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„Als Vermittlungsglied zwischen der Position oder Stellung innerhalb des sozialen Raumes und spezifischen Praktiken, Vorlieben, usw. fungiert das, was ich »Habitus« nenne, das ist eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt“ (Bourdieu, 1992b, S. 31).

Der Begriff »Habitus« findet nicht nur in der sozialwissenschaftlichen Forschung, sondern auch im alltäglichen Sprachgebrauch rege Verwendung. Doch was genau ist eigentlich darunter zu verstehen? Wie hängen Handlungen, Sprach- und Kleidungsstil, Gestik und Gedanken von der Stellung im sozialen Gefüge ab und warum? Wie funktioniert Gesellschaft und ist der Einzelne Opfer der äußeren Umstände oder deren Erzeuger? Mögliche Antworten auf diese und ähnliche Fragen liefert Pierre Bourdieus Habituskonzept, das den zuvor schon gebräuchlichen »Habitus«-Begriff aufgegriffen, diesen folglich nicht erfunden, aber zu einer eigenen Theorie entwickelt hat (zur Entstehungsgeschichte vgl. beispielsweise Bourdieu 2000 oder Krais/Gebauer 2002).

Das von Bourdieu ausgearbeitete Habituskonzept beschreibt ein System von Grenzen und Möglichkeiten im Verhalten von Menschen, das ein System von Wahrnehmungs- und Urteilsschemata und dabei „gleichzeitig ein System von Schemata der Produktion von Praktiken und ein System von Schemata der Wahrnehmung und Bewertung der Praktiken“ (Bourdieu 1992a, S. 144) ist. Als solches System der Grenzen und Möglichkeiten im Verhalten bringt der Habitus bestimmte Formen des Geschmacks – der durchaus auch körperlich zu verstehen ist – sowie des Lebensstils hervor: „wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Bekannte und Freunde er hat usw. – all das ist eng miteinander verknüpft“ (Bourdieu 1992b, S. 32). Dieser individuelle Geschmack, diese Vorlieben und Handlungs- sowie Denkschemata, also die gesamten Habitusstrukturen eines Akteurs, sind dabei abhängig von der jeweiligen sozialen Situation, in der sich ein Akteur wiederfindet, d.h. von dessen Position im sozialen Raum und der Ausstattung mit ökonomischem wie kulturellem Kapital. Wer in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen ist, wird sich in der Regel anders verhalten als ein Kind aus einer Manager- oder Künstlerfamilie, um nur einige recht gegensätzliche Positionen des sozialen Spektrums heranzuziehen. Aufgrund des jeweiligen Sozialisationsmilieus wird der Mensch einen anderen Geschmack entwickeln, sowohl in Hinblick auf Kleidung, Speisen, Ästhetik und allgemeine Lebensführung, er wird andere Freizeitbeschäftigungen bevorzugen, eine andere Sprache gebrauchen, einen anderen Eindruck der Welt aufweisen, andere Zukunftswünsche hegen und einen anderen Freundeskreis entwickeln, der ihm als soziales Kapital dienen kann. Über die eng mit der sozialen Lage verknüpften Erfahrungen, vor allem jene der selbstverständlichen Verfügbarkeit verschiedener Kapitalarten oder im Gegenteil deren Mangel, begründet sich folglich der individuelle Habitus, der dabei zugleich auch eine Ableitung eines generalisierten Habitus einer bestimmten sozialen Lage ist, weil Akteure unter ähnlichen sozialen Bedingungen in der Regel auch ähnliche Habitus ausbilden, da sie kollektive Erfahrungen gemein haben: „Wer in der Wohlhabenheit, in ökonomischem und kulturellem Reichtum, in der damit gegebenen Sicherheit und Freiheit aufgewachsen ist, entwickelt nicht nur einen anderen Geschmack, sondern auch ein anderes Verhältnis zur Welt als jemand, der von frühester Kindheit an mit Not und Notwendigkeit (…) konfrontiert war“ (Krais/Gebauer 2002, S. 43). Die mit der individuellen sozialen Lage verbundenen ungleichen Sozialisationserfahrungen führen dabei zu unterschiedlichen Denkschemata des jeweiligen Akteurs, zu „Grenzen seines Hirns, die er nicht überschreiten kann“, weswegen „für ihn bestimmte Dinge einfach undenkbar“ (Bourdieu 1992b, S. 33) sind, sodass der einzelne Akteur „eher abhängig von Bedingungen und Zufällen als von eigenen Entscheidungen und Plänen [ist] – bzw. genauer: sich auch in seinen Entscheidungen und Plänen an den ihm je zugänglichen Möglichkeitsräumen“ (Liebau 2009, S. 49) orientiert.

Das Habituskonzept erklärt das Zustandekommen menschlicher Dispositionen, Verhaltensweisen und Geschmäcker mit einer doppelten Geschichtlichkeit, die im jeweiligen individuellen Habitus inkorporiert, also einverleibt wird. Dies ist zum einen die persönliche Geschichte, auch Erfahrung genannt, und zum anderen die Geschichte der gesellschaftlichen Wirklichkeit, vermittelt über die persönliche Geschichte, was bedeutet, dass „Lernprozesse nicht anders denn als Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der Welt begriffen werden“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61) können. Diese Inkorporierung der doppelten Geschichtlichkeit – die tatsächlich auch im wörtlichen Sinne körperlich stattfindet, sich also beispielsweise in Haltung, Sprechweise, Geschmack und Gestik manifestiert – erzeugt innerhalb derjenigen sozialen Verhältnisse, die diesen Habitus (aus)bilden, das Gefühl von Selbstverständlichkeit und gegenseitigem Verstehen beim Handeln, da die im Habitus inkorporierte soziale Wirklichkeit mit der umgebenden sozialen Wirklichkeit übereinstimmt, denn „[d]ie soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure“ (Bourdieu & Wacquant 1996, S. 161). Eine gesellschaftliche Klasse beispielsweise als konkrete Form ähnlicher sozialer Verhältnisse ist „untrennbar zugleich eine Klasse von biologischen Individuen mit demselben Habitus als einem System von Dispositionen, das alle miteinander gemein haben, die dieselben Konditionierungen durchgemacht haben“ (Bourdieu 1987a, S. 112). Der individuelle Habitus stellt dabei eine Variante, eine Teilmenge eines solchen Klassenhabitus dar, „das heißt, das Individuum hat wesentliche Elemente seines Habitus mit dem seiner Klassengenossen gemeinsam“ (Krais/Gebauer 2002, S. 37; vgl. Liebau 2009), da sie durch ähnliche Existenzbedingungen geprägt wurden und weiterhin geprägt werden (vgl. Bourdieu 2011b), wobei der individuelle Habitus die grundlegenden Strukturen und Dispositionen des Klassenhabitus beinhaltet, aber aufgrund der Vielfältigkeit möglicher Lebenserfahrungen und sozialer Stellungen sowie der damit einhergehenden Besonderheit der spezifischen persönlichen Lebensläufe individuell verschieden ist: „[J]edes System individueller Dispositionen ist eine strukturale Variante der anderen Systeme, in der die Einzigartigkeit der Stellung innerhalb der Klasse und des Lebenslaufs zum Ausdruck kommt“ (Bourdieu 1987a, S. 113). Dieses Prinzip der strukturalen Variante eines grundlegenden Gruppenhabitus kann analog für das analytische Konstrukt objektiver sozialer Milieus herangezogen werden, sofern deren Akteure jeweils unter ähnlichen Existenzbedingungen leben und entsprechende Erfahrungen durchlaufen haben.

Entsprechend lassen sich schematisch drei grundlegende Habitusstrukturen identifizieren, die unterschiedlichen Positionen im sozialen Raum zugeordnet werden können, nämlich zum einen der Habitus der Distinktion, der Habitus des Strebens sowie der Habitus der Not(wendigkeit) (vgl. Hartmann 2004, S. 90; Bourdieu 1992b).

In den unteren Milieus lässt sich aufgrund fehlender ökonomischer Ressourcen und einer entsprechend eingeschränkten Zukunftssicherheit vor allem der Habitus der Not vorfinden, auch als ‚praktischer Materialismus‘ bezeichnet, der aus der Not geboren, infolgedessen daran angepasst und auf das Hier und Jetzt ausrichtet ist, auf das „Gegenwärtigsein im Gegenwärtigen“ (Bourdieu 1982, S. 297; vgl. Krais/Gebauer 2002): „Aus der Not heraus entsteht ein Not-Geschmack, der eine Art Anpassung an den Mangel einschließt und damit ein Sich-in-das-Notwendige-fügen, ein Resignieren vorm Unausweichlichen“ (Bourdieu 1982, S. 585).

Demgegenüber ist in den kleinbürgerlichen Milieus der Mitte der Habitus des Strebens vorherrschend. Er ist auf Aufstieg fokussiert und daher in Kontrast zum Habitus der Not nicht auf den Augenblick, sondern vielmehr auf die Zukunft ausgerichtet, was gegenwärtigen Verzicht bis hin zur Askese zugunsten zukünftiger Erträge und Befriedigungen im Sinne der Realisierung der Aufstiegsaspirationen einschließt. Der im Vergleich mit den oberen Milieus relative Mangel an Ressourcen wird durch Habitusdispositionen wie Ehrgeiz zu kompensieren versucht: „[V]erhältnismäßig arm an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, kann sie [die kleinbürgerliche Mittelschicht; MM] ihre ›Ansprüche‹ nur ›nachweisen‹ und sich damit Aussichten auf deren Realisierung eröffnen, wenn sie bereit ist, dafür durch Opfer, Verzicht, Entsagung, Eifer, Dankbarkeit — kurz: durch Tugend zu zahlen“ (Bourdieu 1982, S. 528). Dies führt sowohl zu oftmals sehr bemühten und daher unsicheren Anknüpfungsversuchen an die Praxen oberer Milieus als auch zu Abgrenzungsbestrebungen gegenüber unteren sozialen Lagen.

Der Habitus der Distinktion wiederum ist in der Regel den Milieus der Oberschicht vorbehalten. Er ist geprägt durch und prägt seinerseits die herrschende Kultur, was sich in strikter Abgrenzung und entsprechendem Abstand nach unten manifestiert (vgl. Bourdieu 1992b, S. 39). Im Gegensatz zu den Anknüpfungsbemühungen der mittleren Milieus, die gerade durch ihr Streben nach Zugehörigkeit zur herrschenden Kultur ihre Nichtzugehörigkeit offenbaren, zeichnen sich die Habitus der oberen Milieus durch eine Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit im Umgang mit Hoch- bzw. legitimer Kultur aus: „Diese Souveränität, die den spielerischen Umgang mit den gültigen Regeln beinhaltet, macht die entscheidende Differenz aus zwischen denen, die dazu gehören, und denen, die nur dazugehören möchten“ (Hartmann 2004, S. 142). Distinktion entsteht hier nicht durch Distinktionsbemühen, sondern – in Anlehnung an die soziale Magie der symbolischen Wirksamkeit dieses selbstverständlichen Verhaltens – ‚automagisch‘ durch den Umstand, dass „man nicht auf Distinktion, auf Sich-unterscheiden-wollen aus ist: die ›wirklich distinguierten‹ Leute sind die, die sich nicht darum kümmern, es zu sein“ (Bourdieu 1989, S. 18), da ihr Habitus milieuspezifisch-selbstverständliche Praxen hervorbringt, die ohne bewusstes Abgrenzungsbemühen des Akteurs Distinktion bewirken.

Ein Akteur handelt folglich innerhalb jener sozialen Verhältnisse, die seinem Habitus entsprechen und dessen Strukturen strukturier(t)en, innerhalb seines Milieus oder seiner Klasse vollkommen intuitiv und generativ kreativ gemäß der entsprechenden Logik der gesellschaftlichen Praxis und kann sich ohne bewussten Rückgriff auf bestimmte Regeln oder Normen „wie ein Fisch im Wasser“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 161) in dieser Umgebung bewegen, auf die er objektiv abgestimmt ist, ohne dass jedoch eine explizite Absprache oder direkte Interaktion zwischen den Akteuren (vgl. Bourdieu 1987a, S. 109) noch eine subjektive Zweckausrichtung stattfände: „Dies kann in dem Gefühl zum Ausdruck kommen, genau »am richtigen Platz« zu sein, genau das zu tun, was man zu tun hat, und es auf glückliche Weise – im objektiven wie im subjektiven Sinne – zu tun oder in der resignierten Überzeugung, nichts anderes tun zu können, auch eine freilich weniger glückliche Weise, sich für das, was man tut, geschaffen zu fühlen“ (Bourdieu 2011a, S. 31f). Der jeweilige Akteur als Inhaber eines bestimmten Habitus fühlt sich demzufolge gemäß einer Art „sense of one’s place“ (Goffman zitiert nach Bourdieu 1992a, S. 141) in einer Umwelt am besten aufgehoben und zugehörig, die in ihrem kollektiven Habitus am ehesten seinem individuellen Habitus entspricht, d.h. der Habitus „bewirkt, daß man hat, was man mag, weil man mag, was man hat“ (Bourdieu 1982, S. 286) — „einen Umstand, den Bourdieu auch als »amor fati« bezeichnet, als Wahl oder Annehmen des Schicksals“ (Krais/Gebauer 2002, 43). Durch dieses Gespür für den »richtigen« Platz, die damit verbundene Akzeptanz des eigenen »Schicksals« und die unbewusste »Wahl« einer dem persönlichen Habitus entsprechenden Umwelt „schützt sich der Habitus vor Krisen und kritischer Befragung, indem er sich ein Milieu schafft, an das er so weit wie möglich vorangepaßt ist, also eine relativ konstante Welt von Situationen, die geeignet sind, seine Dispositionen dadurch zu verstärken, daß sie seinen Erzeugnissen den aufnahmebereitesten Markt bieten“ (Bourdieu 1987a, S. 114). Es wird dadurch ein sozialer Zusammenhang hergestellt, der unbewusst verbindet, d.h. „[d]er soziale Zusammenhalt wird immer wieder gestiftet durch die Wahlverwandtschaften, die sich aus einem gemeinsamen Habitus und Geschmack ergeben und die sich in (…) Handlungsgemeinschaften verkörpern“ (Vester et al. 2001, S. 169).

Das Habituskonzept und darauf aufbauende Konzepte begreifen „die Individuen weder als bloße Objekte vorgegebener objektiver Strukturen noch als völlig freie Subjekte, sondern in der Wechselwirkung ihrer Beziehungen, in denen sie beides sind“ (Vester et al. 2001, S. 150). Gleichzeitig wird das Individuum als ein von Geburt an vergesellschafteter Akteur betrachtet, womit das Habituskonzept die künstliche Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft überwindet: „Man wird nicht Mitglied einer Gesellschaft, sondern ist es von Geburt an (…) und von Geburt an befindet man sich in einer aktiven Auseinandersetzung mit der Welt“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61). Auf diese Weise wird eine Brücke zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Strukturalismus und Konstruktivismus geschlagen, die eine gegenseitige Beeinflussung bedingt sowie die unbewusste und objektiv aufeinander abgestimmt erscheinende Verhaltensgrundlage für das völlig selbstverständliche und angepasste Interagieren zwischen Akteuren mit mehr oder weniger homogenen Habitus erlaubt, die auf ebenso mehr oder weniger homogenen Existenzbedingungen basieren. Der Habitus ist demzufolge strukturierte und strukturierende Struktur zugleich, die „konstant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 154), denn „[m]it dem Habitus sind wir in der Welt und haben die Welt in uns“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61) — während »die Welt in uns«, verstanden als weitgehend selbstverständliche Inkorporierung der doppelten Geschichtlichkeit, die Strukturen des Habitus strukturiert, mit dem wir in der Welt sind, also „zur Ausbildung einer situationsangepassten Rationalität, eines praktischen Sinns [führt], der ‚weiß‘, was in welcher Situation zu tun und was zu lassen ist“ (Liebau 2009, S. 47), strukturiert der Habitus wiederum auf dieser Grundlage das Handeln und damit letztlich die gesellschaftliche Welt. Mittels der strukturierten und strukturierenden Struktur des Habitus erklärt sich, wie Gesellschaft überhaupt zustande kommt, ohne dass sämtliche beteiligte Akteure bewusst oder zielgerichtet auf das Herstellen einer gesellschaftlichen Ordnung oder das gesellschaftliche Funktionieren an sich hinarbeiten, wie Gesellschaft demnach ganz beiläufig entsteht, indem die Akteure ihren alltäglichen Handlungen nachgehen und damit „ununterbrochen dazu bei[tragen], die soziale Struktur zu reproduzieren“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 174), denn der Habitus stellt

„strukturierte Strukturen [dar], die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von Zwecken (…) vorauszusetzen, die objektiv »geregelt« und »regelmäßig« sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein“ (Bourdieu 1987a, S. 98).

Der Habitus wird allgemein durch die gesellschaftlichen Bedingungen und im Speziellen durch eine bestimmte, individuelle Komposition objektiv-realer Existenzbedingungen sowie entsprechender Sozialisationserfahrungen geformt und formt seinerseits wiederum die Gesellschaft, wobei er „jener Verkettung von »Zügen« zugrunde [liegt], die objektiv wie Strategien organisiert sind, ohne das Ergebnis einer echten strategischen Absicht zu sein“ (ebd., S. 116).

Die vom Habitus hervorgebrachten Handlungen sind demzufolge nicht „intellektuellozentrisch“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 153) als rein rationale Strategien zu verstehen, denen eine exakte Bewertung von Erfolgschancen zugrunde liegt, sondern funktionieren „nach einer dem lebenden Organismus eigenen, das heißt nach einer systematischen, flexiblen, nicht mechanistischen Logik“ (Krais/Gebauer 2002, S. 34), die aufgrund der Prägung des Akteurs die objektiv unwahrscheinlichsten Praktiken als undenkbare aussortiert (vgl. Bourdieu 1987a, S. 100), womit der scharfen Trennung zwischen Körper und Geist sowie der Vorstellung vom Körper als lediglich passivem Speicher der Erfahrungen widersprochen wird, da der Körper vielmehr „als aktives [und soziales; MM] ›Ding‹ bei der Erzeugung jener spontanen, immer wieder variierten und kreativ neu erfundenen Akte der Individuen“ (Krais/Gebauer 2002, S. 34; vgl. Kalthoff 2004) auftritt: „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen“ (Bourdieu 1987b, S. 127).

In den Habitus gehen die Denk- und Sichtweisen, die Wahrnehmung, Weltanschauung etc. einer Gesellschaft bzw. einer gesellschaftlichen Lage ein, werden somit zur zweiten Natur des Akteurs, der nun aufgrund dieser Inkorporierung der sozialen Verhältnisse vollkommen selbstverständlich gemäß diesen handelt und dadurch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die seinen Habitus hervorgebracht haben, wiederum reproduziert. Sowohl die persönliche als auch die gesellschaftliche Vergangenheit wirken in ihm in der Gegenwart fort und bestimmen sein Verhalten, allerdings „um den Preis des Vergessens“ (Krais 2004, S. 91) seiner Entstehung aus bestimmten sozialen Verhältnissen. Das Äußere der gesellschaftlichen Verhältnisse wird dementsprechend inkorporiert und zum Inneren, zum Körper gewordenen Sozialen (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 161), und reproduziert auf die Weise des Veräußerlichens dieses Inneren wiederum objektive gesellschaftliche Strukturen. In einer sozialen Umwelt, die mit dem persönlichen Habitus der Akteure übereinstimmt, werden diese aufgrund der in ihrem Habitus inkorporierten Erfahrung rein intuitiv handeln und müssen in einer für sie neuen Situation nicht erst bewusst darüber nachdenken, was nun zu tun sei.

Je nach sozialer Lage bieten sich den einzelnen Akteuren unzählige Zukunftsmöglichkeiten, allerdings mit unterschiedlicher Eintritts- oder Realisierungswahrscheinlichkeit, d.h. „die Vielzahl möglicher Welten [ist] zu jedem Zeitpunkt durch die jeweils wirkliche Welt, durch die gegebenen sozialen Verhältnisse begrenzt“ (Krais/Gebauer 2002, S. 46), so wie es für manche soziale Gruppen wahrscheinlicher ist als für andere, beispielsweise sozial aufzusteigen oder eine Studienlaufbahn einzuschlagen. Über den Habitus und die darin inkorporierten Erfahrungen, die die sozialen Wahrscheinlichkeiten und damit auch die eigene wahrscheinliche Zukunft miteinschließen, richten die Akteure schließlich ihre Handlungen auf diejenige Zukunft aus, die objektiv am wahrscheinlichsten ist, und lassen sie dadurch in einer Art „Kausalität des Wahrscheinlichen“ (ebd.) Wirklichkeit werden, denn „[a]uch wenn [die sozialen Determinanten] nicht bewußt wahrgenommen werden, zwingen sie den einzelnen, sich nach ihnen, das heißt nach der objektiven Zukunft der betreffenden gesellschaftlichen Klasse auszurichten“ (Bourdieu/Passeron 1971, S. 44). Der individuelle Habitus leistet also innerhalb homologer gesellschaftlicher Verhältnisse auch die Vorwegnahme und gleichzeitige Herbeiführung einer wahrscheinlichen Zukunft, da die Handlungen und unbewussten Strategien des Habitus „stets die objektiven Strukturen zu reproduzieren trachten, aus denen sie hervorgegangen sind“ (Bourdieu 1987a, S. 114). Die wahrscheinliche Zukunft kann über den Habitus aus Erfahrung, „d.h. durch die bereits eingetretene Zukunft früherer Praktiken“ (ebd.), als eben solche antizipiert werden, weil die im Habitus inkorporierte Geschichtlichkeit oder Erfahrung mit den Bedingungen und der Geschichtlichkeit der sozialen Verhältnisse übereinstimmt, woraus sich eine Selbstverständlichkeit des Handelns ergibt.

Diese Selbstverständlichkeit des Handelns geht jedoch verloren, sobald die sozialen Verhältnisse nicht länger dem Habitus eines Akteurs entsprechen, sprich wenn die in den sozialen Institutionen objektivierte Geschichtlichkeit nicht länger mit der inkorporierten Geschichtlichkeit übereinstimmt, denn die bestehende Strukturierung des Habitus „schließt aus, dass er alles verarbeitet, was in der Welt ist“, also „nur Dinge aufnehmen und einbauen kann, für die er bereits eine Art ›Ankopplungsstelle‹ hat“ (Krais/Gebauer 2002, S. 64). Findet sich ein Akteur in einem sozialen Umfeld mit hochgradig abweichenden sozialen Bedingungen vor, entspricht seine einverleibte Geschichte oder Erfahrung nicht länger der institutionalisierten Geschichte seiner Umgebung, sein persönlicher Habitus entspricht also nicht länger den sozialen Verhältnissen und zeichnet sich durch eine Trägheit aus, da er für die Gegebenheiten der neuen sozialen Umwelt kaum Ankopplungsstellen aufweist. Da der Habitus zwar durchaus veränderbar ist und die ihm zugrunde liegende Inkorporierung ein Leben lang stattfindet (vgl. Krais/Gebauer 2002), er aber stets von seiner ursprünglichen Strukturierung durch die Primärsozialisation in einer Art anhaftendem »Stallgeruch« geprägt bleiben wird, tritt auf, was Bourdieu als hysteresis-Effekt bezeichnet (vgl. Bourdieu 1982, S. 238f), nämlich eine Trägheit des Habitus, der nun in einer völlig neuen Situation unter anderen sozialen Bedingungen nicht mehr angemessen ist, infolgedessen der Akteur sich nicht länger angemessen verhalten kann: „Seinen Habitus, der ja die persönliche und soziale Identität eines Individuums ausmacht, kann man nun, wenn sich die individuellen Lebensverhältnisse verändern, nicht einfach wechseln wie ein Kleid“ (Krais/Gebauer 2002, S. 46). Über längere Zeit wird sich der Habitus des Akteurs den neuen sozialen Verhältnissen zwar annähern, seinen »Stallgeruch« der Primärsozialisation durch das vorhergehende Milieu allerdings nicht vollständig ablegen können (vgl. Bourdieu 2000; Hartmann 2004, S. 92f; Krais 2004, S. 99f).

Zentral ist für Bourdieu die selbstverständliche Komplizenschaft zwischen Individuum und sozialen Verhältnissen oder Institutionen, die auch gesellschaftliche Zwänge darstellen können und in der Regel solche sind: „Wir sind über diesen Habitus (…) immer versucht, Komplizen der Zwänge zu sein, die auf uns wirken, mit unserer eigenen Beherrschung zu kollaborieren“ (Bourdieu 2001a, S. 166). Diese Komplizenschaft zwischen Akteur und den ihn umgebenden Strukturen wird durch eine entsprechende Sozialisation innerhalb dieser Strukturen, also durch den jeweiligen Habitus hergestellt, der es den Akteuren erlaubt, gesellschaftliche „Institutionen zu bewohnen (habiter)“ (Bourdieu 1987a, S.107). Dies bedeutet, dass jene objektiven Strukturen nur Bestand haben können, indem sie in den Akteuren wirken und von diesen verinnerlicht, bewohnt, angeeignet werden, die sie dadurch wiederum reproduzieren; folglich wird die „objektivierte, instituierte Geschichte nur dann geschichtliche Aktion, d.h. aktivierte, aktive Geschichte, wenn sie von Akteuren aufgenommen wird, die ihre eigene Geschichte dazu prädisponiert, sie auf sich zu nehmen“ (Bourdieu 2011a, S. 27). So können gesellschaftliche Strukturen wie z.B. Staat oder Schule nur funktionieren, indem die Akteure in gewisser Weise an sie glauben (vgl. praktischer Glaube und praktischer Sinn in Bourdieu 1987b), durch Sozialisation in diesen Strukturen deren Funktionsweise inkorporieren und über Habitus und praktischen Sinn mit ihnen in Komplizenschaft treten. Alle betreffenden Akteure teilen daher den ihnen habituell inkorporierten Glauben an die institutionellen Strukturen, was sich in der Anerkennung dieser Strukturen und der entsprechenden Teilnahme manifestiert, wobei sich dieses Teilnehmen allerdings nicht bewusst mit einer strukturfunktionalistischen Absicht vollzieht, sondern aufgrund der entsprechenden Habitus völlig selbstverständlich, intuitiv und größtenteils unbewusst, so wie man beispielsweise seine Kinder ganz selbstverständlich auf die Schule schickt. Auf diese Weise werden Praktiken und Regelmäßigkeiten der gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen im Habitus der Individuen verankert, was ihnen das Bewohnen dieser gesellschaftlichen Strukturen ermöglicht, aber aufgrund der selbstverständlichen habituellen Verinnerlichung der sozialen Ordnung auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse reproduziert. Durch diese Betonung der habituellen Komplizenschaft wird zudem deutlich, dass per se keine antagonistische Gegenüberstellung zwischen Individuum und Gesellschaft besteht und nicht Gesellschaft an sich als Zwang gegenüber den Individuen auftritt, sondern bestimmte Praktiken, Ordnungen, Strukturen, Institutionen und letztlich der eigene, vorwiegend unbewusste Glaube daran: „Nicht Gesellschaft als solche ist eine ›Zumutung‹, problematisch ist vielmehr Herrschaft. Und Herrschaft tritt nicht einfach von außen an das Individuum heran, sie ist, über den Habitus, immer auch in das Individuum selbst eingelagert“ (Krais/Gebauer 2002, S. 79).

Eine Absage etwa an gesellschaftliche Zwänge kann sich also nicht auf die objektiv erkennbaren Strukturen beschränken, sondern muss beim Subjekt beginnen, das diese objektiven Strukturen durch seinen Habitus, durch seine subjektiven Strukturen, reproduziert. Dies erfordert zunächst das Erkennen der Selbstverständlichkeit, mit der aufgrund der Inkorporierung der doppelten Geschichtlichkeit und – darin enthalten – der gesellschaftlichen Denk- und Sichtweisen gehandelt wird, und damit das Erkennen der Grenzen des eigenen Habitus. Bourdieu leistet genau dies, indem er den „Mechanismus der kulturellen Reproduktion“ offen nachzeichnet und in Entgegnung auf den Vorwurf des Determinismus erklärt, „daß die Intention der Aufdeckung gesellschaftlicher Zwänge emanzipatorisch ist. Das heißt nichts anderes, als daß man – getreu der alten Regel – auf die Welt nur einzuwirken vermag, wenn man sie kennt: Jeder neue Bestimmungsfaktor, der erkannt wird, eröffnet einen weiteren Freiheitsspielraum“ (Bourdieu 1992b, S. 46).

Ein solcher Freiheitsspielraum gegenüber den gesellschaftlichen Zwängen, die als unhinterfragte Notwendigkeiten in den sozialen Gebilden und Denkschemata wirken, kann demzufolge nur durch ihr Erkennen hergestellt werden (das nicht mit Anerkennung gleichzusetzen ist), denn „[d]ie wissenschaftliche Erkenntnis der Notwendigkeit schließt die Möglichkeit einer Aktion ein, die darauf abzielt, sie zu neutralisieren, und mithin eine mögliche Freiheit, während das Nichterkennen der Notwendigkeit deren Anerkennung in uneingeschränkter Form impliziert: Solange das Gesetz unerkannt ist, erscheint das Resultat des laisser-faire, des Komplizen des Wahrscheinlichen [somit das, was gemäß dieses unerkannten Gesetzes scheinbar »einfach so« passiert, was nicht hinterfragt und was als selbstverständlich erachtet wird; MM], als Schicksal, sobald es erkannt ist, als Gewalt“ (Bourdieu 2011a, S. 53f).


Literatur:

  1. Bourdieu, Pierre (1982). Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M: Suhrkamp.
  2. Bourdieu, Pierre (1987a). Strukturen, Habitusformen, Praktiken. In: Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn (S. 97-121). Frankfurt/M: Suhrkamp.
  3. Bourdieu, Pierre (1987b). Glaube und Leib. In Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn (S. 122-146). Frankfurt/M: Suhrkamp.
  4. Bourdieu, Pierre (1989). Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen. Berlin: Wagenbach.
  5. Bourdieu, Pierre (1992a). Sozialer Raum und symbolische Macht. In Pierre Bourdieu, Rede und Antwort (S. 135-154). Frankfurt/M: Suhrkamp.
  6. Bourdieu, Pierre (1992b). Die feinen Unterschiede (Interview). In Pierre Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht (S. 31-47). Hamburg: VSA-Verlag.
  7. Bourdieu, Pierre (2000). Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel der algerischen Übergangsgesellschaft. Konstanz: UVK.
  8. Bourdieu, Pierre (2001). Habitus, Herrschaft und Freiheit. In Pierre Bourdieu, Wie die Kultur zum Bauern kommt (S. 162-173). Hamburg: VSA-Verlag.
  9. Bourdieu, Pierre (2011a). Der Tote packt den Lebenden. In Pierre Bourdieu, Der Tote packt den Lebenden (Neuauflage) (S. 17-54). Hamburg: VSA-Verlag.
  10. Bourdieu, Pierre (2011b). Wie eine soziale Klasse entsteht. In Pierre Bourdieu, Der Tote packt den Lebenden (Neuauflage) (S. 97-122). Hamburg: VSA-Verlag.
  11. Bourdieu, Pierre / Jean-Claude Passeron (1971). Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart: Klett.
  12. Bourdieu, Pierre / Loïc Wacquant (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  13. Hartmann, Michael (2004). Elitesoziologie. Frankfurt/M: Campus.
  14. Kalthoff, Herbert (2004). Schule als Performanz. In Steffani Engler & Beate Krais (Hrsg.), Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen (S. 115-140). Weinheim und München: Juventa.
  15. Krais, Beate (2004). Habitus und soziale Praxis. In Margarete Steinrücke (Hrsg.), Pierre Bourdieu. Politisches Forschen, Denken und Eingreifen (S. 91-106). Hamburg: VSA-Verlag.
  16. Krais, Beate / Gunter Gebauer (2002). Habitus. Bielefeld: transcript.
  17. Liebau, Eckart (2009). Der Störenfried. Warum Pädagogen Bourdieu nicht mögen. In Barbara Friebertshäuser, Markus Rieger-Ladich, Lothar Wigger (Hrsg.), Reflexive Erziehungswissenschaft (2. Auflage) (S. 41-58). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  18. Vester, Michael, Peter von Oertzen, Heiko Geiling, Thomas Hermann, & Dagmar Müller (2001). Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Die symbolische Macht ist eine Macht, die in dem Maße existiert, wie es ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Anerkennung zu verschaffen; d.h. eine (ökonomische, politische, kulturelle oder andere) Macht, die die Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür verkennen zu lassen. (…) Die sozialen Akteure und auch die Beherrschten selbst sind in der sozialen Welt (selbst der abstoßendsten und empörendsten) durch eine Beziehung hingenommener Komplizenschaft verbunden, die bewirkt, daß bestimmte Aspekte dieser Welt stets jenseits oder diesseits kritischer Infragestellung stehen.

Was ist schließlich ein Papst, ein Präsident oder ein Generalsekretär anderes als jemand, der sich für einen Papst oder einen Generalsekretär oder genauer: für die Kirche, den Staat, die Partei oder die Nation hält? Das einzige, was ihn von der Figur in der Komödie oder vom Größenwahnsinnigen unterscheidet, ist, daß man ihn im allgemeinen ernst nimmt und ihm damit das Recht auf diese Art von »legitimem Schwindel«, wie Austin sagt, zuerkennt. Glauben Sie mir, die Welt so betrachtet, d.h. so wie sie ist, ist ziemlich komisch. Aber man hat ja oft gesagt, daß das Komische und das Tragische sich berühren.
(Pierre Bourdieu – Die verborgenen Mechanismen der Macht enthüllen, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)

Noch die inhumansten Arbeits- und Lebensbedingungen können als sinnhaft und attraktiv erlebt werden durch das stillschweigende Einverständnis von Menschen, die durch inhumane Existenzbedingungen darauf vorbereitet worden sind, sie zu akzeptieren.
(Margarete Steinrücke, in: Pierre Bourdieu – Der Tote packt den Lebenden)

So lange ich zurückdenken kann, war ich noch niemals richtig glücklich. Es liegt nicht an persönlichen Eitelkeiten, dass es so ist, wie es ist. Meine Kindheit war erfüllt und ich übte bis vor kurzem einen angesehenen Beruf aus, der es mir ermöglichte, ein gutes Leben zu führen, zumindest materiell. Ich bin emotional gut ausgeglichen, wie man es wohl ausdrücken würde, und kann mich in Liebesdingen nicht allzu viel beschweren. Dennoch hat es da in meinem Leben schon immer andere Einflüsse gegeben, Interferenzen sozusagen, Störfaktoren, die es mir unmöglich machten, mit diesem Leben wirklich glücklich zu sein. Es kommt mir vor, als blickte ich durch trübes Glas, das mir den ganzen schönen Ausblick ruiniert. Ich habe mich hin und wieder glücklich gewähnt, doch ich war es nicht. Die Welt, die mich umgibt, drückt wie ein Stein im Schuh, der jeden noch so kleinen Schritt mit Schmerzen unterlegt. Es ist der Zustand dieser Welt, der störend auf mein Leben einwirkt, der Stein im Schuh, das trübe Glas, das dieses Leben unerträglich werden lässt. Jede persönliche Freude wird zur Farce, wenn sie von Unglück umgeben ist. Wie führt man ein gutes Leben in einer schlechten Welt?

Ich habe schon vor langer Zeit damit aufgehört, anderen Menschen von meinem Unbehagen zu erzählen, denn ihre Antworten sind immer gleich: »Das Leben ist kein Wunschkonzert«, sagen sie, oder: »Es ist nun mal so«, sie meißeln Phrasen in die Welt wie: »Anderen geht es viel schlechter« und »Nimm’s nicht so schwer«, sie antworten nicht ernsthaft, sie geben nur wieder. Als würde das irgendetwas ändern, stellen sie Sprüche in den Raum und wollen damit Trost spenden oder abspeisen, das eine kommt dem anderen gleich, denn es sind sinnlose, inhaltsleere Sätze. »Hau doch ab, wenn es dir hier nicht gefällt«, legen sie mir unmissverständlich nahe, ein ums andere Mal, doch wo ist es besser, frage ich mich dann.

Sie meinen, ich müsse nur endlich erwachsen werden und mich einfach bloß zusammenreißen, müsse begreifen, dass all das normal ist, worüber ich beunruhigt bin. Ihnen fällt überhaupt nicht auf, wie oft sie »man muss« und wie selten sie »ich will« verwenden. Sie verlangen Disziplin, doch ich möchte niemandes Sklave sein, nicht einmal mein eigener, oder vielmehr schon gar nicht. Sie werfen mir unaufhörlich vor, ich käme nicht zurecht mit dieser Welt. Sie sagen, ich sei depressiv und krank, als wäre es ein Ausdruck der geistigen Gesundheit, an kranke Verhältnisse gut angepasst zu sein. Sie möchten mich behandeln, mich normalisieren, mich wieder eingliedern in diese Welt, mit der ich meinen Frieden schließen soll, doch wenn sie Frieden sagen, meinen sie bloß Kapitulation. Sie wollen, dass ich verleugne, wie ich mich wirklich fühle, sie möchten mein Unbehagen in einen Kasten sperren und diesen dann irgendwo versenken, auf dass er für immer verschwunden bleibt. Sie drängen mich dazu, mein inneres Leben aufzugeben, um am äußeren zu partizipieren. Ich soll es jenen recht machen, die mich als Menschen negieren. Aber bin ich wirklich krank? Bin ich krank, weil ich aus dem herausfalle, was sie allen Ernstes als normal bezeichnen?

Es gilt als Ausdruck von Normalität, sich bereitwillig in eine Gesellschaft einzufügen, die systematisch ihre Grundlagen zerstört und die sich um das Wohlergehen ihrer Insassen nicht sonderlich schert. Es ist normal, dass wir mehr Geld und Kreativität in Waffen oder gegenseitige Abschreckung investieren als in Bildung und Kultur, weil wir uns so sehr bemühen, das Gegeneinander zu optimieren, während das Füreinander brachliegt. Es ist normal, dass diejenigen, die Kriege vom Zaun brechen und ihre Mitmenschen wie wertlosen Dreck behandeln, als Mächtige in den Parlamenten und Aufsichtsräten sitzen, in unseren Regierungen und wichtigen Entscheidungsgremien. Wir stoßen uns nicht daran, dass Wissen aus wirtschaftlichen Gründen unter Verschluss gehalten wird, anstatt es zum Wohle der Allgemeinheit offen zur Verfügung zu stellen, und wir nehmen es anstandslos hin, uns Gesetzen beugen zu müssen, von denen nur wenige profitieren, weil wir es anders niemals kennengelernt haben. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, auch nur ansatzweise von Verschwendung zu reden, wenn so viele der klügsten Köpfe ihre kostbare Zeit damit verbringen, nutzlose Dinge zu verkaufen, die weder benötigt noch begehrt werden, in Berufen, die jeden Tag aufs Neue dazu beitragen, die Welt ein kleines bisschen destruktiver zu gestalten. Es ist uns egal, dass die einen sterben, während die anderen an diesem Tod verdienen, so wie wir uns auch gleichmütig daran gewöhnt haben, Nahrung zu uns zu nehmen, die uns vergiftet und langsam umbringt, solange das für den Hersteller bedeutet, ein wenig günstiger produzieren zu können.

Unser gesamtes Leben, unsere Pläne und noch die sehnsuchtsvollsten Träume unterwerfen wir einem ständigen Zwang, dem sich alles bedingungslos unterzuordnen hat, doch es stellt für uns keinerlei Widerspruch dar, wenn wir diese totale Disziplinierung dann als höchste Form der Unabhängigkeit begreifen, als Ausdruck eines selbstbestimmten Daseins. Wir nehmen sinnlose, seelenzermürbende Jobs an, die wir hassen und in denen wir uns aufreiben, weil es für uns nichts Ungewöhnliches ist, dass nur diejenigen überleben dürfen, die auch bereit sind, dafür zu arbeiten, während Tausende täglich verhungern, die einfach nur zu arm sind, um sich ihre Mahlzeiten überhaupt leisten zu können. Wir definieren uns so ehrgeizig über die willkürlich festgelegten Zahlen, die am Ende des Monats auf unserem Konto vorzufinden sind, dass es für uns nicht wirklich besorgniserregend ist, wenn eine Handvoll Menschen mehr besitzen können als der ganze große Rest der Welt; eine Welt, in der ein Leben nur so viel wert ist, wie es erwirtschaften kann. Zufriedenheit, Freude und Glück werden abhängig gemacht von objektivistischen Kategorien: mehr haben, mehr können, mehr sein als andere, in einer quantifizierbaren Art und Weise, sich dadurch schließlich besser, größer, mächtiger zu fühlen als sie, wird zum Maßstab der eigenen Persönlichkeit, zum Sinngeber in einer globalen Konkurrenz.

Jeden Tag nehmen wir billigend in Kauf, dass für überflüssigen Luxus unwiderruflicher Schaden an Umwelt und Anderen entsteht, ohne auch nur einen ernsthaften Gedanken daran zu verschwenden, welche ökologischen und sozialen Folgen unser Handeln hat. Es ist alltägliche Routine geworden, dass Menschen sterben oder wie schwerste Verbrecher behandelt werden, bloß weil sie den verzweifelten Versuch wagen, von einem Stückchen Land zu einem anderen zu gelangen. Wir bauen Zäune um uns herum, damit uns die anderen nicht zu nahe kommen, wir grenzen uns ab, schließen uns ein und haben Angst voreinander, aber wir sehen darin nichts Außergewöhnliches, es ist uns kein Grund zur Sorge. Die Normalität dieser Zustände, die für mehr und mehr Menschen nur noch mit Psychopharmaka zu verkraften sind, beunruhigt uns nicht. Diese ganze Katastrophe, die uns jeden Tag umgibt, sie betrifft uns zwar, aber sie berührt uns nicht. Wir gehen teilnahmslos unseren Tagesgeschäften nach, denn das alles enthält für uns keine Botschaft, außer jener der Selbstverständlichkeit. Wir wissen genau darüber Bescheid und obwohl wir etwas unternehmen könnten, ändert sich nichts.

Es gibt noch so vieles, mit dem ich mich genauso wenig abfinden kann und auch nicht abfinden möchte, zu vieles, um es aufzuzählen, weil es jeden Versuch einer Aufzählung sprengen würde; diese ganzen Normalitäten einer fremdartigen Welt, die für mich nicht normal, noch weniger lebenswert ist.

Seit jeher wird an mich die Erwartung herangetragen, ein Teil dessen zu werden, was mir zuwider ist, mich einzugliedern in eine Welt, die alle Eingegliederten verschlingt. Viel zu häufig litt ich unter Albträumen und bin schweißgebadet aufgewacht, noch viel häufiger habe ich erst gar nicht einschlafen können, weil ich mir ausmalte, wie es mit meinem Leben weitergehen würde in dieser Welt: Für den Rest meiner Tage müsste ich so gut wie jeden Morgen aufstehen, um mit vorgetäuschter Freiwilligkeit der gleichen, unbedeutenden Beschäftigung nachzugehen, was letzten Endes doch bloß heißt, das am Leben zu erhalten, was alles Lebendige unter sich erdrückt. Mit etwas Glück hätte ich am Abend ein paar Stunden dieser so genannten Freizeit, die es mir erlauben würden, mich von meinem Arbeitstag zu erholen, so wie man den Soldaten ins Lazarett bringt, nicht aus Nächstenliebe, sondern damit er wieder kämpfen kann, also würde ich ein wenig einkaufen, fernsehen, mich betrinken oder was man eben macht in jener Zeit, die noch zum Leben übriggeblieben ist, doch in der Regel bloß verfliegt, dann ginge ich schlafen und alles begänne am nächsten Tag von vorn. Macht das ein Leben aus?

Wenn ich ehrlich mit mir sein möchte, kann und darf ich das nicht Leben nennen, obwohl ich mit diesem trostlosen Schicksal noch zu den wenigen Privilegierten auf diesem Planeten gehören würde, zu jenen, denen es gut zu gehen hat, weil es dem Großteil noch viel schlechter geht. Ich reagierte auf diese Bedrohung mit Angstzuständen und Nervenzusammenbrüchen, ich war regelmäßig panisch und ich werde es noch heute, wenn ich mir vorstelle, dass ich auf diese Art in dieser Welt den Rest meines Daseins verbringen müsste, oder wenn schon nicht den Rest, dann wenigstens den größten Teil. Mein Leben war von Anfang an eingeteilt, festgelegt, geplant; es war nicht vorgesehen, dass man mich jemals dazu angehört hätte, was ich denn von alledem halte, das man mir zumuten würde. Niemand hat je gefragt, ob ich damit glücklich oder auch nur einverstanden bin, weil es niemanden interessiert.

All das ist normal. Das sind die Normen, an denen ich gemessen werden soll. »So ist eben das Leben«, wird mir immer wieder weisgemacht, und als ›das Leben‹ bezeichnen sie eine gewaltsam aufrechterhaltene Ordnung der Welt. Ich wollte so nicht leben, will so nicht leben, nicht in dieser Welt, das ist nicht mein Entwurf für ein gelungenes Dasein. Ich sehe nicht die geringste Motivation für den Versuch, mich als produktives Mitglied in diese Gesellschaft einzugliedern, und ich habe erstrecht kein Interesse daran, mich eingliedern zu lassen, weil ich mit allem, was sie ausmacht, grundlegend uneinverstanden bin. Jeden Tag denke ich, ich muss hier raus, muss mich aus diesem Gefängnis irgendwie befreien. Je mehr ich diese Welt begreife, desto weniger möchte ich darin leben, je mehr ich ihre Abläufe verstehe, desto weniger möchte ich daran beteiligt sein. Wie kann man sich den Zustand der Welt betrachten und dennoch glücklich sein?

Der Wahnsinn liegt in der Normalität, die für all diese Zustände gleichgültig in Anspruch genommen wird. Wir alle tragen als Komplizen dazu bei, mit jedem Tag, an dem wir es hinnehmen, das Destruktive als normal zu begreifen, denn die Ordnung der Welt hält unsere Köpfe besetzt. Wir sagen Freiheit und wir meinen damit, uns zwischen vorgegebenen Alternativen entscheiden zu dürfen. Wir sagen Sicherheit und wir haben dabei im Sinn, einen langfristigen Arbeitsplatz zu finden. Wir sagen Glück und wir stellen uns darunter vor, im Lotto zu gewinnen oder in einer Prüfung erfolgreich zu sein. Unsere Sprache und unsere Sehnsüchte haben sich den Zwängen angepasst, weil sie uns ständig als Normalitäten vorgehalten werden, von Institutionen, Politikern, Therapeuten, Eltern und letzten Endes allen, die immer noch glauben, diese Normalitäten seien normal. Ich bin nicht krank. Krank ist diese Welt und was mich daran deprimiert, nein, melancholisch werden lässt, das ist die Tatsache, dass dennoch ich es bin, der allgemein für krank gehalten wird, weil ich mit dieser ach so wunderbaren Welt nicht klarkomme, mit ihr auch gar nicht klarkommen möchte. Die objektiven Zustände werden nicht besser, bloß weil ich lerne, damit umzugehen; es ist ja gerade dieses Klarkommen, das dem Bestehenden zum Fortbestand verhilft. Wer also hat nun Recht? Wer von uns ist krank? Liegt es an mir, wenn ich mich unbehaglich fühle?

Tag um Tag musste ich es mir anhören, immer und immer wieder: »Hau doch ab« und »Wander doch aus«, »Werd endlich erwachsen« und »Gewöhn dich dran«, »Reiß dich zusammen« oder »Bring dich doch um«. Früher oder später fand noch jede Diskussion, all die mit Worten geführten Freiheitskämpfe, ihr Ende an diesem einen Punkt, mit einem dieser Sätze. Jedes Mal, wenn ich Einspruch erhob gegen die Normalitäten dieser Welt, wenn ich Beschwerde führte gegen jene Zustände, mit denen ich nicht leben will, wenn ich Vorgänge kritisierte oder wenn ich Nachrichten las und zum Ausdruck brachte, dass ich mit dem, was geschieht, nicht einverstanden bin, waren die Antworten immer gleich, die Phrasen wie einstudiert. Wie viel Zwang wirkt auf einen Menschen, um solche Sätze zu formulieren?

Während es früher schnell hieß: »Dann geh doch nach drüben«, heißt es heute: »Dann wander doch aus«, oder noch schlimmer, aber ehrlicher: »Dann bring dich doch um«. Ich jedoch hänge an meinem Leben, ich genieße es, so gut es mir die Umstände erlauben. Ich suche mir Freiräume, Schlupflöcher und Hintertüren, die mir ein wenig Luft zum Atmen bieten. Es ist nicht mein Leben, das mir Sorgen bereitet, sondern die Welt um mich herum, das Korsett, in das mein Leben hier gesteckt werden soll. Was mich bedrückt, ist nicht das Dasein, weder meines noch allgemein, sondern vielmehr der Rahmen, in dem es sich wiederfinden muss, jener Zustand der Welt, in den es sich anstandslos einzubetten hat und den ich nicht verschuldet habe, es sind die so genannten Freiheiten, die mir wie allen anderen aufdringlich angeboten werden, die aber keine ernstzunehmenden Freiheiten sind.

Was sagt das über einen Zustand aus, über diesen Zustand, wenn dir diejenigen, die ihn so vehement verteidigen, als Alternative nichts weiter anzubieten haben als den Tod? Geh unter oder füge dich, die Wahl ist Kollaps oder Kollaboration, also betrachte ich diese Menschen mit einer wachsenden Distanz, als wären sie Gehilfen einer feindseligen Besatzungsmacht. Selbst noch, wenn ich rationale Gründe präsentiere, warum ich mich in diese Welt nicht einfügen möchte, warum ich mich an ihren Abläufen nicht beteiligen will, werde ich des unvernünftigen Verhaltens beschuldigt, als hätte man den Maßstab einfach umgekehrt. »Reiß dich zusammen«, lautet das dauernde Diktat, und sie begreifen den Befehl als Tugend, wie sie das wohl auch dem Schnorrer in der Fußgängerzone antworten würden, der sie bloß nach etwas Kleingeld fragt, doch wenn der sich letztlich für Verweigerung und gegen Kapitulation entscheidet, so ist mir dessen Konsequenz allemal sympathischer als der erhobene Zeigefinger derjenigen, die mir erzählen wollen, das Problem sei eine Frage meiner eigenen Befindlichkeit. Ich fühle mich einsam, wenn ich unter solchen Menschen bin. Kraft Geburt erhielt ich das Recht, ich selbst zu sein, doch seitdem wird es mir auf diese Art verwehrt.

Mit jedem zusätzlichen Wort ließen mich diese und ähnliche Antworten ein kleines bisschen unglücklicher werden, bis ich mich schließlich auf die Suche nach etwas Anderem begab, nach einem schöneren und glücklicheren Leben in einer schöneren und glücklicheren Welt. Trotz all des Hohns und der ständigen Entmutigungen habe ich etwas Besseres gefunden als den Tod, etwas Hoffnungsvolleres als Kapitulation. Etwas, das sich all jene, die mir derartige Antworten geben oder so genannte Ratschläge erteilen, niemals hätten träumen lassen. Etwas, das sogar ich selbst vor wenigen Monaten noch für nahezu unmöglich gehalten hätte. Ohne viel Gepäck verschwand ich eines ganz normalen Tages aus dem, was ich bis dahin mein Leben genannt hatte, ich ging fort, ohne große Reisepläne zu schmieden, und ließ ein für alle Mal zurück, was mich schon viel zu lange unglücklich gemacht hatte. Ich fand einen Ort, an dem die Menschen anders sind, Menschen, denen es ähnlich geht wie mir. Ich schloss mich ihnen an, hier fand ich meine Heimat.

Wo ich nun lebe, gibt es keine Armut, weil jeder einzelne von uns im Reichtum schwimmt, denn wir haben uns gegenseitig und alles Notwendige, das man zum Leben wirklich braucht. Es gibt keine zweihundert Fernsehprogramme, keine teuren Sportwagen und keine goldenen Wasserhähne, dafür aber Solidarität, Vertrauen und Freiheit; keinen materiellen Überfluss, jedoch auch keinen Verzicht. Wir haben hier kein Geld, kein Gehalt, weil wir es nicht brauchen, und wir beugen uns keinen Herrschern, weil wir nicht länger Beherrschte sein möchten. Wir kennen keine Arbeitslosigkeit, keinen Terrorismus und keine Paranoia. Niemand wird zu seinem Tun gezwungen, keiner muss sich einem anderen irgendwie unterordnen, es gibt weder Chefs noch Hierarchien, es werden keine Befehle gegeben und kein Gehorsam verlangt. Wir sind Gleiche unter Gleichen. Es existiert kein Militär, keine Polizei, niemand baut Mauern und Zäune um sich herum. Wir gehen aufeinander zu, anstatt uns gegenseitig die Schädel einzuschlagen, treffen Entscheidungen, indem wir alle gleichberechtigt darin einbeziehen, wir haben Mitgefühl und zeigen den gebührenden Respekt, sowohl im Umgang miteinander als auch gegenüber dem, was uns umgibt. Wir nehmen uns so viel wir brauchen, aber wir zerstören nicht, wir beuten nicht aus, weder uns selbst noch das, wovon wir leben. Das Unwohlsein über die Normalitäten jener Welt, die wir allesamt zurückließen, die Diskrepanz zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit, diese Spannung zwischen dem, was ist, und den eigenen Gefühlen, wird hier nicht als Krankheit empfunden. Hier bin ich glücklich. Hier. Endlich.

„Wir stehen vor einem Rätsel“, erklärte der junge Arzt im Kreis seiner Kollegen. „Kein Wort, keine einzige Reaktion. Seit Monaten ist er in diesem Zustand, obwohl wir keine neurologische Ursache feststellen können. Im Gegenteil. Die Aktivität in seinem Gehirn ist bemerkenswert.“

Betrachtet man die Entwicklungsdynamik von Bildungssystemen, dann drängt sich die Vermutung auf, dass die Schule selbst sozial selektiv auf die Sozialisationspraktiken einwirkt und systematisch die Praktiken bestimmter Bevölkerungsgruppen abwertet. Sie entwickelt formale Leistungskriterien, die sich als unfähig erweisen, die Differenz milieuspezifischer Erfahrungen und Befähigungen zu erkennen, sondern ganz im Gegenteil einer unflexiblen und notwendig diskriminierenden Defizitlogik verhaftet bleiben. Gemessen wird daher nicht das Können, sondern die Abweichung des Könnens von den politisch gesetzten Leistungsstandards. Eine solche Bewertungslogik dient nicht der Bildung des einzelnen, sondern allein der Selektion Heranwachsender. Diese Bewertungslogik entfaltet ihre verheerende Wirkung auf die Betroffenen nicht nur dadurch, dass sie den Heranwachsenden bestimmte Optionen der Entwicklung bzw. der Entfaltung ihrer Persönlichkeit vorenthält. Mehr noch: Die Schüler werden im Hinblick auf ihre je eigene Leistungsfähigkeit und in der Wertschätzung ihrer Person systematisch abgewertet, degradiert und damit zu quasi-pathologischen Fällen einer Gesellschaft, die am Wohlergehen ihrer Kinder oftmals nur dann ein Interesse zu haben scheint, wenn diese aus „gutem“ Hause kommen.
(Matthias Grundmann – Handlungsbefähigung und Milieu)

Was Psychiatrie und Psychologie als Geisteskrankheit vorführen, ist an die Vorstellung gebunden, daß es sich dabei um zunehmenden Realitätsverlust handelt. Mehr oder weniger Realitätsbezug – danach wird alles menschliche Verhalten klassifiziert. »Realität« wird dabei ausschließlich als äußere Realität verstanden.
In der Tat ist der Realitätsbezug – sein Fehlen oder der Grad der Ergebenheit an die äußere Realität – ein Raster, in das man Menschen einordnen kann und das uns ermöglicht, eine Klassifizierung vorzunehmen vom psychotischen Verhalten über die Neurose zur Normalität. Doch ein solches Schema verdeckt, daß es auch noch eine andere Art von Krankheit gibt, die viel gefährlicher ist als die, die vom Verlust des Realitätsbezugs gekennzeichnet ist.
Diese andere Art von Krankheit zu sehen erfordert einen Wechsel der Blickrichtung und eine Abkehr von den herkömmlichen Kategorien. Dann wird man sehen, daß sich hinter der Orientierung an der »Realität«, die gemeinhin das Kriterium für Gesundheit ist, eine tiefere und weniger augenfällige Pathologie verbirgt: die des »normalen« Verhaltens, die Pathologie der Anpassung als Folge der Preisgabe des Selbst.
(Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität)

Das symbolische Kapital besteht aus einem beliebigen Merkmal, Körperkraft, Reichtum, Kampferprobtheit, das wie eine echte magische Kraft symbolische Wirkung entfaltet, sobald es von sozialen Akteuren wahrgenommen wird, die über die zum Wahrnehmen, Erkennen und Anerkennen dieser Eigenschaft nötigen Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien verfügen: Ein Merkmal, das, weil es auf sozial geschaffene »kollektive Erwartungen« trifft, auf Glauben, eine Art Fernwirkung ausübt, die keines Körperkontakts bedarf. Man gibt einen Befehl, und es wird ihm gehorcht: Dies ist ein zutiefst magischer Akt. (…) Damit der symbolische Akt eine derartige, ohne sichtbare Verausgabung von Energie erzielte magische Wirkung ausüben kann, muß ihm eine oft unsichtbare und jedenfalls vergessene, verdrängte Arbeit vorangegangen sein und bei den Adressaten dieses Erzwingungs- und Befehlsaktes diejenigen Dispositionen erzeugt haben, deren es bedarf, damit sie, ohne daß sich ihnen die Frage des Gehorsams überhaupt stellte, das Gefühl haben, gehorchen zu müssen. Die symbolische Gewalt ist jene Gewalt, die, indem sie sich auf die »kollektiven Erwartungen« stützt, auf einen sozial begründeten und verinnerlichten Glauben, Unterwerfungen erpreßt, die als solche gar nicht wahrgenommen werden.
(Pierre Bourdieu – Die Ökonomie der symbolischen Güter, in: Praktische Vernunft)

An dieser Stelle ist es nötig, etwas zur soziologischen Sicht des menschlichen Seins zu sagen. Kriminalität wird zum Beispiel als eine Folge der Armut gesehen. Doch dies erklärt nicht, warum die Mehrheit nicht kriminell wird. Daraus wiederum kann man aber nicht schlußfolgern, Armut hätte keinen Zusammenhang mit Kriminalität. Man kommt nicht umhin, einiges zu differenzieren. Wenn ein Hungriger stiehlt, handelt er nicht aus Habgier; und wenn er dabei, ohne es zu wollen, jemanden umbringt, ist es kein vorsätzlicher Mord. Andererseits gehören die Reichen und Mächtigen zu jenen in unserer Gesellschaft, die Kriege anzetteln, die Lebensgrundlage anderer Menschen zerstören, Natur und Menschen vergiften. Sie aber sitzen nicht in den Gefängnissen. Kriminalstatistiken verzeichnen nur deshalb mehr Arme als Reiche, weil solche Statistiken der Ideologie der Reichen und Mächtigen unterliegen und weil sie nicht alle Formen von Destruktivität aufführen.
(Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität)

Wenn vom Klassenkampf die Rede ist, denkt man niemals an seine ganz alltäglichen Formen, an die rücksichtslose gegenseitige Verächtlichmachung, an die Arroganz, an die erdrückenden Prahlereien mit dem »Erfolg« der Kinder, mit den Ferien, mit den Autos oder anderen Prestigeobjekten, an verletzende Gleichgültigkeit, an Beleidigungen usw.: Soziale Verarmung und Vorurteile – letztere sind die traurigsten aller sozialen Leidenschaften – werden in diesen alltäglichen Kämpfen geboren, in denen stets die Würde und die Selbstachtung der beteiligten Menschen auf dem Spiel stehen. Das Leben ändern, das müßte auch heißen, die vielen kleinen Nichtigkeiten zu ändern, die das Leben der Leute ausmachen und die heute gänzlich als Privatangelegenheit angesehen und dem Geschwätz der Moralisten überlassen werden.
Pierre Bourdieu – Politik, Bildung und Sprache, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht

Die Wahrscheinlichkeit einer Handlung oder eines Phänomens zu kennen, kann auch heißen, die Chancen jener Aktionen zu vergrößern, die darauf abzielen, die Realisierung eben dieses Phänomens zu verhindern. Aber das ist nicht alles. Viele soziale Mechanismen sind nur deshalb so wirksam, weil sie verkannt und unterschätzt werden. Das ist zum Beispiel bei den »Mechanismen« der Fall, die die Kinder aus denjenigen Familien, die ökonomisch und kulturell am stärksten benachteiligt sind, aus der Schule herausdrängen: Man beobachtet, wie gerade die Familien, die kulturell benachteiligt und Opfer der sozialen Ungleichheit sind, am stärksten daran glauben, daß Begabung und Tüchtigkeit die einzig ausschlaggebenden Faktoren für den Schulerfolg sind. Man sieht also, daß feine Wissenschaft, die enthüllt und demaskiert – »es gibt nur eine Wissenschaft, und das ist die Wissenschaft vom Verborgenen«, sagt Bachelard – aus sich heraus wichtige Veränderungen bewirken kann. Dies gilt natürlich nur unter der Bedingung, daß die Betroffenen, deren Interesse am stärksten auf diese Veränderungen drängen, auch an diesen wissenschaftlichen Einsichten teilhaben.
(Pierre Bourdieu – Politik, Bildung und Sprache, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)