch die Lebens­ver­si­che­rung zukom­men wür­de. Ist das nicht schrecklich?«
Er ließ mich eis­kalt ste­hen. Wenig spä­ter kam Micha­el aus dem Bade­zim­mer und ging wort­los an mir vor­bei. Ich frag­te mich, ob er René und mich belauscht hat­te. Was sonst konn­te ihn so lan­ge dort drin beschäf­tigt haben?
Beim Was­ser­las­sen mal­te ich mir aus, dass drau­ßen Möbel vor die Tür gescho­ben wur­den, um die Par­ty end­lich von einem stö­ren­den Ele­ment zu befrei­en, das zufäl­lig mei­nen Namen trug. Als ich schließ­lich die Tür öff­ne­te, stan­den jedoch kei­ne Möbel davor, son­dern Han­na. Han­na arbei­te­te mitt­ler­wei­le als Pfle­ge­rin in einer Psych­ia­trie, wie ich von Pia erfah­ren hat­te. Sie war Betreue­rin, The­ra­peu­tin, Psy­cho­lo­gin, Psy­cho­the­ra­peu­tin, Psy­cho­psy­cho­lo­gin, Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin, psy­cho­pa­thi­sche The­ra­peu­tin oder was weiß ich, wel­cher Begriff gera­de für Mecha­ni­ker des Innen­le­bens en vogue war, die sich in sol­chen Anstal­ten der emo­ti­ons­lo­sen Behand­lung emo­tio­na­ler The­men ver­schrie­ben hat­ten, der Behe­bung mensch­li­cher Defek­te, not­falls mit­hil­fe der Che­mie, damit der Motor wei­ter­hin brumm­te. Um allen Kli­schees gerecht zu wer­den, trug sie eine rote Bril­le. Viel­leicht ist sie beauf­tragt wor­den, mich nach den bis­he­ri­gen Zusam­men­stö­ßen mit dem Jahr­gang in ihre Arbeits­stät­te ein­zu­wei­sen, mut­maß­te ich.
Nichts der­glei­chen geschah. Sie nick­te mir zu und sag­te Hal­lo. Den bis­he­ri­gen Ver­lauf des Abends noch ein­mal Revue pas­sie­ren las­send, beschloss ich, das übli­cher­wei­se von mei­nen Gesprächs­part­nern bevor­zug­te The­ma dies­mal ein­fach vorwegzunehmen.
»Du bist jetzt in einer Psych­ia­trie, hab ich gehört.«
»Ja, schon.« Han­na lach­te. »Aber als Ärz­tin, nicht als Patientin.«
Das war den Wach­mann­schaf­ten sol­cher Ein­rich­tun­gen wich­tig. Kla­re Rol­len­gren­zen muss­ten gezo­gen, ein­deu­ti­ge Hier­ar­chien und eine unver­rück­ba­re Nor­ma­li­tät als Bezugs­rah­men kon­stru­iert wer­den. Wider­sprach der Pati­ent, war er ver­rückt. Gehorch­te er, gestand er sei­ne Ver­rückt­heit. Hin­ein kamen Men­schen mit einem Knacks, her­aus kamen sie mit schwe­ren Schä­den. Wer dort arbei­te­te, war der eigent­li­che Irre, wur­de aber nicht so genannt, denn er war es auf eine mit dem als ›nor­mal‹ ver­kann­ten Wahn­sinn sehr kon­form gehen­de Art und Weise.
»Ach, das ist ja ver­rückt«, kalau­er­te ich und luchs­te ihr ein Schmun­zeln ab. »Was machst du da so?«
»Viel Ver­rück­tes!« Zwei glei­che Wort­wit­ze waren einer zu viel. »Aber im Ernst: Das ist echt super wich­ti­ge Arbeit. Mit was für Men­schen man da zu tun hat, das ist der Wahnsinn.«
Sie hat­te ihre Aus­fahrt von der Wort­spiel­au­to­bahn ver­passt. Gequält ver­renk­te ich mei­ne Mund­win­kel, um mög­lichst lebens­nah ein Lächeln zu simulieren.
»Letz­ten Monat«, erzähl­te sie mir, »kam ein Mäd­chen zu uns, das wir vor dem Sui­zid geret­tet haben. Die woll­te sich umbrin­gen, weil sie in der Schu­le nicht mehr mit­kam. Ihre Ver­set­zung war gefähr­det, dann hät­te sie ein Jahr wie­der­ho­len müs­sen. Die gan­zen Freun­de in der Klas­se hät­te sie natür­lich auch ver­lo­ren und gegen­über ihren Eltern schäm­te sie sich. Ihr war das alles zu viel. Ihre Eltern fan­den sie in ihrem Zim­mer. Tabletten.«
»Krass!« flüs­ter­te ich nur.
»Das kannst du laut sagen. Na ja, aber die Hil­fe kam ja noch recht­zei­tig. Wir haben ihr dann gehol­fen, da durch­zu­kom­men. Sie hat­te sich über­for­dert, woll­te sich nicht ein­ge­ste­hen, dass sie die Stu­fe nicht schaf­fen wür­de, also konn­te sie nur wei­ter­ma­chen, bis alles an die Wand fuhr. Ich hab dann mit ihr gespro­chen, hab ihr klar­ge­macht, dass es bes­ser für sie ist, auf eine leich­te­re Schu­le zu wech­seln, um den Druck ein wenig zu redu­zie­ren. Da wür­de sie zwar auch ihre Freun­de ver­lie­ren, aber eben nicht die Lust am Leben. Gott sei Dank hat sie das ein­ge­se­hen. Am Ende war sie rich­tig glück­lich, dass alles noch mal gut aus­ge­gan­gen ist. Das sind so Momen­te, in denen ich weiß, das Rich­ti­ge zu tun. Men­schen zu helfen.«
Die Unter­hal­tung mit René schwirr­te mir noch im Hin­ter­kopf her­um und so rief sie mir ins Bewusst­sein, was ich Wich­ti­ges von ihm gelernt hatte.
»Fin­dest du das nicht schreck­lich?« frag­te ich sie mit treu­doo­fem Blick.
»Natür­lich ist das schreck­lich!« ant­wor­te­te sie mit dem geho­be­nen Selbst­be­wusst­sein der­je­ni­gen, die sich auf der guten Sei­te wähn­ten. »Aber zum Glück ging es gut aus. Wir haben ja noch mal die Kur­ve gekriegt.«
»Neeee. Ich mein­te, ob du nicht schreck­lich fin­dest, was du da machst.«
Sie stutzte.
»Da kommt ein Mäd­chen zu dir, das sich umbrin­gen möch­te, weil sei­ne Schu­le ihm den Ein­druck ver­mit­telt, doof und unfä­hig zu sein, und anstel­le dar­aus den ein­zi­gen empa­thi­schen Schluss zu zie­hen, dass das ein ver­dammt beschis­se­nes Sys­tem sein muss, wenn es Kin­dern eine sol­che Ernied­ri­gung zumu­tet, über­zeugst du das arme Mäd­chen davon, auf eine leich­te­re Schu­le zu wech­seln. Damit sagst du ihm doch ins Gesicht, dass es wirk­lich doof und unfä­hig ist! Du machst dich zum Hand­lan­ger von Struk­tu­ren, wegen der sie sich hat umbrin­gen wol­len – und du fühlst dich auch noch gut dabei! Fin­dest du das nicht men­schen­ver­ach­tend? Was zum Teu­fel machst du an ande­ren Tagen? Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fern erklä­ren, sie wären doch selbst schuld, wenn sie sich wie Schlam­pen anziehen?«
Sicher­lich kann­te Han­na unzäh­li­ge Begrif­fe, die sie mir ger­ne um die Ohren gehau­en hät­te. ›Anti­so­zia­le Per­sön­lich­keits­stö­rung‹ bei­spiels­wei­se, weil ich es wag­te, ihre patho­lo­gi­sche Nor­ma­li­tät in Fra­ge zu stel­len. Schu­le schwän­zen galt eben­falls als anti­so­zia­les Ver­hal­ten. Wenn aber einer begriff, so wie Chris das frü­her getan hat­te, dass Schu­le und Gefäng­nis zahl­rei­che Par­al­le­len auf­wie­sen und es nicht ums Ler­nen, son­dern um die Ein­tei­lung in Hier­ar­chie­stu­fen ging, um Unter­ord­nung und die Anpas­sung an ein bür­ger­li­ches Leben mit Aus­bil­dung, Arbeit und Ren­te, dass daher nie das Wohl der Kin­der im Vor­der­grund stand, son­dern die öko­no­mi­sche Ver­wert­bar­keit mensch­li­cher Res­sour­cen, dann war es in mei­nen Augen sehr gesund, sowohl geis­tig wie auch sozi­al, sich die­ser Schei­ße zu wider­set­zen, weil die­se Struk­tu­ren das eigent­li­che Anti­so­zia­le dar­stell­ten. Lei­der hat­te ich das erst am Ende mei­ner Schul­zeit geschnallt.
Anstatt mit Fach­ter­mi­no­lo­gie um sich zu schmei­ßen, ver­pass­te Han­na mir eine Ohr­fei­ge und knall­te ihr Sekt­glas auf den Boden, bevor sie in ihren Sti­let­to-Stie­feln davon­k­la­cker­te. Von hin­ten gefiel sie mir.
Ich brau­che schleu­nigst einen Drink, dach­te ich, nach­dem sie außer Hör­wei­te gestö­ckelt war. Unschuld vor­täu­schend schlurf­te ich zur Bar, an der sich bereits Andre­as häus­lich ein­ge­rich­tet hatte.
»Was für ein lang­wei­li­ger Hau­fen.« Er pros­te­te mir zu. »Ich find’s toll, dass du hier ein wenig Stim­mung reinbringst.«
»Einer muss es ja tun.«
Frü­her war Andre­as ein typi­sches Kel­ler­kind gewe­sen, Leis­tungs­kur­se Mathe und Infor­ma­tik, mit dem selbst noch auf die­ser Par­ty kei­ner so rich­tig zu tun haben woll­te. Da er den ers­ten ver­nünf­ti­gen Satz des Abends von sich gege­ben hat­te, hielt ich ihn umge­hend für einen net­ten Men­schen. Vor­ur­tei­le waren dazu da, sie zu über­win­den. Wir tausch­ten unse­re Ein­drü­cke über die anwe­sen­de Lang­wei­ler­trup­pe aus, deren Dün­kel­haf­tig­keit und ihre Sta­tus­sym­bo­le. Mit spür­ba­rem Ekel trug ich mei­nen vor­läu­fi­gen Expe­di­ti­ons­be­richt vor; leg­te Andre­as die strik­te Lebens­pla­nung dar, die jeder der Mus­ter­men­schen hier offen­bart hat­te, mit dem ich ins Gespräch gekom­men war. Andre­as hat­te dafür bloß einen ein­zi­gen Satz übrig: ›Je plan­mä­ßi­ger das eige­ne Leben funk­tio­niert, des­to weni­ger ist es ein eige­nes Leben‹.
Mir fiel Dio­ge­nes ein, die­ser grie­chi­sche Phi­lo­soph, der angeb­lich in einer Ton­ne gehaust haben soll. Andre­as ver­kör­per­te die moder­ni­sier­te Ver­si­on die­ser Geschich­te und hat­te die Ton­ne gegen sei­nen Kel­ler aus­ge­tauscht. Viel­leicht wäre die Welt eine bes­se­re gewe­sen, hät­te sie auf ihre Kel­ler­kin­der gehört.
Eine ange­se­he­ne Kar­rie­re war Andre­as im Gegen­satz zu den vie­len Leis­tungs­mons­tern auf die­ser Par­ty nicht son­der­lich wich­tig. Tags­über arbei­te­te er als Soft­ware­ent­wick­ler für einen gro­ßen deut­schen Ver­si­che­rungs­kon­zern, betrieb in sei­ner Frei­zeit aber eine gesell­schafts- und kapi­ta­lis­mus­kri­ti­sche Web­site, wie er mir eupho­risch mit­teil­te. Er fand das alles schei­ße, wie es lief, die gan­ze Gesell­schafts­ord­nung war ihm ein Dorn im Auge.
»Stän­dig wird man ver­arscht«, seufz­te er und rann­te offe­ne Türen bei mir ein. »Seit zehn Jah­ren sind wir im Krieg, nur kei­ner spricht das Wort offen aus. Oder die Finanz­kri­se! Unse­re lach­haf­te Eli­te spielt sich als gro­ßer Euro­pa-Ret­ter auf. Dabei ist es doch Deutsch­land gewe­sen, das durch Lohn­dum­ping zum ach so tol­len Export­welt­meis­ter gewor­den ist und dadurch die Schul­den der ande­ren Län­der über­haupt erst nach oben getrie­ben hat. Nun wun­dert man sich hier, dass man im Aus­land nicht als Held gefei­ert wird. Als ob dich auf der Stra­ße einer zusam­men­schlägt, dein gan­zes Erspar­tes von dir for­dert, damit er dir den Ret­tungs­wa­gen ruft, und für die­se Wohl­tat dann auch noch gelobt wer­den möchte.«
Andre­as schüt­tel­te den Kopf und leer­te sein Bier.
»Man soll här­ter arbei­ten, heißt es, län­ger, bes­ser, bil­li­ger«, fuhr er fort. »Man soll wäh­len gehen, obwohl sich ja doch nichts ändert. Man soll mit weni­ger Lohn, mit weni­ger Ren­te, mit weni­ger Urlaub zufrie­den sein. Die Löh­ne sei­en gestie­gen, schrei­ben die Zei­tun­gen, dabei sind sie wäh­rend der letz­ten Jah­re um eini­ges gesun­ken, wenn man mal nach­rech­net. Man soll schuf­ten bis zum Umfal­len und sich ein Leben lang wei­ter­bil­den. Man soll die Fres­se hal­ten, weil man sonst ent­las­sen oder nie­der­ge­knüp­pelt wird. Man soll schön dan­ke sagen für jede Zumu­tung, die einem auf­er­legt wird. Und die Scha­fe glau­ben den gan­zen Mist.«
»Weil man sowie­so nichts ändern kann«, ver­voll­stän­dig­te ich ironisch.
»Genau! Genau das sagen sie dann: Da kann man nichts tun. Das ist halt so. Das ist schon immer so gewe­sen. Das wird auch immer so sein.«
»Weil sie zu blöd sind, Markt­ge­set­ze von Natur­ge­set­zen zu unterscheiden.«
»Eben. Und weil sie immer noch glau­ben, die Ord­nung käme von Gott. Heu­te sagen vie­le viel­leicht nicht mehr ›Gott‹ dazu, aber was sie glau­ben, läuft auf das glei­che hin­aus: Das ist halt so. Wie klei­ne Kin­der. Obwohl, stimmt gar nicht – klei­ne Kin­der stel­len wesent­lich mehr kri­ti­sche Fra­gen als die meis­ten Erwach­se­nen. Wenn man ehr­lich ist, muss man doch zuge­ben, die Auf­klä­rung hat ver­sagt. ›Habe Mut, dich dei­nes eige­nen Geld­beu­tels zu bedie­nen‹, das ist alles, was davon übrig geblie­ben ist.«
Ich fühl­te mich wie ein Schatz­su­cher. Unter all dem cha­rak­ter­lo­sen Geröll, das in Abend­gar­de­ro­be durch die Räum­lich­kei­ten kul­ler­te, hat­te ich einen Edel­stein entdeckt.
»Heu­te Mit­tag hab ich einen Arti­kel über kam­bo­dscha­ni­sche Arbeits­ver­hält­nis­se geschrie­ben. Unter der Woche lässt mir der Job lei­der kaum Zeit.«
»War­um Kam­bo­dscha?« Ich konn­te dem The­men­sprung nicht folgen.
»Weil unse­re tol­len Kla­mot­ten­lä­den dort so ger­ne pro­du­zie­ren las­sen. Kaufst du da manch­mal ein? Bei die­sen Ket­ten? Soll­test du nicht. Die Men­schen in den Fabri­ken dort bre­chen scha­ren­wei­se zusam­men und bekom­men nur einen Hun­ger­lohn dafür. Wer sich beschwert, wird rausgeschmissen.«
Davon hat­te ich gelesen.
»Und das ist noch harm­los im Ver­gleich zur Elek­tronik­bran­che«, setz­te er nach. »Hast du das mit­be­kom­men von den Wer­ken in Chi­na? Wo sich zahl­rei­che Mit­ar­bei­ter aus Pro­test vom Dach gestürzt haben? Jetzt hat die Fir­ma dort über­all Fang­net­ze instal­liert, um sol­che auf­se­hen­er­re­gen­den Selbst­mord­ver­su­che zu unter­bin­den. Das sind doch Pro­blem­lö­sungs­stra­te­gien nach der Logik von Psy­cho­pa­then! Nur weil hier jeder unbe­dingt ein Smart­phone in der Hand hal­ten möch­te…« Er schlug mit der Hand auf den Tre­sen. »Wenn ich sol­che Zustän­de sehe, werd ich echt wütend!«
»Ich auch.« Wir schwie­gen uns für eini­ge Sekun­den an. »Aber weißt du, was mich am wütends­ten macht? Dass ich mit mei­ner Wut fast allei­ne bin. Bis vor eini­ger Zeit hat mich das echt oft an den Rand der Ver­zweif­lung gebracht. Alle sagen sie zu mir: Reg dich nicht auf, so ist es halt.«
»Wie die Schafe.«
»Wie die Scha­fe«, pflich­te­te ich ihm bei.
»Mensch, das ist doch alles zum Kot­zen«, fass­te er das Welt­ge­sche­hen aus­sa­ge­kräf­tig zusammen.
Er hat­te zwar Recht mit sei­nen Aus­füh­run­gen und sei­ne Ableh­nung der Zustän­de war mora­lisch durch­aus lobens­wert, doch allein mit mora­li­scher Ent­rüs­tung war kein Blu­men­topf zu gewinnen.
»Und den­noch machst du mit«, stell­te ich bei­läu­fig fest.
»Wie­so?«
»Na, dein Job…«
»Na ja, was soll man tun. Man muss ja irgendwie.«
»Nein. Wenn man kon­se­quent ist, muss man das nicht.«
»Du hast gut reden. Du bist ja arbeitslos.«
Eines muss­te man die­ser Spie­ßer­ban­de las­sen, der Infor­ma­ti­ons­fluss funk­tio­nier­te per­fekt. Mein Stig­ma des arbeits­lo­sen Unter­men­schen­tums hat­te sich bereits her­um­ge­spro­chen. Ich konn­te das ›nur‹, das nicht gesagt wur­de, förm­lich sehen, als wäre es mit Leucht­buch­sta­ben in die Luft gesetzt.
»Ganz recht«, ent­geg­ne­te ich, »und wenn du Eier in der Hose hät­test, dann wür­dest du dei­nen beschis­se­nen Job genau­so an den Nagel hängen.«
Aus mir sprach Wut, zu einem Teil aber auch per­sön­li­che Ent­täu­schung, weil er hin­ter sei­ner Fas­sa­de genau­so strom­li­ni­en­för­mig war wie alle ande­ren. Wäre er Dio­ge­nes gewe­sen, ich hät­te mit aller Wucht gegen sei­ne alber­ne Ton­ne getreten.
»Wenn du alles so schei­ße fin­dest, war­um machst du dann noch mit? Wenn einer dich beim Pokern ver­arscht, dann schmeißt du doch die Kar­ten hin und gehst, oder nicht? Statt­des­sen machst du einen auf kri­tisch und reflek­tiert, bist aber auch nur eines von die­sen Scha­fen, das sich nach Strich und Faden ver­ar­schen lässt. Du bist der größ­te von allen Blen­dern hier. Du bist ein Feig­ling und ein Heuch­ler, weil Kri­tik ohne per­sön­li­che Kon­se­quenz nichts ande­res als Heu­che­lei ist.«
»Ach ja? Und du bist ein Arsch­loch«, kon­ter­te er und ver­ließ kur­zer­hand die Party.
Nach die­sem anre­gen­den Dia­log fand ich nie­man­den mehr, der mit mir reden woll­te, was mich nicht beson­ders trau­rig stimm­te, weil ich mich nun mit Leib und See­le dem Buf­fet wid­men konn­te. Totes Tier war ein ange­neh­me­rer Gesprächs­part­ner, hat­te es vor sei­nem Tod doch immer­hin ein Rück­grat beses­sen, was man vom Rest der Anwe­sen­den nur sehr ein­ge­schränkt behaup­ten konnte.
Das war das bes­te Klas­sen­tref­fen mei­nes Lebens und ver­mut­lich auch das letz­te. Sie wür­den sich hüten, mich noch ein­mal ein­zu­la­den. Allei­ne dafür hat­te es sich schon gelohnt.

Wie­der fah­re ich mit einem Zug. Schon als Kind ist es mir die liebs­te Art des Rei­sens gewe­sen. Das Zug­fah­ren übt auf mich eine Form von Magie aus, es fas­zi­niert mich, es fes­selt mich, es lie­fert mei­ner Phan­ta­sie einen Nähr­bo­den, auf dem sie präch­tig gedei­hen kann. Jedes Mal, seit ich klein war, habe ich mich auf das Zug­fah­ren gefreut, schon Wochen, ja Mona­te im Vor­aus, wenn ich zufäl­lig die Rei­se­pla­nung mei­ner Eltern auf­ge­schnappt hat­te oder sie mir lächelnd davon erzähl­ten, weil sie wuss­ten, wie sehr ich der Bahn­fahrt ent­ge­gen­fie­bern wür­de. Als ich sie­ben war, fuh­ren wir nach Frank­reich, und ich löcher­te mei­ne Eltern tage­lang mit einer Land­kar­te, wo wir denn lang­fah­ren wür­den und ob es dort Bäu­me gäbe oder Ber­ge oder Tun­nel oder Wie­sen. Ich habe nie ein­schla­fen kön­nen, wenn ich erfuhr, ich wür­de am nächs­ten Tag in einem Zug sit­zen, so auf­ge­regt war ich, so vol­ler Vor­freu­de. Es war ein Aben­teu­er, etwas Beson­de­res, etwas, wovon ich noch wochen­lang schwär­men konnte.
Viel­leicht war es albern, viel­leicht auch bloß kind­li­che Fas­zi­na­ti­on, aber ich habe mir bis heu­te ein wenig davon bewahrt. Ich war nie jemand, der in der Bahn die Zei­tung liest oder sich ein Buch zur Hand nimmt. Dafür ist mir das Zug­fah­ren schon immer viel zu auf­re­gend gewe­sen. Ich inter­es­sier­te mich nicht ein­mal beson­ders für die Mit­men­schen um mich her­um, die ihren Beschäf­ti­gun­gen nach­gin­gen, im Gang stan­den, mit­ein­an­der rede­ten oder ver­such­ten zu schla­fen. Statt­des­sen rann­te ich vor mei­nen Eltern in den Wagen, such­te uns Plät­ze und setz­te mich ans Fens­ter, nie irgend­wo anders hin außer ans Fens­ter. Dann schau­te ich hin­aus. Die gan­ze Fahrt über saß ich da, jedes ein­zel­ne Mal, und blick­te zufrie­den durch das Glas auf die vor­bei­zie­hen­de Welt, oder ich streck­te, als ich schon etwas grö­ßer war, hin und wie­der den Kopf durch das geöff­ne­te Fens­ter, weil ich es genoss, den Fahrt­wind auf der Haut zu spü­ren, die­ses unmit­tel­ba­re Gefühl der eige­nen Fortbewegung.
Mit atem­be­rau­ben­der Geschwin­dig­keit ras­te ich an der Welt vor­über, an Men­schen, Kin­dern vor allem, die stau­nend das Spek­ta­kel betrach­te­ten, an Fel­dern, an Kühen und Bäu­men, durch Bahn­hö­fe und an Stra­ßen vor­bei, und den­noch bewegt man sich die gan­ze Zeit im Grun­de nur auf einem Pfad, den ande­re für einen vor­ge­ge­ben haben. Ich ließ mei­ne Gedan­ken schwei­fen, ver­gaß für eine Wei­le die Sor­gen der Welt, schau­te aus dem Zug und war ein­fach nur da, jetzt im Moment, voll­kom­men frei. Mei­ne Phan­ta­sie ver­lor ihre gewohn­te Zurück­hal­tung, sie wur­de beflü­gelt von dem, was ich sehen, was ich hören und was ich spü­ren konn­te. Das Rüt­teln des Wagens, der über die Glei­se rauscht, das Getö­se der Dampf­lo­ko­mo­ti­ve und das rhyth­mi­sche Geräusch der Ach­sen, das alles ver­moch­te es bei jeder Fahrt aufs Neue, mich in eine Art Rausch zu ver­set­zen, mich zu betö­ren, zu umklam­mern und mich sanft in mei­ne Tag­träu­me zu schaukeln.
Ich stell­te mir in sol­chen Momen­ten vor, ich wäre auf einem wei­tent­fern­ten Pla­ne­ten, der Ent­de­cker frem­der Sphä­ren. Ich träum­te von einer ande­ren Welt oder mal­te mir zuwei­len aus, im Post­wa­gen wür­den die wich­tigs­ten Doku­men­te des Lan­des trans­por­tiert, geheims­te Geheim­sa­chen, Bau­plä­ne und Regie­rungs­be­schlüs­se, oder gar Schät­ze von uner­mess­li­chem Wert, und ich, ich wäre somit ein Teil des wich­tigs­ten Zuges der Nati­on. Wenn ich an Wäl­dern vor­bei­fuhr, dann sah ich Bäu­me, die ihre Äste inein­an­der ver­schlun­gen hat­ten und tanz­ten, die her­um­wir­bel­ten und dabei ihre Blät­ter ableg­ten wie Klei­der, derer sie über­drüs­sig gewor­den sind. Ich stell­te sie mir vor, wie sie gewöhn­lich stolz daste­hen, erho­be­nen Haup­tes, sich weder Wind noch Regen beu­gen. Sie tra­gen ihre Kro­nen zu Recht, dach­te ich dann, sie sind die wah­ren Köni­ge, die Köni­ge der Welt. Mit dem Zug­fah­ren ver­bin­de ich trotz all des Lärms die ruhigs­ten Momen­te mei­nes Lebens, und obwohl man auf Schie­nen stän­dig unter­wegs ist, war es ein Ort, an dem ich ankom­men konn­te, vor allem bei mir selbst. Wenn ich in einem Zug saß, dann fühl­te ich mich glücklich.
Dies­mal ist es anders. Der Wagen ist so voll, dass wir uns gegen­sei­tig auf den Füßen ste­hen. Dies­mal sit­ze ich nicht am Fens­ter, dies­mal kann ich nicht nach drau­ßen sehen, dies­mal bin ich nicht glück­lich. Den­noch stel­le ich mir die Land­schaft vor, die Fel­der und Bäu­me, wie sie alle­samt an mir vor­über­zie­hen oder viel­mehr ich an ihnen, schnell und weit­ge­hend unbe­merkt. Die Bäu­me, sie win­ken mir zu, ver­beu­gen sich vor mir im Wind, schau­en mir nach, wün­schen mir Glück. Wie­der träu­me ich von einer ande­ren Welt, dies­mal jedoch, weil mir der Glau­be an die­se hier abhan­den­ge­kom­men ist. Ich fürch­te, es wird die letz­te Zug­fahrt mei­nes Lebens sein, nach allem was man hört. Ich bin auf dem Weg zu einem Ort namens Treblinka.

So lan­ge ich zurück­den­ken kann, war ich noch nie­mals rich­tig glück­lich. Es liegt nicht an per­sön­li­chen Eitel­kei­ten, dass es so ist, wie es ist. Mei­ne Kind­heit war erfüllt und ich übte bis vor kur­zem einen ange­se­he­nen Beruf aus, der es mir ermög­lich­te, ein gutes Leben zu füh­ren, zumin­dest mate­ri­ell. Ich bin emo­tio­nal gut aus­ge­gli­chen, wie man es wohl aus­drü­cken wür­de, und kann mich in Lie­bes­din­gen nicht all­zu viel beschwe­ren. Den­noch hat es da in mei­nem Leben schon immer ande­re Ein­flüs­se gege­ben, Inter­fe­ren­zen sozu­sa­gen, Stör­fak­to­ren, die es mir unmög­lich mach­ten, mit die­sem Leben wirk­lich glück­lich zu sein. Es kommt mir vor, als blick­te ich durch trü­bes Glas, das mir den gan­zen schö­nen Aus­blick rui­niert. Ich habe mich hin und wie­der glück­lich gewähnt, doch ich war es nicht. Die Welt, die mich umgibt, drückt wie ein Stein im Schuh, der jeden noch so klei­nen Schritt mit Schmer­zen unter­legt. Es ist der Zustand die­ser Welt, der stö­rend auf mein Leben ein­wirkt, der Stein im Schuh, das trü­be Glas, das die­ses Leben uner­träg­lich wer­den lässt. Jede per­sön­li­che Freu­de wird zur Far­ce, wenn sie von Unglück umge­ben ist. Wie führt man ein gutes Leben in einer schlech­ten Welt?

Ich habe schon vor lan­ger Zeit damit auf­ge­hört, ande­ren Men­schen von mei­nem Unbe­ha­gen zu erzäh­len, denn ihre Ant­wor­ten sind immer gleich: »Das Leben ist kein Wunsch­kon­zert«, sagen sie, oder: »Es ist nun mal so«, sie mei­ßeln Phra­sen in die Welt wie: »Ande­ren geht es viel schlech­ter« und »Nimm’s nicht so schwer«, sie ant­wor­ten nicht ernst­haft, sie geben nur wie­der. Als wür­de das irgend­et­was ändern, stel­len sie Sprü­che in den Raum und wol­len damit Trost spen­den oder abspei­sen, das eine kommt dem ande­ren gleich, denn es sind sinn­lo­se, inhalts­lee­re Sät­ze. »Hau doch ab, wenn es dir hier nicht gefällt«, legen sie mir unmiss­ver­ständ­lich nahe, ein ums ande­re Mal, doch wo ist es bes­ser, fra­ge ich mich dann.

Sie mei­nen, ich müs­se nur end­lich erwach­sen wer­den und mich ein­fach bloß zusam­men­rei­ßen, müs­se begrei­fen, dass all das nor­mal ist, wor­über ich beun­ru­higt bin. Ihnen fällt über­haupt nicht auf, wie oft sie »man muss« und wie sel­ten sie »ich will« ver­wen­den. Sie ver­lan­gen Dis­zi­plin, doch ich möch­te nie­man­des Skla­ve sein, nicht ein­mal mein eige­ner, oder viel­mehr schon gar nicht. Sie wer­fen mir unauf­hör­lich vor, ich käme nicht zurecht mit die­ser Welt. Sie sagen, ich sei depres­siv und krank, als wäre es ein Aus­druck der geis­ti­gen Gesund­heit, an kran­ke Ver­hält­nis­se gut ange­passt zu sein. Sie möch­ten mich behan­deln, mich nor­ma­li­sie­ren, mich wie­der ein­glie­dern in die­se Welt, mit der ich mei­nen Frie­den schlie­ßen soll, doch wenn sie Frie­den sagen, mei­nen sie bloß Kapi­tu­la­ti­on. Sie wol­len, dass ich ver­leug­ne, wie ich mich wirk­lich füh­le, sie möch­ten mein Unbe­ha­gen in einen Kas­ten sper­ren und die­sen dann irgend­wo ver­sen­ken, auf dass er für immer ver­schwun­den bleibt. Sie drän­gen mich dazu, mein inne­res Leben auf­zu­ge­ben, um am äuße­ren zu par­ti­zi­pie­ren. Ich soll es jenen recht machen, die mich als Men­schen negie­ren. Aber bin ich wirk­lich krank? Bin ich krank, weil ich aus dem her­aus­fal­le, was sie allen Erns­tes als nor­mal bezeichnen?

Es gilt als Aus­druck von Nor­ma­li­tät, sich bereit­wil­lig in eine Gesell­schaft ein­zu­fü­gen, die sys­te­ma­tisch ihre Grund­la­gen zer­stört und die sich um das Wohl­erge­hen ihrer Insas­sen nicht son­der­lich schert. Es ist nor­mal, dass wir mehr Geld und Krea­ti­vi­tät in Waf­fen oder gegen­sei­ti­ge Abschre­ckung inves­tie­ren als in Bil­dung und Kul­tur, weil wir uns so sehr bemü­hen, das Gegen­ein­an­der zu opti­mie­ren, wäh­rend das Für­ein­an­der brach­liegt. Es ist nor­mal, dass die­je­ni­gen, die Krie­ge vom Zaun bre­chen und ihre Mit­men­schen wie wert­lo­sen Dreck behan­deln, als Mäch­ti­ge in den Par­la­men­ten und Auf­sichts­rä­ten sit­zen, in unse­ren Regie­run­gen und wich­ti­gen Ent­schei­dungs­gre­mi­en. Wir sto­ßen uns nicht dar­an, dass Wis­sen aus wirt­schaft­li­chen Grün­den unter Ver­schluss gehal­ten wird, anstatt es zum Woh­le der All­ge­mein­heit offen zur Ver­fü­gung zu stel­len, und wir neh­men es anstands­los hin, uns Geset­zen beu­gen zu müs­sen, von denen nur weni­ge pro­fi­tie­ren, weil wir es anders nie­mals ken­nen­ge­lernt haben. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, auch nur ansatz­wei­se von Ver­schwen­dung zu reden, wenn so vie­le der klügs­ten Köp­fe ihre kost­ba­re Zeit damit ver­brin­gen, nutz­lo­se Din­ge zu ver­kau­fen, die weder benö­tigt noch begehrt wer­den, in Beru­fen, die jeden Tag aufs Neue dazu bei­tra­gen, die Welt ein klei­nes biss­chen destruk­ti­ver zu gestal­ten. Es ist uns egal, dass die einen ster­ben, wäh­rend die ande­ren an die­sem Tod ver­die­nen, so wie wir uns auch gleich­mü­tig dar­an gewöhnt haben, Nah­rung zu uns zu neh­men, die uns ver­gif­tet und lang­sam umbringt, solan­ge das für den Her­stel­ler bedeu­tet, ein wenig güns­ti­ger pro­du­zie­ren zu können.

Unser gesam­tes Leben, unse­re Plä­ne und noch die sehn­suchts­volls­ten Träu­me unter­wer­fen wir einem stän­di­gen Zwang, dem sich alles bedin­gungs­los unter­zu­ord­nen hat, doch es stellt für uns kei­ner­lei Wider­spruch dar, wenn wir die­se tota­le Dis­zi­pli­nie­rung dann als höchs­te Form der Unab­hän­gig­keit begrei­fen, als Aus­druck eines selbst­be­stimm­ten Daseins. Wir neh­men sinn­lo­se, see­len­zer­mür­ben­de Jobs an, die wir has­sen und in denen wir uns auf­rei­ben, weil es für uns nichts Unge­wöhn­li­ches ist, dass nur die­je­ni­gen über­le­ben dür­fen, die auch bereit sind, dafür zu arbei­ten, wäh­rend Tau­sen­de täg­lich ver­hun­gern, die ein­fach nur zu arm sind, um sich ihre Mahl­zei­ten über­haupt leis­ten zu kön­nen. Wir defi­nie­ren uns so ehr­gei­zig über die will­kür­lich fest­ge­leg­ten Zah­len, die am Ende des Monats auf unse­rem Kon­to vor­zu­fin­den sind, dass es für uns nicht wirk­lich besorg­nis­er­re­gend ist, wenn eine Hand­voll Men­schen mehr besit­zen kön­nen als der gan­ze gro­ße Rest der Welt; eine Welt, in der ein Leben nur so viel wert ist, wie es erwirt­schaf­ten kann. Zufrie­den­heit, Freu­de und Glück wer­den abhän­gig gemacht von objek­ti­vis­ti­schen Kate­go­rien: mehr haben, mehr kön­nen, mehr sein als ande­re, in einer quan­ti­fi­zier­ba­ren Art und Wei­se, sich dadurch schließ­lich bes­ser, grö­ßer, mäch­ti­ger zu füh­len als sie, wird zum Maß­stab der eige­nen Per­sön­lich­keit, zum Sinn­ge­ber in einer glo­ba­len Konkurrenz.

Jeden Tag neh­men wir bil­li­gend in Kauf, dass für über­flüs­si­gen Luxus unwi­der­ruf­li­cher Scha­den an Umwelt und Ande­ren ent­steht, ohne auch nur einen ernst­haf­ten Gedan­ken dar­an zu ver­schwen­den, wel­che öko­lo­gi­schen und sozia­len Fol­gen unser Han­deln hat. Es ist all­täg­li­che Rou­ti­ne gewor­den, dass Men­schen ster­ben oder wie schwers­te Ver­bre­cher behan­delt wer­den, bloß weil sie den ver­zwei­fel­ten Ver­such wagen, von einem Stück­chen Land zu einem ande­ren zu gelan­gen. Wir bau­en Zäu­ne um uns her­um, damit uns die ande­ren nicht zu nahe kom­men, wir gren­zen uns ab, schlie­ßen uns ein und haben Angst vor­ein­an­der, aber wir sehen dar­in nichts Außer­ge­wöhn­li­ches, es ist uns kein Grund zur Sor­ge. Die Nor­ma­li­tät die­ser Zustän­de, die für mehr und mehr Men­schen nur noch mit Psy­cho­phar­ma­ka zu ver­kraf­ten sind, beun­ru­higt uns nicht. Die­se gan­ze Kata­stro­phe, die uns jeden Tag umgibt, sie betrifft uns zwar, aber sie berührt uns nicht. Wir gehen teil­nahms­los unse­ren Tages­ge­schäf­ten nach, denn das alles ent­hält für uns kei­ne Bot­schaft, außer jener der Selbst­ver­ständ­lich­keit. Wir wis­sen genau dar­über Bescheid und obwohl wir etwas unter­neh­men könn­ten, ändert sich nichts.

Es gibt noch so vie­les, mit dem ich mich genau­so wenig abfin­den kann und auch nicht abfin­den möch­te, zu vie­les, um es auf­zu­zäh­len, weil es jeden Ver­such einer Auf­zäh­lung spren­gen wür­de; die­se gan­zen Nor­ma­li­tä­ten einer fremd­ar­ti­gen Welt, die für mich nicht nor­mal, noch weni­ger lebens­wert ist.

Seit jeher wird an mich die Erwar­tung her­an­ge­tra­gen, ein Teil des­sen zu wer­den, was mir zuwi­der ist, mich ein­zu­glie­dern in eine Welt, die alle Ein­ge­glie­der­ten ver­schlingt. Viel zu häu­fig litt ich unter Alb­träu­men und bin schweiß­ge­ba­det auf­ge­wacht, noch viel häu­fi­ger habe ich erst gar nicht ein­schla­fen kön­nen, weil ich mir aus­mal­te, wie es mit mei­nem Leben wei­ter­ge­hen wür­de in die­ser Welt: Für den Rest mei­ner Tage müss­te ich so gut wie jeden Mor­gen auf­ste­hen, um mit vor­ge­täusch­ter Frei­wil­lig­keit der glei­chen, unbe­deu­ten­den Beschäf­ti­gung nach­zu­ge­hen, was letz­ten Endes doch bloß heißt, das am Leben zu erhal­ten, was alles Leben­di­ge unter sich erdrückt. Mit etwas Glück hät­te ich am Abend ein paar Stun­den die­ser so genann­ten Frei­zeit, die es mir erlau­ben wür­den, mich von mei­nem Arbeits­tag zu erho­len, so wie man den Sol­da­ten ins Laza­rett bringt, nicht aus Nächs­ten­lie­be, son­dern damit er wie­der kämp­fen kann, also wür­de ich ein wenig ein­kau­fen, fern­se­hen, mich betrin­ken oder was man eben macht in jener Zeit, die noch zum Leben übrig­ge­blie­ben ist, doch in der Regel bloß ver­fliegt, dann gin­ge ich schla­fen und alles begän­ne am nächs­ten Tag von vorn. Macht das ein Leben aus?

Wenn ich ehr­lich mit mir sein möch­te, kann und darf ich das nicht Leben nen­nen, obwohl ich mit die­sem trost­lo­sen Schick­sal noch zu den weni­gen Pri­vi­le­gier­ten auf die­sem Pla­ne­ten gehö­ren wür­de, zu jenen, denen es gut zu gehen hat, weil es dem Groß­teil noch viel schlech­ter geht. Ich reagier­te auf die­se Bedro­hung mit Angst­zu­stän­den und Ner­ven­zu­sam­men­brü­chen, ich war regel­mä­ßig panisch und ich wer­de es noch heu­te, wenn ich mir vor­stel­le, dass ich auf die­se Art in die­ser Welt den Rest mei­nes Daseins ver­brin­gen müss­te, oder wenn schon nicht den Rest, dann wenigs­tens den größ­ten Teil. Mein Leben war von Anfang an ein­ge­teilt, fest­ge­legt, geplant; es war nicht vor­ge­se­hen, dass man mich jemals dazu ange­hört hät­te, was ich denn von alle­dem hal­te, das man mir zumu­ten wür­de. Nie­mand hat je gefragt, ob ich damit glück­lich oder auch nur ein­ver­stan­den bin, weil es nie­man­den interessiert.

All das ist nor­mal. Das sind die Nor­men, an denen ich gemes­sen wer­den soll. »So ist eben das Leben«, wird mir immer wie­der weis­ge­macht, und als ›das Leben‹ bezeich­nen sie eine gewalt­sam auf­recht­erhal­te­ne Ord­nung der Welt. Ich woll­te so nicht leben, will so nicht leben, nicht in die­ser Welt, das ist nicht mein Ent­wurf für ein gelun­ge­nes Dasein. Ich sehe nicht die gerings­te Moti­va­ti­on für den Ver­such, mich als pro­duk­ti­ves Mit­glied in die­se Gesell­schaft ein­zu­glie­dern, und ich habe erst­recht kein Inter­es­se dar­an, mich ein­glie­dern zu las­sen, weil ich mit allem, was sie aus­macht, grund­le­gend unein­ver­stan­den bin. Jeden Tag den­ke ich, ich muss hier raus, muss mich aus die­sem Gefäng­nis irgend­wie befrei­en. Je mehr ich die­se Welt begrei­fe, des­to weni­ger möch­te ich dar­in leben, je mehr ich ihre Abläu­fe ver­ste­he, des­to weni­ger möch­te ich dar­an betei­ligt sein. Wie kann man sich den Zustand der Welt betrach­ten und den­noch glück­lich sein?

Der Wahn­sinn liegt in der Nor­ma­li­tät, die für all die­se Zustän­de gleich­gül­tig in Anspruch genom­men wird. Wir alle tra­gen als Kom­pli­zen dazu bei, mit jedem Tag, an dem wir es hin­neh­men, das Destruk­ti­ve als nor­mal zu begrei­fen, denn die Ord­nung der Welt hält unse­re Köp­fe besetzt. Wir sagen Frei­heit und wir mei­nen damit, uns zwi­schen vor­ge­ge­be­nen Alter­na­ti­ven ent­schei­den zu dür­fen. Wir sagen Sicher­heit und wir haben dabei im Sinn, einen lang­fris­ti­gen Arbeits­platz zu fin­den. Wir sagen Glück und wir stel­len uns dar­un­ter vor, im Lot­to zu gewin­nen oder in einer Prü­fung erfolg­reich zu sein. Unse­re Spra­che und unse­re Sehn­süch­te haben sich den Zwän­gen ange­passt, weil sie uns stän­dig als Nor­ma­li­tä­ten vor­ge­hal­ten wer­den, von Insti­tu­tio­nen, Poli­ti­kern, The­ra­peu­ten, Eltern und letz­ten Endes allen, die immer noch glau­ben, die­se Nor­ma­li­tä­ten sei­en nor­mal. Ich bin nicht krank. Krank ist die­se Welt und was mich dar­an depri­miert, nein, melan­cho­lisch wer­den lässt, das ist die Tat­sa­che, dass den­noch ich es bin, der all­ge­mein für krank gehal­ten wird, weil ich mit die­ser ach so wun­der­ba­ren Welt nicht klar­kom­me, mit ihr auch gar nicht klar­kom­men möch­te. Die objek­ti­ven Zustän­de wer­den nicht bes­ser, bloß weil ich ler­ne, damit umzu­ge­hen; es ist ja gera­de die­ses Klar­kom­men, das dem Bestehen­den zum Fort­be­stand ver­hilft. Wer also hat nun Recht? Wer von uns ist krank? Liegt es an mir, wenn ich mich unbe­hag­lich fühle?

Tag um Tag muss­te ich es mir anhö­ren, immer und immer wie­der: »Hau doch ab« und »Wan­der doch aus«, »Werd end­lich erwach­sen« und »Gewöhn dich dran«, »Reiß dich zusam­men« oder »Bring dich doch um«. Frü­her oder spä­ter fand noch jede Dis­kus­si­on, all die mit Wor­ten geführ­ten Frei­heits­kämp­fe, ihr Ende an die­sem einen Punkt, mit einem die­ser Sät­ze. Jedes Mal, wenn ich Ein­spruch erhob gegen die Nor­ma­li­tä­ten die­ser Welt, wenn ich Beschwer­de führ­te gegen jene Zustän­de, mit denen ich nicht leben will, wenn ich Vor­gän­ge kri­ti­sier­te oder wenn ich Nach­rich­ten las und zum Aus­druck brach­te, dass ich mit dem, was geschieht, nicht ein­ver­stan­den bin, waren die Ant­wor­ten immer gleich, die Phra­sen wie ein­stu­diert. Wie viel Zwang wirkt auf einen Men­schen, um sol­che Sät­ze zu formulieren?

Wäh­rend es frü­her schnell hieß: »Dann geh doch nach drü­ben«, heißt es heu­te: »Dann wan­der doch aus«, oder noch schlim­mer, aber ehr­li­cher: »Dann bring dich doch um«. Ich jedoch hän­ge an mei­nem Leben, ich genie­ße es, so gut es mir die Umstän­de erlau­ben. Ich suche mir Frei­räu­me, Schlupf­lö­cher und Hin­ter­tü­ren, die mir ein wenig Luft zum Atmen bie­ten. Es ist nicht mein Leben, das mir Sor­gen berei­tet, son­dern die Welt um mich her­um, das Kor­sett, in das mein Leben hier gesteckt wer­den soll. Was mich bedrückt, ist nicht das Dasein, weder mei­nes noch all­ge­mein, son­dern viel­mehr der Rah­men, in dem es sich wie­der­fin­den muss, jener Zustand der Welt, in den es sich anstands­los ein­zu­bet­ten hat und den ich nicht ver­schul­det habe, es sind die so genann­ten Frei­hei­ten, die mir wie allen ande­ren auf­dring­lich ange­bo­ten wer­den, die aber kei­ne ernst­zu­neh­men­den Frei­hei­ten sind.

Was sagt das über einen Zustand aus, über die­sen Zustand, wenn dir die­je­ni­gen, die ihn so vehe­ment ver­tei­di­gen, als Alter­na­ti­ve nichts wei­ter anzu­bie­ten haben als den Tod? Geh unter oder füge dich, die Wahl ist Kol­laps oder Kol­la­bo­ra­ti­on, also betrach­te ich die­se Men­schen mit einer wach­sen­den Distanz, als wären sie Gehil­fen einer feind­se­li­gen Besat­zungs­macht. Selbst noch, wenn ich ratio­na­le Grün­de prä­sen­tie­re, war­um ich mich in die­se Welt nicht ein­fü­gen möch­te, war­um ich mich an ihren Abläu­fen nicht betei­li­gen will, wer­de ich des unver­nünf­ti­gen Ver­hal­tens beschul­digt, als hät­te man den Maß­stab ein­fach umge­kehrt. »Reiß dich zusam­men«, lau­tet das dau­ern­de Dik­tat, und sie begrei­fen den Befehl als Tugend, wie sie das wohl auch dem Schnor­rer in der Fuß­gän­ger­zo­ne ant­wor­ten wür­den, der sie bloß nach etwas Klein­geld fragt, doch wenn der sich letzt­lich für Ver­wei­ge­rung und gegen Kapi­tu­la­ti­on ent­schei­det, so ist mir des­sen Kon­se­quenz alle­mal sym­pa­thi­scher als der erho­be­ne Zei­ge­fin­ger der­je­ni­gen, die mir erzäh­len wol­len, das Pro­blem sei eine Fra­ge mei­ner eige­nen Befind­lich­keit. Ich füh­le mich ein­sam, wenn ich unter sol­chen Men­schen bin. Kraft Geburt erhielt ich das Recht, ich selbst zu sein, doch seit­dem wird es mir auf die­se Art verwehrt.

Mit jedem zusätz­li­chen Wort lie­ßen mich die­se und ähn­li­che Ant­wor­ten ein klei­nes biss­chen unglück­li­cher wer­den, bis ich mich schließ­lich auf die Suche nach etwas Ande­rem begab, nach einem schö­ne­ren und glück­li­che­ren Leben in einer schö­ne­ren und glück­li­che­ren Welt. Trotz all des Hohns und der stän­di­gen Ent­mu­ti­gun­gen habe ich etwas Bes­se­res gefun­den als den Tod, etwas Hoff­nungs­vol­le­res als Kapi­tu­la­ti­on. Etwas, das sich all jene, die mir der­ar­ti­ge Ant­wor­ten geben oder so genann­te Rat­schlä­ge ertei­len, nie­mals hät­ten träu­men las­sen. Etwas, das sogar ich selbst vor weni­gen Mona­ten noch für nahe­zu unmög­lich gehal­ten hät­te. Ohne viel Gepäck ver­schwand ich eines ganz nor­ma­len Tages aus dem, was ich bis dahin mein Leben genannt hat­te, ich ging fort, ohne gro­ße Rei­se­plä­ne zu schmie­den, und ließ ein für alle Mal zurück, was mich schon viel zu lan­ge unglück­lich gemacht hat­te. Ich fand einen Ort, an dem die Men­schen anders sind, Men­schen, denen es ähn­lich geht wie mir. Ich schloss mich ihnen an, hier fand ich mei­ne Heimat.

Wo ich nun lebe, gibt es kei­ne Armut, weil jeder ein­zel­ne von uns im Reich­tum schwimmt, denn wir haben uns gegen­sei­tig und alles Not­wen­di­ge, das man zum Leben wirk­lich braucht. Es gibt kei­ne zwei­hun­dert Fern­seh­pro­gram­me, kei­ne teu­ren Sport­wa­gen und kei­ne gol­de­nen Was­ser­häh­ne, dafür aber Soli­da­ri­tät, Ver­trau­en und Frei­heit; kei­nen mate­ri­el­len Über­fluss, jedoch auch kei­nen Ver­zicht. Wir haben hier kein Geld, kein Gehalt, weil wir es nicht brau­chen, und wir beu­gen uns kei­nen Herr­schern, weil wir nicht län­ger Beherrsch­te sein möch­ten. Wir ken­nen kei­ne Arbeits­lo­sig­keit, kei­nen Ter­ro­ris­mus und kei­ne Para­noia. Nie­mand wird zu sei­nem Tun gezwun­gen, kei­ner muss sich einem ande­ren irgend­wie unter­ord­nen, es gibt weder Chefs noch Hier­ar­chien, es wer­den kei­ne Befeh­le gege­ben und kein Gehor­sam ver­langt. Wir sind Glei­che unter Glei­chen. Es exis­tiert kein Mili­tär, kei­ne Poli­zei, nie­mand baut Mau­ern und Zäu­ne um sich her­um. Wir gehen auf­ein­an­der zu, anstatt uns gegen­sei­tig die Schä­del ein­zu­schla­gen, tref­fen Ent­schei­dun­gen, indem wir alle gleich­be­rech­tigt dar­in ein­be­zie­hen, wir haben Mit­ge­fühl und zei­gen den gebüh­ren­den Respekt, sowohl im Umgang mit­ein­an­der als auch gegen­über dem, was uns umgibt. Wir neh­men uns so viel wir brau­chen, aber wir zer­stö­ren nicht, wir beu­ten nicht aus, weder uns selbst noch das, wovon wir leben. Das Unwohl­sein über die Nor­ma­li­tä­ten jener Welt, die wir alle­samt zurück­lie­ßen, die Dis­kre­panz zwi­schen Sehn­sucht und Wirk­lich­keit, die­se Span­nung zwi­schen dem, was ist, und den eige­nen Gefüh­len, wird hier nicht als Krank­heit emp­fun­den. Hier bin ich glück­lich. Hier. Endlich.

„Wir ste­hen vor einem Rät­sel“, erklär­te der jun­ge Arzt im Kreis sei­ner Kol­le­gen. „Kein Wort, kei­ne ein­zi­ge Reak­ti­on. Seit Mona­ten ist er in die­sem Zustand, obwohl wir kei­ne neu­ro­lo­gi­sche Ursa­che fest­stel­len kön­nen. Im Gegen­teil. Die Akti­vi­tät in sei­nem Gehirn ist bemerkenswert.“