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„Als Ver­mitt­lungs­glied zwi­schen der Posi­ti­on oder Stel­lung inner­halb des sozia­len Rau­mes und spe­zi­fi­schen Prak­ti­ken, Vor­lie­ben, usw. fun­giert das, was ich »Habi­tus« nen­ne, das ist eine all­ge­mei­ne Grund­hal­tung, eine Dis­po­si­ti­on gegen­über der Welt, die zu sys­te­ma­ti­schen Stel­lung­nah­men führt“ (Bour­dieu, 1992b, S. 31).

Der Begriff »Habi­tus« fin­det nicht nur in der sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen For­schung, son­dern auch im all­täg­li­chen Sprach­ge­brauch rege Ver­wen­dung. Doch was genau ist eigent­lich dar­un­ter zu ver­ste­hen? Wie hän­gen Hand­lun­gen, Sprach- und Klei­dungs­stil, Ges­tik und Gedan­ken von der Stel­lung im sozia­len Gefü­ge ab und war­um? Wie funk­tio­niert Gesell­schaft und ist der Ein­zel­ne Opfer der äuße­ren Umstän­de oder deren Erzeu­ger? Mög­li­che Ant­wor­ten auf die­se und ähn­li­che Fra­gen lie­fert Pierre Bour­dieus Habi­tus­kon­zept, das den zuvor schon gebräuch­li­chen »Habitus«-Begriff auf­ge­grif­fen, die­sen folg­lich nicht erfun­den, aber zu einer eige­nen Theo­rie ent­wi­ckelt hat (zur Ent­ste­hungs­ge­schich­te vgl. bei­spiels­wei­se Bour­dieu 2000 oder Krais/Gebauer 2002).

Das von Bour­dieu aus­ge­ar­bei­te­te Habi­tus­kon­zept beschreibt ein Sys­tem von Gren­zen und Mög­lich­kei­ten im Ver­hal­ten von Men­schen, das ein Sys­tem von Wahr­neh­mungs- und Urteils­sche­ma­ta und dabei „gleich­zei­tig ein Sys­tem von Sche­ma­ta der Pro­duk­ti­on von Prak­ti­ken und ein Sys­tem von Sche­ma­ta der Wahr­neh­mung und Bewer­tung der Prak­ti­ken“ (Bour­dieu 1992a, S. 144) ist. Als sol­ches Sys­tem der Gren­zen und Mög­lich­kei­ten im Ver­hal­ten bringt der Habi­tus bestimm­te For­men des Geschmacks – der durch­aus auch kör­per­lich zu ver­ste­hen ist – sowie des Lebens­stils her­vor: „wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, wel­che Bekann­te und Freun­de er hat usw. – all das ist eng mit­ein­an­der ver­knüpft“ (Bour­dieu 1992b, S. 32). Die­ser indi­vi­du­el­le Geschmack, die­se Vor­lie­ben und Hand­lungs- sowie Denk­sche­ma­ta, also die gesam­ten Habi­tus­struk­tu­ren eines Akteurs, sind dabei abhän­gig von der jewei­li­gen sozia­len Situa­ti­on, in der sich ein Akteur wie­der­fin­det, d.h. von des­sen Posi­ti­on im sozia­len Raum und der Aus­stat­tung mit öko­no­mi­schem wie kul­tu­rel­lem Kapi­tal. Wer in einer Arbei­ter­fa­mi­lie auf­ge­wach­sen ist, wird sich in der Regel anders ver­hal­ten als ein Kind aus einer Mana­ger- oder Künst­ler­fa­mi­lie, um nur eini­ge recht gegen­sätz­li­che Posi­tio­nen des sozia­len Spek­trums her­an­zu­zie­hen. Auf­grund des jewei­li­gen Sozia­li­sa­ti­ons­mi­lieus wird der Mensch einen ande­ren Geschmack ent­wi­ckeln, sowohl in Hin­blick auf Klei­dung, Spei­sen, Ästhe­tik und all­ge­mei­ne Lebens­füh­rung, er wird ande­re Frei­zeit­be­schäf­ti­gun­gen bevor­zu­gen, eine ande­re Spra­che gebrau­chen, einen ande­ren Ein­druck der Welt auf­wei­sen, ande­re Zukunfts­wün­sche hegen und einen ande­ren Freun­des­kreis ent­wi­ckeln, der ihm als sozia­les Kapi­tal die­nen kann. Über die eng mit der sozia­len Lage ver­knüpf­ten Erfah­run­gen, vor allem jene der selbst­ver­ständ­li­chen Ver­füg­bar­keit ver­schie­de­ner Kapi­tal­ar­ten oder im Gegen­teil deren Man­gel, begrün­det sich folg­lich der indi­vi­du­el­le Habi­tus, der dabei zugleich auch eine Ablei­tung eines gene­ra­li­sier­ten Habi­tus einer bestimm­ten sozia­len Lage ist, weil Akteu­re unter ähn­li­chen sozia­len Bedin­gun­gen in der Regel auch ähn­li­che Habi­tus aus­bil­den, da sie kol­lek­ti­ve Erfah­run­gen gemein haben: „Wer in der Wohl­ha­ben­heit, in öko­no­mi­schem und kul­tu­rel­lem Reich­tum, in der damit gege­be­nen Sicher­heit und Frei­heit auf­ge­wach­sen ist, ent­wi­ckelt nicht nur einen ande­ren Geschmack, son­dern auch ein ande­res Ver­hält­nis zur Welt als jemand, der von frü­hes­ter Kind­heit an mit Not und Not­wen­dig­keit (…) kon­fron­tiert war“ (Krais/Gebauer 2002, S. 43). Die mit der indi­vi­du­el­len sozia­len Lage ver­bun­de­nen unglei­chen Sozia­li­sa­ti­ons­er­fah­run­gen füh­ren dabei zu unter­schied­li­chen Denk­sche­ma­ta des jewei­li­gen Akteurs, zu „Gren­zen sei­nes Hirns, die er nicht über­schrei­ten kann“, wes­we­gen „für ihn bestimm­te Din­ge ein­fach undenk­bar“ (Bour­dieu 1992b, S. 33) sind, sodass der ein­zel­ne Akteur „eher abhän­gig von Bedin­gun­gen und Zufäl­len als von eige­nen Ent­schei­dun­gen und Plä­nen [ist] – bzw. genau­er: sich auch in sei­nen Ent­schei­dun­gen und Plä­nen an den ihm je zugäng­li­chen Mög­lich­keits­räu­men“ (Liebau 2009, S. 49) orientiert.

Das Habi­tus­kon­zept erklärt das Zustan­de­kom­men mensch­li­cher Dis­po­si­tio­nen, Ver­hal­tens­wei­sen und Geschmä­cker mit einer dop­pel­ten Geschicht­lich­keit, die im jewei­li­gen indi­vi­du­el­len Habi­tus inkor­po­riert, also ein­ver­leibt wird. Dies ist zum einen die per­sön­li­che Geschich­te, auch Erfah­rung genannt, und zum ande­ren die Geschich­te der gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit, ver­mit­telt über die per­sön­li­che Geschich­te, was bedeu­tet, dass „Lern­pro­zes­se nicht anders denn als Erfah­run­gen in der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Welt begrif­fen wer­den“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61) kön­nen. Die­se Inkor­po­rie­rung der dop­pel­ten Geschicht­lich­keit – die tat­säch­lich auch im wört­li­chen Sin­ne kör­per­lich statt­fin­det, sich also bei­spiels­wei­se in Hal­tung, Sprech­wei­se, Geschmack und Ges­tik mani­fes­tiert – erzeugt inner­halb der­je­ni­gen sozia­len Ver­hält­nis­se, die die­sen Habi­tus (aus)bilden, das Gefühl von Selbst­ver­ständ­lich­keit und gegen­sei­ti­gem Ver­ste­hen beim Han­deln, da die im Habi­tus inkor­po­rier­te sozia­le Wirk­lich­keit mit der umge­ben­den sozia­len Wirk­lich­keit über­ein­stimmt, denn „[d]ie sozia­le Rea­li­tät exis­tiert sozu­sa­gen zwei­mal, in den Sachen und in den Köp­fen, in den Fel­dern und in den Habi­tus, inner­halb und außer­halb der Akteu­re“ (Bour­dieu & Wac­quant 1996, S. 161). Eine gesell­schaft­li­che Klas­se bei­spiels­wei­se als kon­kre­te Form ähn­li­cher sozia­ler Ver­hält­nis­se ist „untrenn­bar zugleich eine Klas­se von bio­lo­gi­schen Indi­vi­du­en mit dem­sel­ben Habi­tus als einem Sys­tem von Dis­po­si­tio­nen, das alle mit­ein­an­der gemein haben, die die­sel­ben Kon­di­tio­nie­run­gen durch­ge­macht haben“ (Bour­dieu 1987a, S. 112). Der indi­vi­du­el­le Habi­tus stellt dabei eine Vari­an­te, eine Teil­men­ge eines sol­chen Klas­sen­ha­bi­tus dar, „das heißt, das Indi­vi­du­um hat wesent­li­che Ele­men­te sei­nes Habi­tus mit dem sei­ner Klas­sen­ge­nos­sen gemein­sam“ (Krais/Gebauer 2002, S. 37; vgl. Liebau 2009), da sie durch ähn­li­che Exis­tenz­be­din­gun­gen geprägt wur­den und wei­ter­hin geprägt wer­den (vgl. Bour­dieu 2011b), wobei der indi­vi­du­el­le Habi­tus die grund­le­gen­den Struk­tu­ren und Dis­po­si­tio­nen des Klas­sen­ha­bi­tus beinhal­tet, aber auf­grund der Viel­fäl­tig­keit mög­li­cher Lebens­er­fah­run­gen und sozia­ler Stel­lun­gen sowie der damit ein­her­ge­hen­den Beson­der­heit der spe­zi­fi­schen per­sön­li­chen Lebens­läu­fe indi­vi­du­ell ver­schie­den ist: „[J]edes Sys­tem indi­vi­du­el­ler Dis­po­si­tio­nen ist eine struk­tu­ra­le Vari­an­te der ande­ren Sys­te­me, in der die Ein­zig­ar­tig­keit der Stel­lung inner­halb der Klas­se und des Lebens­laufs zum Aus­druck kommt“ (Bour­dieu 1987a, S. 113). Die­ses Prin­zip der struk­tu­ra­len Vari­an­te eines grund­le­gen­den Grup­pen­ha­bi­tus kann ana­log für das ana­ly­ti­sche Kon­strukt objek­ti­ver sozia­ler Milieus her­an­ge­zo­gen wer­den, sofern deren Akteu­re jeweils unter ähn­li­chen Exis­tenz­be­din­gun­gen leben und ent­spre­chen­de Erfah­run­gen durch­lau­fen haben.

Ent­spre­chend las­sen sich sche­ma­tisch drei grund­le­gen­de Habi­tus­struk­tu­ren iden­ti­fi­zie­ren, die unter­schied­li­chen Posi­tio­nen im sozia­len Raum zuge­ord­net wer­den kön­nen, näm­lich zum einen der Habi­tus der Distink­ti­on, der Habi­tus des Stre­bens sowie der Habi­tus der Not(wendigkeit) (vgl. Hart­mann 2004, S. 90; Bour­dieu 1992b).

In den unte­ren Milieus lässt sich auf­grund feh­len­der öko­no­mi­scher Res­sour­cen und einer ent­spre­chend ein­ge­schränk­ten Zukunfts­si­cher­heit vor allem der Habi­tus der Not vor­fin­den, auch als ‚prak­ti­scher Mate­ria­lis­mus‘ bezeich­net, der aus der Not gebo­ren, infol­ge­des­sen dar­an ange­passt und auf das Hier und Jetzt aus­rich­tet ist, auf das „Gegen­wär­tig­sein im Gegen­wär­ti­gen“ (Bour­dieu 1982, S. 297; vgl. Krais/Gebauer 2002): „Aus der Not her­aus ent­steht ein Not-Geschmack, der eine Art Anpas­sung an den Man­gel ein­schließt und damit ein Sich-in-das-Not­wen­di­ge-fügen, ein Resi­gnie­ren vorm Unaus­weich­li­chen“ (Bour­dieu 1982, S. 585).

Dem­ge­gen­über ist in den klein­bür­ger­li­chen Milieus der Mit­te der Habi­tus des Stre­bens vor­herr­schend. Er ist auf Auf­stieg fokus­siert und daher in Kon­trast zum Habi­tus der Not nicht auf den Augen­blick, son­dern viel­mehr auf die Zukunft aus­ge­rich­tet, was gegen­wär­ti­gen Ver­zicht bis hin zur Aske­se zuguns­ten zukünf­ti­ger Erträ­ge und Befrie­di­gun­gen im Sin­ne der Rea­li­sie­rung der Auf­stiegs­aspi­ra­tio­nen ein­schließt. Der im Ver­gleich mit den obe­ren Milieus rela­ti­ve Man­gel an Res­sour­cen wird durch Habi­tus­dis­po­si­tio­nen wie Ehr­geiz zu kom­pen­sie­ren ver­sucht: „[V]erhältnismäßig arm an öko­no­mi­schem, kul­tu­rel­lem und sozia­lem Kapi­tal, kann sie [die klein­bür­ger­li­che Mit­tel­schicht; MM] ihre ›Ansprü­che‹ nur ›nach­wei­sen‹ und sich damit Aus­sich­ten auf deren Rea­li­sie­rung eröff­nen, wenn sie bereit ist, dafür durch Opfer, Ver­zicht, Ent­sa­gung, Eifer, Dank­bar­keit — kurz: durch Tugend zu zah­len“ (Bour­dieu 1982, S. 528). Dies führt sowohl zu oft­mals sehr bemüh­ten und daher unsi­che­ren Anknüp­fungs­ver­su­chen an die Pra­xen obe­rer Milieus als auch zu Abgren­zungs­be­stre­bun­gen gegen­über unte­ren sozia­len Lagen.

Der Habi­tus der Distink­ti­on wie­der­um ist in der Regel den Milieus der Ober­schicht vor­be­hal­ten. Er ist geprägt durch und prägt sei­ner­seits die herr­schen­de Kul­tur, was sich in strik­ter Abgren­zung und ent­spre­chen­dem Abstand nach unten mani­fes­tiert (vgl. Bour­dieu 1992b, S. 39). Im Gegen­satz zu den Anknüp­fungs­be­mü­hun­gen der mitt­le­ren Milieus, die gera­de durch ihr Stre­ben nach Zuge­hö­rig­keit zur herr­schen­den Kul­tur ihre Nicht­zu­ge­hö­rig­keit offen­ba­ren, zeich­nen sich die Habi­tus der obe­ren Milieus durch eine Selbst­ver­ständ­lich­keit und Selbst­si­cher­heit im Umgang mit Hoch- bzw. legi­ti­mer Kul­tur aus: „Die­se Sou­ve­rä­ni­tät, die den spie­le­ri­schen Umgang mit den gül­ti­gen Regeln beinhal­tet, macht die ent­schei­den­de Dif­fe­renz aus zwi­schen denen, die dazu gehö­ren, und denen, die nur dazu­ge­hö­ren möch­ten“ (Hart­mann 2004, S. 142). Distink­ti­on ent­steht hier nicht durch Distink­ti­ons­be­mü­hen, son­dern – in Anleh­nung an die sozia­le Magie der sym­bo­li­schen Wirk­sam­keit die­ses selbst­ver­ständ­li­chen Ver­hal­tens – ‚auto­ma­gisch‘ durch den Umstand, dass „man nicht auf Distink­ti­on, auf Sich-unter­schei­den-wol­len aus ist: die ›wirk­lich distin­gu­ier­ten‹ Leu­te sind die, die sich nicht dar­um küm­mern, es zu sein“ (Bour­dieu 1989, S. 18), da ihr Habi­tus milieu­spe­zi­fisch-selbst­ver­ständ­li­che Pra­xen her­vor­bringt, die ohne bewuss­tes Abgren­zungs­be­mü­hen des Akteurs Distink­ti­on bewirken.

Ein Akteur han­delt folg­lich inner­halb jener sozia­len Ver­hält­nis­se, die sei­nem Habi­tus ent­spre­chen und des­sen Struk­tu­ren strukturier(t)en, inner­halb sei­nes Milieus oder sei­ner Klas­se voll­kom­men intui­tiv und gene­ra­tiv krea­tiv gemäß der ent­spre­chen­den Logik der gesell­schaft­li­chen Pra­xis und kann sich ohne bewuss­ten Rück­griff auf bestimm­te Regeln oder Nor­men „wie ein Fisch im Was­ser“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 161) in die­ser Umge­bung bewe­gen, auf die er objek­tiv abge­stimmt ist, ohne dass jedoch eine expli­zi­te Abspra­che oder direk­te Inter­ak­ti­on zwi­schen den Akteu­ren (vgl. Bour­dieu 1987a, S. 109) noch eine sub­jek­ti­ve Zweck­aus­rich­tung statt­fän­de: „Dies kann in dem Gefühl zum Aus­druck kom­men, genau »am rich­ti­gen Platz« zu sein, genau das zu tun, was man zu tun hat, und es auf glück­li­che Wei­se – im objek­ti­ven wie im sub­jek­ti­ven Sin­ne – zu tun oder in der resi­gnier­ten Über­zeu­gung, nichts ande­res tun zu kön­nen, auch eine frei­lich weni­ger glück­li­che Wei­se, sich für das, was man tut, geschaf­fen zu füh­len“ (Bour­dieu 2011a, S. 31f). Der jewei­li­ge Akteur als Inha­ber eines bestimm­ten Habi­tus fühlt sich dem­zu­fol­ge gemäß einer Art „sen­se of one’s place“ (Goff­man zitiert nach Bour­dieu 1992a, S. 141) in einer Umwelt am bes­ten auf­ge­ho­ben und zuge­hö­rig, die in ihrem kol­lek­ti­ven Habi­tus am ehes­ten sei­nem indi­vi­du­el­len Habi­tus ent­spricht, d.h. der Habi­tus „bewirkt, daß man hat, was man mag, weil man mag, was man hat“ (Bour­dieu 1982, S. 286) — „einen Umstand, den Bour­dieu auch als »amor fati« bezeich­net, als Wahl oder Anneh­men des Schick­sals“ (Krais/Gebauer 2002, 43). Durch die­ses Gespür für den »rich­ti­gen« Platz, die damit ver­bun­de­ne Akzep­tanz des eige­nen »Schick­sals« und die unbe­wuss­te »Wahl« einer dem per­sön­li­chen Habi­tus ent­spre­chen­den Umwelt „schützt sich der Habi­tus vor Kri­sen und kri­ti­scher Befra­gung, indem er sich ein Milieu schafft, an das er so weit wie mög­lich vor­an­ge­paßt ist, also eine rela­tiv kon­stan­te Welt von Situa­tio­nen, die geeig­net sind, sei­ne Dis­po­si­tio­nen dadurch zu ver­stär­ken, daß sie sei­nen Erzeug­nis­sen den auf­nah­me­be­rei­tes­ten Markt bie­ten“ (Bour­dieu 1987a, S. 114). Es wird dadurch ein sozia­ler Zusam­men­hang her­ge­stellt, der unbe­wusst ver­bin­det, d.h. „[d]er sozia­le Zusam­men­halt wird immer wie­der gestif­tet durch die Wahl­ver­wandt­schaf­ten, die sich aus einem gemein­sa­men Habi­tus und Geschmack erge­ben und die sich in (…) Hand­lungs­ge­mein­schaf­ten ver­kör­pern“ (Ves­ter et al. 2001, S. 169).

Das Habi­tus­kon­zept und dar­auf auf­bau­en­de Kon­zep­te begrei­fen „die Indi­vi­du­en weder als blo­ße Objek­te vor­ge­ge­be­ner objek­ti­ver Struk­tu­ren noch als völ­lig freie Sub­jek­te, son­dern in der Wech­sel­wir­kung ihrer Bezie­hun­gen, in denen sie bei­des sind“ (Ves­ter et al. 2001, S. 150). Gleich­zei­tig wird das Indi­vi­du­um als ein von Geburt an ver­ge­sell­schaf­te­ter Akteur betrach­tet, womit das Habi­tus­kon­zept die künst­li­che Ent­ge­gen­set­zung von Indi­vi­du­um und Gesell­schaft über­win­det: „Man wird nicht Mit­glied einer Gesell­schaft, son­dern ist es von Geburt an (…) und von Geburt an befin­det man sich in einer akti­ven Aus­ein­an­der­set­zung mit der Welt“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61). Auf die­se Wei­se wird eine Brü­cke zwi­schen Indi­vi­du­um und Gesell­schaft, zwi­schen Struk­tu­ra­lis­mus und Kon­struk­ti­vis­mus geschla­gen, die eine gegen­sei­ti­ge Beein­flus­sung bedingt sowie die unbe­wuss­te und objek­tiv auf­ein­an­der abge­stimmt erschei­nen­de Ver­hal­tens­grund­la­ge für das völ­lig selbst­ver­ständ­li­che und ange­pass­te Inter­agie­ren zwi­schen Akteu­ren mit mehr oder weni­ger homo­ge­nen Habi­tus erlaubt, die auf eben­so mehr oder weni­ger homo­ge­nen Exis­tenz­be­din­gun­gen basie­ren. Der Habi­tus ist dem­zu­fol­ge struk­tu­rier­te und struk­tu­rie­ren­de Struk­tur zugleich, die „kon­stant auf prak­ti­sche Funk­tio­nen aus­ge­rich­tet ist“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 154), denn „[m]it dem Habi­tus sind wir in der Welt und haben die Welt in uns“ (Krais/Gebauer 2002, S. 61) — wäh­rend »die Welt in uns«, ver­stan­den als weit­ge­hend selbst­ver­ständ­li­che Inkor­po­rie­rung der dop­pel­ten Geschicht­lich­keit, die Struk­tu­ren des Habi­tus struk­tu­riert, mit dem wir in der Welt sind, also „zur Aus­bil­dung einer situa­ti­ons­an­ge­pass­ten Ratio­na­li­tät, eines prak­ti­schen Sinns [führt], der ‚weiß‘, was in wel­cher Situa­ti­on zu tun und was zu las­sen ist“ (Liebau 2009, S. 47), struk­tu­riert der Habi­tus wie­der­um auf die­ser Grund­la­ge das Han­deln und damit letzt­lich die gesell­schaft­li­che Welt. Mit­tels der struk­tu­rier­ten und struk­tu­rie­ren­den Struk­tur des Habi­tus erklärt sich, wie Gesell­schaft über­haupt zustan­de kommt, ohne dass sämt­li­che betei­lig­te Akteu­re bewusst oder ziel­ge­rich­tet auf das Her­stel­len einer gesell­schaft­li­chen Ord­nung oder das gesell­schaft­li­che Funk­tio­nie­ren an sich hin­ar­bei­ten, wie Gesell­schaft dem­nach ganz bei­läu­fig ent­steht, indem die Akteu­re ihren all­täg­li­chen Hand­lun­gen nach­ge­hen und damit „unun­ter­bro­chen dazu bei[tragen], die sozia­le Struk­tur zu repro­du­zie­ren“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 174), denn der Habi­tus stellt

„struk­tu­rier­te Struk­tu­ren [dar], die wie geschaf­fen sind, als struk­tu­rie­ren­de Struk­tu­ren zu fun­gie­ren, d.h. als Erzeu­gungs- und Ord­nungs­grund­la­gen für Prak­ti­ken und Vor­stel­lun­gen, die objek­tiv an ihr Ziel ange­paßt sein kön­nen, ohne jedoch bewuß­tes Anstre­ben von Zwe­cken (…) vor­aus­zu­set­zen, die objek­tiv »gere­gelt« und »regel­mä­ßig« sind, ohne irgend­wie das Ergeb­nis der Ein­hal­tung von Regeln zu sein, und genau des­we­gen kol­lek­tiv auf­ein­an­der abge­stimmt sind, ohne aus dem ord­nen­den Han­deln eines Diri­gen­ten her­vor­ge­gan­gen zu sein“ (Bour­dieu 1987a, S. 98).

Der Habi­tus wird all­ge­mein durch die gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen und im Spe­zi­el­len durch eine bestimm­te, indi­vi­du­el­le Kom­po­si­ti­on objek­tiv-rea­ler Exis­tenz­be­din­gun­gen sowie ent­spre­chen­der Sozia­li­sa­ti­ons­er­fah­run­gen geformt und formt sei­ner­seits wie­der­um die Gesell­schaft, wobei er „jener Ver­ket­tung von »Zügen« zugrun­de [liegt], die objek­tiv wie Stra­te­gien orga­ni­siert sind, ohne das Ergeb­nis einer ech­ten stra­te­gi­schen Absicht zu sein“ (ebd., S. 116).

Die vom Habi­tus her­vor­ge­brach­ten Hand­lun­gen sind dem­zu­fol­ge nicht „intel­lek­tu­ello­zen­trisch“ (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 153) als rein ratio­na­le Stra­te­gien zu ver­ste­hen, denen eine exak­te Bewer­tung von Erfolgs­chan­cen zugrun­de liegt, son­dern funk­tio­nie­ren „nach einer dem leben­den Orga­nis­mus eige­nen, das heißt nach einer sys­te­ma­ti­schen, fle­xi­blen, nicht mecha­nis­ti­schen Logik“ (Krais/Gebauer 2002, S. 34), die auf­grund der Prä­gung des Akteurs die objek­tiv unwahr­schein­lichs­ten Prak­ti­ken als undenk­ba­re aus­sor­tiert (vgl. Bour­dieu 1987a, S. 100), womit der schar­fen Tren­nung zwi­schen Kör­per und Geist sowie der Vor­stel­lung vom Kör­per als ledig­lich pas­si­vem Spei­cher der Erfah­run­gen wider­spro­chen wird, da der Kör­per viel­mehr „als akti­ves [und sozia­les; MM] ›Ding‹ bei der Erzeu­gung jener spon­ta­nen, immer wie­der vari­ier­ten und krea­tiv neu erfun­de­nen Akte der Indi­vi­du­en“ (Krais/Gebauer 2002, S. 34; vgl. Kalt­hoff 2004) auf­tritt: „Weil die Han­deln­den nie ganz genau wis­sen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie sel­ber wis­sen“ (Bour­dieu 1987b, S. 127).

In den Habi­tus gehen die Denk- und Sicht­wei­sen, die Wahr­neh­mung, Welt­an­schau­ung etc. einer Gesell­schaft bzw. einer gesell­schaft­li­chen Lage ein, wer­den somit zur zwei­ten Natur des Akteurs, der nun auf­grund die­ser Inkor­po­rie­rung der sozia­len Ver­hält­nis­se voll­kom­men selbst­ver­ständ­lich gemäß die­sen han­delt und dadurch die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se, die sei­nen Habi­tus her­vor­ge­bracht haben, wie­der­um repro­du­ziert. Sowohl die per­sön­li­che als auch die gesell­schaft­li­che Ver­gan­gen­heit wir­ken in ihm in der Gegen­wart fort und bestim­men sein Ver­hal­ten, aller­dings „um den Preis des Ver­ges­sens“ (Krais 2004, S. 91) sei­ner Ent­ste­hung aus bestimm­ten sozia­len Ver­hält­nis­sen. Das Äuße­re der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se wird dem­entspre­chend inkor­po­riert und zum Inne­ren, zum Kör­per gewor­de­nen Sozia­len (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 161), und repro­du­ziert auf die Wei­se des Ver­äu­ßer­li­chens die­ses Inne­ren wie­der­um objek­ti­ve gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren. In einer sozia­len Umwelt, die mit dem per­sön­li­chen Habi­tus der Akteu­re über­ein­stimmt, wer­den die­se auf­grund der in ihrem Habi­tus inkor­po­rier­ten Erfah­rung rein intui­tiv han­deln und müs­sen in einer für sie neu­en Situa­ti­on nicht erst bewusst dar­über nach­den­ken, was nun zu tun sei.

Je nach sozia­ler Lage bie­ten sich den ein­zel­nen Akteu­ren unzäh­li­ge Zukunfts­mög­lich­kei­ten, aller­dings mit unter­schied­li­cher Ein­tritts- oder Rea­li­sie­rungs­wahr­schein­lich­keit, d.h. „die Viel­zahl mög­li­cher Wel­ten [ist] zu jedem Zeit­punkt durch die jeweils wirk­li­che Welt, durch die gege­be­nen sozia­len Ver­hält­nis­se begrenzt“ (Krais/Gebauer 2002, S. 46), so wie es für man­che sozia­le Grup­pen wahr­schein­li­cher ist als für ande­re, bei­spiels­wei­se sozi­al auf­zu­stei­gen oder eine Stu­di­en­lauf­bahn ein­zu­schla­gen. Über den Habi­tus und die dar­in inkor­po­rier­ten Erfah­run­gen, die die sozia­len Wahr­schein­lich­kei­ten und damit auch die eige­ne wahr­schein­li­che Zukunft mit­ein­schlie­ßen, rich­ten die Akteu­re schließ­lich ihre Hand­lun­gen auf die­je­ni­ge Zukunft aus, die objek­tiv am wahr­schein­lichs­ten ist, und las­sen sie dadurch in einer Art „Kau­sa­li­tät des Wahr­schein­li­chen“ (ebd.) Wirk­lich­keit wer­den, denn „[a]uch wenn [die sozia­len Deter­mi­nan­ten] nicht bewußt wahr­ge­nom­men wer­den, zwin­gen sie den ein­zel­nen, sich nach ihnen, das heißt nach der objek­ti­ven Zukunft der betref­fen­den gesell­schaft­li­chen Klas­se aus­zu­rich­ten“ (Bourdieu/Passeron 1971, S. 44). Der indi­vi­du­el­le Habi­tus leis­tet also inner­halb homo­lo­ger gesell­schaft­li­cher Ver­hält­nis­se auch die Vor­weg­nah­me und gleich­zei­ti­ge Her­bei­füh­rung einer wahr­schein­li­chen Zukunft, da die Hand­lun­gen und unbe­wuss­ten Stra­te­gien des Habi­tus „stets die objek­ti­ven Struk­tu­ren zu repro­du­zie­ren trach­ten, aus denen sie her­vor­ge­gan­gen sind“ (Bour­dieu 1987a, S. 114). Die wahr­schein­li­che Zukunft kann über den Habi­tus aus Erfah­rung, „d.h. durch die bereits ein­ge­tre­te­ne Zukunft frü­he­rer Prak­ti­ken“ (ebd.), als eben sol­che anti­zi­piert wer­den, weil die im Habi­tus inkor­po­rier­te Geschicht­lich­keit oder Erfah­rung mit den Bedin­gun­gen und der Geschicht­lich­keit der sozia­len Ver­hält­nis­se über­ein­stimmt, wor­aus sich eine Selbst­ver­ständ­lich­keit des Han­delns ergibt.

Die­se Selbst­ver­ständ­lich­keit des Han­delns geht jedoch ver­lo­ren, sobald die sozia­len Ver­hält­nis­se nicht län­ger dem Habi­tus eines Akteurs ent­spre­chen, sprich wenn die in den sozia­len Insti­tu­tio­nen objek­ti­vier­te Geschicht­lich­keit nicht län­ger mit der inkor­po­rier­ten Geschicht­lich­keit über­ein­stimmt, denn die bestehen­de Struk­tu­rie­rung des Habi­tus „schließt aus, dass er alles ver­ar­bei­tet, was in der Welt ist“, also „nur Din­ge auf­neh­men und ein­bau­en kann, für die er bereits eine Art ›Ankopp­lungs­stel­le‹ hat“ (Krais/Gebauer 2002, S. 64). Fin­det sich ein Akteur in einem sozia­len Umfeld mit hoch­gra­dig abwei­chen­den sozia­len Bedin­gun­gen vor, ent­spricht sei­ne ein­ver­leib­te Geschich­te oder Erfah­rung nicht län­ger der insti­tu­tio­na­li­sier­ten Geschich­te sei­ner Umge­bung, sein per­sön­li­cher Habi­tus ent­spricht also nicht län­ger den sozia­len Ver­hält­nis­sen und zeich­net sich durch eine Träg­heit aus, da er für die Gege­ben­hei­ten der neu­en sozia­len Umwelt kaum Ankopp­lungs­stel­len auf­weist. Da der Habi­tus zwar durch­aus ver­än­der­bar ist und die ihm zugrun­de lie­gen­de Inkor­po­rie­rung ein Leben lang statt­fin­det (vgl. Krais/Gebauer 2002), er aber stets von sei­ner ursprüng­li­chen Struk­tu­rie­rung durch die Pri­mär­so­zia­li­sa­ti­on in einer Art anhaf­ten­dem »Stall­ge­ruch« geprägt blei­ben wird, tritt auf, was Bour­dieu als hys­te­re­sis-Effekt bezeich­net (vgl. Bour­dieu 1982, S. 238f), näm­lich eine Träg­heit des Habi­tus, der nun in einer völ­lig neu­en Situa­ti­on unter ande­ren sozia­len Bedin­gun­gen nicht mehr ange­mes­sen ist, infol­ge­des­sen der Akteur sich nicht län­ger ange­mes­sen ver­hal­ten kann: „Sei­nen Habi­tus, der ja die per­sön­li­che und sozia­le Iden­ti­tät eines Indi­vi­du­ums aus­macht, kann man nun, wenn sich die indi­vi­du­el­len Lebens­ver­hält­nis­se ver­än­dern, nicht ein­fach wech­seln wie ein Kleid“ (Krais/Gebauer 2002, S. 46). Über län­ge­re Zeit wird sich der Habi­tus des Akteurs den neu­en sozia­len Ver­hält­nis­sen zwar annä­hern, sei­nen »Stall­ge­ruch« der Pri­mär­so­zia­li­sa­ti­on durch das vor­her­ge­hen­de Milieu aller­dings nicht voll­stän­dig able­gen kön­nen (vgl. Bour­dieu 2000; Hart­mann 2004, S. 92f; Krais 2004, S. 99f).

Zen­tral ist für Bour­dieu die selbst­ver­ständ­li­che Kom­pli­zen­schaft zwi­schen Indi­vi­du­um und sozia­len Ver­hält­nis­sen oder Insti­tu­tio­nen, die auch gesell­schaft­li­che Zwän­ge dar­stel­len kön­nen und in der Regel sol­che sind: „Wir sind über die­sen Habi­tus (…) immer ver­sucht, Kom­pli­zen der Zwän­ge zu sein, die auf uns wir­ken, mit unse­rer eige­nen Beherr­schung zu kol­la­bo­rie­ren“ (Bour­dieu 2001a, S. 166). Die­se Kom­pli­zen­schaft zwi­schen Akteur und den ihn umge­ben­den Struk­tu­ren wird durch eine ent­spre­chen­de Sozia­li­sa­ti­on inner­halb die­ser Struk­tu­ren, also durch den jewei­li­gen Habi­tus her­ge­stellt, der es den Akteu­ren erlaubt, gesell­schaft­li­che „Insti­tu­tio­nen zu bewoh­nen (habi­ter)“ (Bour­dieu 1987a, S.107). Dies bedeu­tet, dass jene objek­ti­ven Struk­tu­ren nur Bestand haben kön­nen, indem sie in den Akteu­ren wir­ken und von die­sen ver­in­ner­licht, bewohnt, ange­eig­net wer­den, die sie dadurch wie­der­um repro­du­zie­ren; folg­lich wird die „objek­ti­vier­te, insti­tu­ier­te Geschich­te nur dann geschicht­li­che Akti­on, d.h. akti­vier­te, akti­ve Geschich­te, wenn sie von Akteu­ren auf­ge­nom­men wird, die ihre eige­ne Geschich­te dazu prä­dis­po­niert, sie auf sich zu neh­men“ (Bour­dieu 2011a, S. 27). So kön­nen gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren wie z.B. Staat oder Schu­le nur funk­tio­nie­ren, indem die Akteu­re in gewis­ser Wei­se an sie glau­ben (vgl. prak­ti­scher Glau­be und prak­ti­scher Sinn in Bour­dieu 1987b), durch Sozia­li­sa­ti­on in die­sen Struk­tu­ren deren Funk­ti­ons­wei­se inkor­po­rie­ren und über Habi­tus und prak­ti­schen Sinn mit ihnen in Kom­pli­zen­schaft tre­ten. Alle betref­fen­den Akteu­re tei­len daher den ihnen habi­tu­ell inkor­po­rier­ten Glau­ben an die insti­tu­tio­nel­len Struk­tu­ren, was sich in der Aner­ken­nung die­ser Struk­tu­ren und der ent­spre­chen­den Teil­nah­me mani­fes­tiert, wobei sich die­ses Teil­neh­men aller­dings nicht bewusst mit einer struk­tur­funk­tio­na­lis­ti­schen Absicht voll­zieht, son­dern auf­grund der ent­spre­chen­den Habi­tus völ­lig selbst­ver­ständ­lich, intui­tiv und größ­ten­teils unbe­wusst, so wie man bei­spiels­wei­se sei­ne Kin­der ganz selbst­ver­ständ­lich auf die Schu­le schickt. Auf die­se Wei­se wer­den Prak­ti­ken und Regel­mä­ßig­kei­ten der gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen und Struk­tu­ren im Habi­tus der Indi­vi­du­en ver­an­kert, was ihnen das Bewoh­nen die­ser gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren ermög­licht, aber auf­grund der selbst­ver­ständ­li­chen habi­tu­el­len Ver­in­ner­li­chung der sozia­len Ord­nung auch Macht- und Herr­schafts­ver­hält­nis­se repro­du­ziert. Durch die­se Beto­nung der habi­tu­el­len Kom­pli­zen­schaft wird zudem deut­lich, dass per se kei­ne ant­ago­nis­ti­sche Gegen­über­stel­lung zwi­schen Indi­vi­du­um und Gesell­schaft besteht und nicht Gesell­schaft an sich als Zwang gegen­über den Indi­vi­du­en auf­tritt, son­dern bestimm­te Prak­ti­ken, Ord­nun­gen, Struk­tu­ren, Insti­tu­tio­nen und letzt­lich der eige­ne, vor­wie­gend unbe­wuss­te Glau­be dar­an: „Nicht Gesell­schaft als sol­che ist eine ›Zumu­tung‹, pro­ble­ma­tisch ist viel­mehr Herr­schaft. Und Herr­schaft tritt nicht ein­fach von außen an das Indi­vi­du­um her­an, sie ist, über den Habi­tus, immer auch in das Indi­vi­du­um selbst ein­ge­la­gert“ (Krais/Gebauer 2002, S. 79).

Eine Absa­ge etwa an gesell­schaft­li­che Zwän­ge kann sich also nicht auf die objek­tiv erkenn­ba­ren Struk­tu­ren beschrän­ken, son­dern muss beim Sub­jekt begin­nen, das die­se objek­ti­ven Struk­tu­ren durch sei­nen Habi­tus, durch sei­ne sub­jek­ti­ven Struk­tu­ren, repro­du­ziert. Dies erfor­dert zunächst das Erken­nen der Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der auf­grund der Inkor­po­rie­rung der dop­pel­ten Geschicht­lich­keit und – dar­in ent­hal­ten – der gesell­schaft­li­chen Denk- und Sicht­wei­sen gehan­delt wird, und damit das Erken­nen der Gren­zen des eige­nen Habi­tus. Bour­dieu leis­tet genau dies, indem er den „Mecha­nis­mus der kul­tu­rel­len Repro­duk­ti­on“ offen nach­zeich­net und in Ent­geg­nung auf den Vor­wurf des Deter­mi­nis­mus erklärt, „daß die Inten­ti­on der Auf­de­ckung gesell­schaft­li­cher Zwän­ge eman­zi­pa­to­risch ist. Das heißt nichts ande­res, als daß man – getreu der alten Regel – auf die Welt nur ein­zu­wir­ken ver­mag, wenn man sie kennt: Jeder neue Bestim­mungs­fak­tor, der erkannt wird, eröff­net einen wei­te­ren Frei­heits­spiel­raum“ (Bour­dieu 1992b, S. 46).

Ein sol­cher Frei­heits­spiel­raum gegen­über den gesell­schaft­li­chen Zwän­gen, die als unhin­ter­frag­te Not­wen­dig­kei­ten in den sozia­len Gebil­den und Denk­sche­ma­ta wir­ken, kann dem­zu­fol­ge nur durch ihr Erken­nen her­ge­stellt wer­den (das nicht mit Aner­ken­nung gleich­zu­set­zen ist), denn „[d]ie wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis der Not­wen­dig­keit schließt die Mög­lich­keit einer Akti­on ein, die dar­auf abzielt, sie zu neu­tra­li­sie­ren, und mit­hin eine mög­li­che Frei­heit, wäh­rend das Nicht­er­ken­nen der Not­wen­dig­keit deren Aner­ken­nung in unein­ge­schränk­ter Form impli­ziert: Solan­ge das Gesetz uner­kannt ist, erscheint das Resul­tat des lais­ser-fai­re, des Kom­pli­zen des Wahr­schein­li­chen [somit das, was gemäß die­ses uner­kann­ten Geset­zes schein­bar »ein­fach so« pas­siert, was nicht hin­ter­fragt und was als selbst­ver­ständ­lich erach­tet wird; MM], als Schick­sal, sobald es erkannt ist, als Gewalt“ (Bour­dieu 2011a, S. 53f).


Lite­ra­tur:

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  4. Bour­dieu, Pierre (1989). Satz und Gegen­satz. Über die Ver­ant­wor­tung des Intel­lek­tu­el­len. Ber­lin: Wagenbach.
  5. Bour­dieu, Pierre (1992a). Sozia­ler Raum und sym­bo­li­sche Macht. In Pierre Bour­dieu, Rede und Ant­wort (S. 135–154). Frankfurt/M: Suhrkamp.
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Die sym­bo­li­sche Macht ist eine Macht, die in dem Maße exis­tiert, wie es ihr gelingt, sich aner­ken­nen zu las­sen, sich Aner­ken­nung zu ver­schaf­fen; d.h. eine (öko­no­mi­sche, poli­ti­sche, kul­tu­rel­le oder ande­re) Macht, die die Macht hat, sich in ihrer Wahr­heit als Macht, als Gewalt, als Will­kür ver­ken­nen zu las­sen. (…) Die sozia­len Akteu­re und auch die Beherrsch­ten selbst sind in der sozia­len Welt (selbst der absto­ßends­ten und empö­rends­ten) durch eine Bezie­hung hin­ge­nom­me­ner Kom­pli­zen­schaft ver­bun­den, die bewirkt, daß bestimm­te Aspek­te die­ser Welt stets jen­seits oder dies­seits kri­ti­scher Infra­ge­stel­lung stehen.

Was ist schließ­lich ein Papst, ein Prä­si­dent oder ein Gene­ral­se­kre­tär ande­res als jemand, der sich für einen Papst oder einen Gene­ral­se­kre­tär oder genau­er: für die Kir­che, den Staat, die Par­tei oder die Nati­on hält? Das ein­zi­ge, was ihn von der Figur in der Komö­die oder vom Grö­ßen­wahn­sin­ni­gen unter­schei­det, ist, daß man ihn im all­ge­mei­nen ernst nimmt und ihm damit das Recht auf die­se Art von »legi­ti­mem Schwin­del«, wie Aus­tin sagt, zuer­kennt. Glau­ben Sie mir, die Welt so betrach­tet, d.h. so wie sie ist, ist ziem­lich komisch. Aber man hat ja oft gesagt, daß das Komi­sche und das Tra­gi­sche sich berühren.
(Pierre Bour­dieu – Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht ent­hül­len, in: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht)

Noch die inhu­mans­ten Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen kön­nen als sinn­haft und attrak­tiv erlebt wer­den durch das still­schwei­gen­de Ein­ver­ständ­nis von Men­schen, die durch inhu­ma­ne Exis­tenz­be­din­gun­gen dar­auf vor­be­rei­tet wor­den sind, sie zu akzeptieren.
(Mar­ga­re­te Stein­rü­cke, in: Pierre Bour­dieu – Der Tote packt den Lebenden)

So lan­ge ich zurück­den­ken kann, war ich noch nie­mals rich­tig glück­lich. Es liegt nicht an per­sön­li­chen Eitel­kei­ten, dass es so ist, wie es ist. Mei­ne Kind­heit war erfüllt und ich übte bis vor kur­zem einen ange­se­he­nen Beruf aus, der es mir ermög­lich­te, ein gutes Leben zu füh­ren, zumin­dest mate­ri­ell. Ich bin emo­tio­nal gut aus­ge­gli­chen, wie man es wohl aus­drü­cken wür­de, und kann mich in Lie­bes­din­gen nicht all­zu viel beschwe­ren. Den­noch hat es da in mei­nem Leben schon immer ande­re Ein­flüs­se gege­ben, Inter­fe­ren­zen sozu­sa­gen, Stör­fak­to­ren, die es mir unmög­lich mach­ten, mit die­sem Leben wirk­lich glück­lich zu sein. Es kommt mir vor, als blick­te ich durch trü­bes Glas, das mir den gan­zen schö­nen Aus­blick rui­niert. Ich habe mich hin und wie­der glück­lich gewähnt, doch ich war es nicht. Die Welt, die mich umgibt, drückt wie ein Stein im Schuh, der jeden noch so klei­nen Schritt mit Schmer­zen unter­legt. Es ist der Zustand die­ser Welt, der stö­rend auf mein Leben ein­wirkt, der Stein im Schuh, das trü­be Glas, das die­ses Leben uner­träg­lich wer­den lässt. Jede per­sön­li­che Freu­de wird zur Far­ce, wenn sie von Unglück umge­ben ist. Wie führt man ein gutes Leben in einer schlech­ten Welt?

Ich habe schon vor lan­ger Zeit damit auf­ge­hört, ande­ren Men­schen von mei­nem Unbe­ha­gen zu erzäh­len, denn ihre Ant­wor­ten sind immer gleich: »Das Leben ist kein Wunsch­kon­zert«, sagen sie, oder: »Es ist nun mal so«, sie mei­ßeln Phra­sen in die Welt wie: »Ande­ren geht es viel schlech­ter« und »Nimm’s nicht so schwer«, sie ant­wor­ten nicht ernst­haft, sie geben nur wie­der. Als wür­de das irgend­et­was ändern, stel­len sie Sprü­che in den Raum und wol­len damit Trost spen­den oder abspei­sen, das eine kommt dem ande­ren gleich, denn es sind sinn­lo­se, inhalts­lee­re Sät­ze. »Hau doch ab, wenn es dir hier nicht gefällt«, legen sie mir unmiss­ver­ständ­lich nahe, ein ums ande­re Mal, doch wo ist es bes­ser, fra­ge ich mich dann.

Sie mei­nen, ich müs­se nur end­lich erwach­sen wer­den und mich ein­fach bloß zusam­men­rei­ßen, müs­se begrei­fen, dass all das nor­mal ist, wor­über ich beun­ru­higt bin. Ihnen fällt über­haupt nicht auf, wie oft sie »man muss« und wie sel­ten sie »ich will« ver­wen­den. Sie ver­lan­gen Dis­zi­plin, doch ich möch­te nie­man­des Skla­ve sein, nicht ein­mal mein eige­ner, oder viel­mehr schon gar nicht. Sie wer­fen mir unauf­hör­lich vor, ich käme nicht zurecht mit die­ser Welt. Sie sagen, ich sei depres­siv und krank, als wäre es ein Aus­druck der geis­ti­gen Gesund­heit, an kran­ke Ver­hält­nis­se gut ange­passt zu sein. Sie möch­ten mich behan­deln, mich nor­ma­li­sie­ren, mich wie­der ein­glie­dern in die­se Welt, mit der ich mei­nen Frie­den schlie­ßen soll, doch wenn sie Frie­den sagen, mei­nen sie bloß Kapi­tu­la­ti­on. Sie wol­len, dass ich ver­leug­ne, wie ich mich wirk­lich füh­le, sie möch­ten mein Unbe­ha­gen in einen Kas­ten sper­ren und die­sen dann irgend­wo ver­sen­ken, auf dass er für immer ver­schwun­den bleibt. Sie drän­gen mich dazu, mein inne­res Leben auf­zu­ge­ben, um am äuße­ren zu par­ti­zi­pie­ren. Ich soll es jenen recht machen, die mich als Men­schen negie­ren. Aber bin ich wirk­lich krank? Bin ich krank, weil ich aus dem her­aus­fal­le, was sie allen Erns­tes als nor­mal bezeichnen?

Es gilt als Aus­druck von Nor­ma­li­tät, sich bereit­wil­lig in eine Gesell­schaft ein­zu­fü­gen, die sys­te­ma­tisch ihre Grund­la­gen zer­stört und die sich um das Wohl­erge­hen ihrer Insas­sen nicht son­der­lich schert. Es ist nor­mal, dass wir mehr Geld und Krea­ti­vi­tät in Waf­fen oder gegen­sei­ti­ge Abschre­ckung inves­tie­ren als in Bil­dung und Kul­tur, weil wir uns so sehr bemü­hen, das Gegen­ein­an­der zu opti­mie­ren, wäh­rend das Für­ein­an­der brach­liegt. Es ist nor­mal, dass die­je­ni­gen, die Krie­ge vom Zaun bre­chen und ihre Mit­men­schen wie wert­lo­sen Dreck behan­deln, als Mäch­ti­ge in den Par­la­men­ten und Auf­sichts­rä­ten sit­zen, in unse­ren Regie­run­gen und wich­ti­gen Ent­schei­dungs­gre­mi­en. Wir sto­ßen uns nicht dar­an, dass Wis­sen aus wirt­schaft­li­chen Grün­den unter Ver­schluss gehal­ten wird, anstatt es zum Woh­le der All­ge­mein­heit offen zur Ver­fü­gung zu stel­len, und wir neh­men es anstands­los hin, uns Geset­zen beu­gen zu müs­sen, von denen nur weni­ge pro­fi­tie­ren, weil wir es anders nie­mals ken­nen­ge­lernt haben. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, auch nur ansatz­wei­se von Ver­schwen­dung zu reden, wenn so vie­le der klügs­ten Köp­fe ihre kost­ba­re Zeit damit ver­brin­gen, nutz­lo­se Din­ge zu ver­kau­fen, die weder benö­tigt noch begehrt wer­den, in Beru­fen, die jeden Tag aufs Neue dazu bei­tra­gen, die Welt ein klei­nes biss­chen destruk­ti­ver zu gestal­ten. Es ist uns egal, dass die einen ster­ben, wäh­rend die ande­ren an die­sem Tod ver­die­nen, so wie wir uns auch gleich­mü­tig dar­an gewöhnt haben, Nah­rung zu uns zu neh­men, die uns ver­gif­tet und lang­sam umbringt, solan­ge das für den Her­stel­ler bedeu­tet, ein wenig güns­ti­ger pro­du­zie­ren zu können.

Unser gesam­tes Leben, unse­re Plä­ne und noch die sehn­suchts­volls­ten Träu­me unter­wer­fen wir einem stän­di­gen Zwang, dem sich alles bedin­gungs­los unter­zu­ord­nen hat, doch es stellt für uns kei­ner­lei Wider­spruch dar, wenn wir die­se tota­le Dis­zi­pli­nie­rung dann als höchs­te Form der Unab­hän­gig­keit begrei­fen, als Aus­druck eines selbst­be­stimm­ten Daseins. Wir neh­men sinn­lo­se, see­len­zer­mür­ben­de Jobs an, die wir has­sen und in denen wir uns auf­rei­ben, weil es für uns nichts Unge­wöhn­li­ches ist, dass nur die­je­ni­gen über­le­ben dür­fen, die auch bereit sind, dafür zu arbei­ten, wäh­rend Tau­sen­de täg­lich ver­hun­gern, die ein­fach nur zu arm sind, um sich ihre Mahl­zei­ten über­haupt leis­ten zu kön­nen. Wir defi­nie­ren uns so ehr­gei­zig über die will­kür­lich fest­ge­leg­ten Zah­len, die am Ende des Monats auf unse­rem Kon­to vor­zu­fin­den sind, dass es für uns nicht wirk­lich besorg­nis­er­re­gend ist, wenn eine Hand­voll Men­schen mehr besit­zen kön­nen als der gan­ze gro­ße Rest der Welt; eine Welt, in der ein Leben nur so viel wert ist, wie es erwirt­schaf­ten kann. Zufrie­den­heit, Freu­de und Glück wer­den abhän­gig gemacht von objek­ti­vis­ti­schen Kate­go­rien: mehr haben, mehr kön­nen, mehr sein als ande­re, in einer quan­ti­fi­zier­ba­ren Art und Wei­se, sich dadurch schließ­lich bes­ser, grö­ßer, mäch­ti­ger zu füh­len als sie, wird zum Maß­stab der eige­nen Per­sön­lich­keit, zum Sinn­ge­ber in einer glo­ba­len Konkurrenz.

Jeden Tag neh­men wir bil­li­gend in Kauf, dass für über­flüs­si­gen Luxus unwi­der­ruf­li­cher Scha­den an Umwelt und Ande­ren ent­steht, ohne auch nur einen ernst­haf­ten Gedan­ken dar­an zu ver­schwen­den, wel­che öko­lo­gi­schen und sozia­len Fol­gen unser Han­deln hat. Es ist all­täg­li­che Rou­ti­ne gewor­den, dass Men­schen ster­ben oder wie schwers­te Ver­bre­cher behan­delt wer­den, bloß weil sie den ver­zwei­fel­ten Ver­such wagen, von einem Stück­chen Land zu einem ande­ren zu gelan­gen. Wir bau­en Zäu­ne um uns her­um, damit uns die ande­ren nicht zu nahe kom­men, wir gren­zen uns ab, schlie­ßen uns ein und haben Angst vor­ein­an­der, aber wir sehen dar­in nichts Außer­ge­wöhn­li­ches, es ist uns kein Grund zur Sor­ge. Die Nor­ma­li­tät die­ser Zustän­de, die für mehr und mehr Men­schen nur noch mit Psy­cho­phar­ma­ka zu ver­kraf­ten sind, beun­ru­higt uns nicht. Die­se gan­ze Kata­stro­phe, die uns jeden Tag umgibt, sie betrifft uns zwar, aber sie berührt uns nicht. Wir gehen teil­nahms­los unse­ren Tages­ge­schäf­ten nach, denn das alles ent­hält für uns kei­ne Bot­schaft, außer jener der Selbst­ver­ständ­lich­keit. Wir wis­sen genau dar­über Bescheid und obwohl wir etwas unter­neh­men könn­ten, ändert sich nichts.

Es gibt noch so vie­les, mit dem ich mich genau­so wenig abfin­den kann und auch nicht abfin­den möch­te, zu vie­les, um es auf­zu­zäh­len, weil es jeden Ver­such einer Auf­zäh­lung spren­gen wür­de; die­se gan­zen Nor­ma­li­tä­ten einer fremd­ar­ti­gen Welt, die für mich nicht nor­mal, noch weni­ger lebens­wert ist.

Seit jeher wird an mich die Erwar­tung her­an­ge­tra­gen, ein Teil des­sen zu wer­den, was mir zuwi­der ist, mich ein­zu­glie­dern in eine Welt, die alle Ein­ge­glie­der­ten ver­schlingt. Viel zu häu­fig litt ich unter Alb­träu­men und bin schweiß­ge­ba­det auf­ge­wacht, noch viel häu­fi­ger habe ich erst gar nicht ein­schla­fen kön­nen, weil ich mir aus­mal­te, wie es mit mei­nem Leben wei­ter­ge­hen wür­de in die­ser Welt: Für den Rest mei­ner Tage müss­te ich so gut wie jeden Mor­gen auf­ste­hen, um mit vor­ge­täusch­ter Frei­wil­lig­keit der glei­chen, unbe­deu­ten­den Beschäf­ti­gung nach­zu­ge­hen, was letz­ten Endes doch bloß heißt, das am Leben zu erhal­ten, was alles Leben­di­ge unter sich erdrückt. Mit etwas Glück hät­te ich am Abend ein paar Stun­den die­ser so genann­ten Frei­zeit, die es mir erlau­ben wür­den, mich von mei­nem Arbeits­tag zu erho­len, so wie man den Sol­da­ten ins Laza­rett bringt, nicht aus Nächs­ten­lie­be, son­dern damit er wie­der kämp­fen kann, also wür­de ich ein wenig ein­kau­fen, fern­se­hen, mich betrin­ken oder was man eben macht in jener Zeit, die noch zum Leben übrig­ge­blie­ben ist, doch in der Regel bloß ver­fliegt, dann gin­ge ich schla­fen und alles begän­ne am nächs­ten Tag von vorn. Macht das ein Leben aus?

Wenn ich ehr­lich mit mir sein möch­te, kann und darf ich das nicht Leben nen­nen, obwohl ich mit die­sem trost­lo­sen Schick­sal noch zu den weni­gen Pri­vi­le­gier­ten auf die­sem Pla­ne­ten gehö­ren wür­de, zu jenen, denen es gut zu gehen hat, weil es dem Groß­teil noch viel schlech­ter geht. Ich reagier­te auf die­se Bedro­hung mit Angst­zu­stän­den und Ner­ven­zu­sam­men­brü­chen, ich war regel­mä­ßig panisch und ich wer­de es noch heu­te, wenn ich mir vor­stel­le, dass ich auf die­se Art in die­ser Welt den Rest mei­nes Daseins ver­brin­gen müss­te, oder wenn schon nicht den Rest, dann wenigs­tens den größ­ten Teil. Mein Leben war von Anfang an ein­ge­teilt, fest­ge­legt, geplant; es war nicht vor­ge­se­hen, dass man mich jemals dazu ange­hört hät­te, was ich denn von alle­dem hal­te, das man mir zumu­ten wür­de. Nie­mand hat je gefragt, ob ich damit glück­lich oder auch nur ein­ver­stan­den bin, weil es nie­man­den interessiert.

All das ist nor­mal. Das sind die Nor­men, an denen ich gemes­sen wer­den soll. »So ist eben das Leben«, wird mir immer wie­der weis­ge­macht, und als ›das Leben‹ bezeich­nen sie eine gewalt­sam auf­recht­erhal­te­ne Ord­nung der Welt. Ich woll­te so nicht leben, will so nicht leben, nicht in die­ser Welt, das ist nicht mein Ent­wurf für ein gelun­ge­nes Dasein. Ich sehe nicht die gerings­te Moti­va­ti­on für den Ver­such, mich als pro­duk­ti­ves Mit­glied in die­se Gesell­schaft ein­zu­glie­dern, und ich habe erst­recht kein Inter­es­se dar­an, mich ein­glie­dern zu las­sen, weil ich mit allem, was sie aus­macht, grund­le­gend unein­ver­stan­den bin. Jeden Tag den­ke ich, ich muss hier raus, muss mich aus die­sem Gefäng­nis irgend­wie befrei­en. Je mehr ich die­se Welt begrei­fe, des­to weni­ger möch­te ich dar­in leben, je mehr ich ihre Abläu­fe ver­ste­he, des­to weni­ger möch­te ich dar­an betei­ligt sein. Wie kann man sich den Zustand der Welt betrach­ten und den­noch glück­lich sein?

Der Wahn­sinn liegt in der Nor­ma­li­tät, die für all die­se Zustän­de gleich­gül­tig in Anspruch genom­men wird. Wir alle tra­gen als Kom­pli­zen dazu bei, mit jedem Tag, an dem wir es hin­neh­men, das Destruk­ti­ve als nor­mal zu begrei­fen, denn die Ord­nung der Welt hält unse­re Köp­fe besetzt. Wir sagen Frei­heit und wir mei­nen damit, uns zwi­schen vor­ge­ge­be­nen Alter­na­ti­ven ent­schei­den zu dür­fen. Wir sagen Sicher­heit und wir haben dabei im Sinn, einen lang­fris­ti­gen Arbeits­platz zu fin­den. Wir sagen Glück und wir stel­len uns dar­un­ter vor, im Lot­to zu gewin­nen oder in einer Prü­fung erfolg­reich zu sein. Unse­re Spra­che und unse­re Sehn­süch­te haben sich den Zwän­gen ange­passt, weil sie uns stän­dig als Nor­ma­li­tä­ten vor­ge­hal­ten wer­den, von Insti­tu­tio­nen, Poli­ti­kern, The­ra­peu­ten, Eltern und letz­ten Endes allen, die immer noch glau­ben, die­se Nor­ma­li­tä­ten sei­en nor­mal. Ich bin nicht krank. Krank ist die­se Welt und was mich dar­an depri­miert, nein, melan­cho­lisch wer­den lässt, das ist die Tat­sa­che, dass den­noch ich es bin, der all­ge­mein für krank gehal­ten wird, weil ich mit die­ser ach so wun­der­ba­ren Welt nicht klar­kom­me, mit ihr auch gar nicht klar­kom­men möch­te. Die objek­ti­ven Zustän­de wer­den nicht bes­ser, bloß weil ich ler­ne, damit umzu­ge­hen; es ist ja gera­de die­ses Klar­kom­men, das dem Bestehen­den zum Fort­be­stand ver­hilft. Wer also hat nun Recht? Wer von uns ist krank? Liegt es an mir, wenn ich mich unbe­hag­lich fühle?

Tag um Tag muss­te ich es mir anhö­ren, immer und immer wie­der: »Hau doch ab« und »Wan­der doch aus«, »Werd end­lich erwach­sen« und »Gewöhn dich dran«, »Reiß dich zusam­men« oder »Bring dich doch um«. Frü­her oder spä­ter fand noch jede Dis­kus­si­on, all die mit Wor­ten geführ­ten Frei­heits­kämp­fe, ihr Ende an die­sem einen Punkt, mit einem die­ser Sät­ze. Jedes Mal, wenn ich Ein­spruch erhob gegen die Nor­ma­li­tä­ten die­ser Welt, wenn ich Beschwer­de führ­te gegen jene Zustän­de, mit denen ich nicht leben will, wenn ich Vor­gän­ge kri­ti­sier­te oder wenn ich Nach­rich­ten las und zum Aus­druck brach­te, dass ich mit dem, was geschieht, nicht ein­ver­stan­den bin, waren die Ant­wor­ten immer gleich, die Phra­sen wie ein­stu­diert. Wie viel Zwang wirkt auf einen Men­schen, um sol­che Sät­ze zu formulieren?

Wäh­rend es frü­her schnell hieß: »Dann geh doch nach drü­ben«, heißt es heu­te: »Dann wan­der doch aus«, oder noch schlim­mer, aber ehr­li­cher: »Dann bring dich doch um«. Ich jedoch hän­ge an mei­nem Leben, ich genie­ße es, so gut es mir die Umstän­de erlau­ben. Ich suche mir Frei­räu­me, Schlupf­lö­cher und Hin­ter­tü­ren, die mir ein wenig Luft zum Atmen bie­ten. Es ist nicht mein Leben, das mir Sor­gen berei­tet, son­dern die Welt um mich her­um, das Kor­sett, in das mein Leben hier gesteckt wer­den soll. Was mich bedrückt, ist nicht das Dasein, weder mei­nes noch all­ge­mein, son­dern viel­mehr der Rah­men, in dem es sich wie­der­fin­den muss, jener Zustand der Welt, in den es sich anstands­los ein­zu­bet­ten hat und den ich nicht ver­schul­det habe, es sind die so genann­ten Frei­hei­ten, die mir wie allen ande­ren auf­dring­lich ange­bo­ten wer­den, die aber kei­ne ernst­zu­neh­men­den Frei­hei­ten sind.

Was sagt das über einen Zustand aus, über die­sen Zustand, wenn dir die­je­ni­gen, die ihn so vehe­ment ver­tei­di­gen, als Alter­na­ti­ve nichts wei­ter anzu­bie­ten haben als den Tod? Geh unter oder füge dich, die Wahl ist Kol­laps oder Kol­la­bo­ra­ti­on, also betrach­te ich die­se Men­schen mit einer wach­sen­den Distanz, als wären sie Gehil­fen einer feind­se­li­gen Besat­zungs­macht. Selbst noch, wenn ich ratio­na­le Grün­de prä­sen­tie­re, war­um ich mich in die­se Welt nicht ein­fü­gen möch­te, war­um ich mich an ihren Abläu­fen nicht betei­li­gen will, wer­de ich des unver­nünf­ti­gen Ver­hal­tens beschul­digt, als hät­te man den Maß­stab ein­fach umge­kehrt. »Reiß dich zusam­men«, lau­tet das dau­ern­de Dik­tat, und sie begrei­fen den Befehl als Tugend, wie sie das wohl auch dem Schnor­rer in der Fuß­gän­ger­zo­ne ant­wor­ten wür­den, der sie bloß nach etwas Klein­geld fragt, doch wenn der sich letzt­lich für Ver­wei­ge­rung und gegen Kapi­tu­la­ti­on ent­schei­det, so ist mir des­sen Kon­se­quenz alle­mal sym­pa­thi­scher als der erho­be­ne Zei­ge­fin­ger der­je­ni­gen, die mir erzäh­len wol­len, das Pro­blem sei eine Fra­ge mei­ner eige­nen Befind­lich­keit. Ich füh­le mich ein­sam, wenn ich unter sol­chen Men­schen bin. Kraft Geburt erhielt ich das Recht, ich selbst zu sein, doch seit­dem wird es mir auf die­se Art verwehrt.

Mit jedem zusätz­li­chen Wort lie­ßen mich die­se und ähn­li­che Ant­wor­ten ein klei­nes biss­chen unglück­li­cher wer­den, bis ich mich schließ­lich auf die Suche nach etwas Ande­rem begab, nach einem schö­ne­ren und glück­li­che­ren Leben in einer schö­ne­ren und glück­li­che­ren Welt. Trotz all des Hohns und der stän­di­gen Ent­mu­ti­gun­gen habe ich etwas Bes­se­res gefun­den als den Tod, etwas Hoff­nungs­vol­le­res als Kapi­tu­la­ti­on. Etwas, das sich all jene, die mir der­ar­ti­ge Ant­wor­ten geben oder so genann­te Rat­schlä­ge ertei­len, nie­mals hät­ten träu­men las­sen. Etwas, das sogar ich selbst vor weni­gen Mona­ten noch für nahe­zu unmög­lich gehal­ten hät­te. Ohne viel Gepäck ver­schwand ich eines ganz nor­ma­len Tages aus dem, was ich bis dahin mein Leben genannt hat­te, ich ging fort, ohne gro­ße Rei­se­plä­ne zu schmie­den, und ließ ein für alle Mal zurück, was mich schon viel zu lan­ge unglück­lich gemacht hat­te. Ich fand einen Ort, an dem die Men­schen anders sind, Men­schen, denen es ähn­lich geht wie mir. Ich schloss mich ihnen an, hier fand ich mei­ne Heimat.

Wo ich nun lebe, gibt es kei­ne Armut, weil jeder ein­zel­ne von uns im Reich­tum schwimmt, denn wir haben uns gegen­sei­tig und alles Not­wen­di­ge, das man zum Leben wirk­lich braucht. Es gibt kei­ne zwei­hun­dert Fern­seh­pro­gram­me, kei­ne teu­ren Sport­wa­gen und kei­ne gol­de­nen Was­ser­häh­ne, dafür aber Soli­da­ri­tät, Ver­trau­en und Frei­heit; kei­nen mate­ri­el­len Über­fluss, jedoch auch kei­nen Ver­zicht. Wir haben hier kein Geld, kein Gehalt, weil wir es nicht brau­chen, und wir beu­gen uns kei­nen Herr­schern, weil wir nicht län­ger Beherrsch­te sein möch­ten. Wir ken­nen kei­ne Arbeits­lo­sig­keit, kei­nen Ter­ro­ris­mus und kei­ne Para­noia. Nie­mand wird zu sei­nem Tun gezwun­gen, kei­ner muss sich einem ande­ren irgend­wie unter­ord­nen, es gibt weder Chefs noch Hier­ar­chien, es wer­den kei­ne Befeh­le gege­ben und kein Gehor­sam ver­langt. Wir sind Glei­che unter Glei­chen. Es exis­tiert kein Mili­tär, kei­ne Poli­zei, nie­mand baut Mau­ern und Zäu­ne um sich her­um. Wir gehen auf­ein­an­der zu, anstatt uns gegen­sei­tig die Schä­del ein­zu­schla­gen, tref­fen Ent­schei­dun­gen, indem wir alle gleich­be­rech­tigt dar­in ein­be­zie­hen, wir haben Mit­ge­fühl und zei­gen den gebüh­ren­den Respekt, sowohl im Umgang mit­ein­an­der als auch gegen­über dem, was uns umgibt. Wir neh­men uns so viel wir brau­chen, aber wir zer­stö­ren nicht, wir beu­ten nicht aus, weder uns selbst noch das, wovon wir leben. Das Unwohl­sein über die Nor­ma­li­tä­ten jener Welt, die wir alle­samt zurück­lie­ßen, die Dis­kre­panz zwi­schen Sehn­sucht und Wirk­lich­keit, die­se Span­nung zwi­schen dem, was ist, und den eige­nen Gefüh­len, wird hier nicht als Krank­heit emp­fun­den. Hier bin ich glück­lich. Hier. Endlich.

„Wir ste­hen vor einem Rät­sel“, erklär­te der jun­ge Arzt im Kreis sei­ner Kol­le­gen. „Kein Wort, kei­ne ein­zi­ge Reak­ti­on. Seit Mona­ten ist er in die­sem Zustand, obwohl wir kei­ne neu­ro­lo­gi­sche Ursa­che fest­stel­len kön­nen. Im Gegen­teil. Die Akti­vi­tät in sei­nem Gehirn ist bemerkenswert.“

Betrach­tet man die Ent­wick­lungs­dy­na­mik von Bil­dungs­sys­te­men, dann drängt sich die Ver­mu­tung auf, dass die Schu­le selbst sozi­al selek­tiv auf die Sozia­li­sa­ti­ons­prak­ti­ken ein­wirkt und sys­te­ma­tisch die Prak­ti­ken bestimm­ter Bevöl­ke­rungs­grup­pen abwer­tet. Sie ent­wi­ckelt for­ma­le Leis­tungs­kri­te­ri­en, die sich als unfä­hig erwei­sen, die Dif­fe­renz milieu­spe­zi­fi­scher Erfah­run­gen und Befä­hi­gun­gen zu erken­nen, son­dern ganz im Gegen­teil einer unfle­xi­blen und not­wen­dig dis­kri­mi­nie­ren­den Defi­zit­lo­gik ver­haf­tet blei­ben. Gemes­sen wird daher nicht das Kön­nen, son­dern die Abwei­chung des Kön­nens von den poli­tisch gesetz­ten Leis­tungs­stan­dards. Eine sol­che Bewer­tungs­lo­gik dient nicht der Bil­dung des ein­zel­nen, son­dern allein der Selek­ti­on Her­an­wach­sen­der. Die­se Bewer­tungs­lo­gik ent­fal­tet ihre ver­hee­ren­de Wir­kung auf die Betrof­fe­nen nicht nur dadurch, dass sie den Her­an­wach­sen­den bestimm­te Optio­nen der Ent­wick­lung bzw. der Ent­fal­tung ihrer Per­sön­lich­keit vor­ent­hält. Mehr noch: Die Schü­ler wer­den im Hin­blick auf ihre je eige­ne Leis­tungs­fä­hig­keit und in der Wert­schät­zung ihrer Per­son sys­te­ma­tisch abge­wer­tet, degra­diert und damit zu qua­si-patho­lo­gi­schen Fäl­len einer Gesell­schaft, die am Wohl­erge­hen ihrer Kin­der oft­mals nur dann ein Inter­es­se zu haben scheint, wenn die­se aus „gutem“ Hau­se kommen.
(Mat­thi­as Grund­mann – Hand­lungs­be­fä­hi­gung und Milieu)

Was Psych­ia­trie und Psy­cho­lo­gie als Geis­tes­krank­heit vor­füh­ren, ist an die Vor­stel­lung gebun­den, daß es sich dabei um zuneh­men­den Rea­li­täts­ver­lust han­delt. Mehr oder weni­ger Rea­li­täts­be­zug – danach wird alles mensch­li­che Ver­hal­ten klas­si­fi­ziert. »Rea­li­tät« wird dabei aus­schließ­lich als äuße­re Rea­li­tät verstanden.
In der Tat ist der Rea­li­täts­be­zug – sein Feh­len oder der Grad der Erge­ben­heit an die äuße­re Rea­li­tät – ein Ras­ter, in das man Men­schen ein­ord­nen kann und das uns ermög­licht, eine Klas­si­fi­zie­rung vor­zu­neh­men vom psy­cho­ti­schen Ver­hal­ten über die Neu­ro­se zur Nor­ma­li­tät. Doch ein sol­ches Sche­ma ver­deckt, daß es auch noch eine ande­re Art von Krank­heit gibt, die viel gefähr­li­cher ist als die, die vom Ver­lust des Rea­li­täts­be­zugs gekenn­zeich­net ist.
Die­se ande­re Art von Krank­heit zu sehen erfor­dert einen Wech­sel der Blick­rich­tung und eine Abkehr von den her­kömm­li­chen Kate­go­rien. Dann wird man sehen, daß sich hin­ter der Ori­en­tie­rung an der »Rea­li­tät«, die gemein­hin das Kri­te­ri­um für Gesund­heit ist, eine tie­fe­re und weni­ger augen­fäl­li­ge Patho­lo­gie ver­birgt: die des »nor­ma­len« Ver­hal­tens, die Patho­lo­gie der Anpas­sung als Fol­ge der Preis­ga­be des Selbst.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Das sym­bo­li­sche Kapi­tal besteht aus einem belie­bi­gen Merk­mal, Kör­per­kraft, Reich­tum, Kampf­erprobt­heit, das wie eine ech­te magi­sche Kraft sym­bo­li­sche Wir­kung ent­fal­tet, sobald es von sozia­len Akteu­ren wahr­ge­nom­men wird, die über die zum Wahr­neh­men, Erken­nen und Aner­ken­nen die­ser Eigen­schaft nöti­gen Wahr­neh­mungs- und Bewer­tungs­ka­te­go­rien ver­fü­gen: Ein Merk­mal, das, weil es auf sozi­al geschaf­fe­ne »kol­lek­ti­ve Erwar­tun­gen« trifft, auf Glau­ben, eine Art Fern­wir­kung aus­übt, die kei­nes Kör­per­kon­takts bedarf. Man gibt einen Befehl, und es wird ihm gehorcht: Dies ist ein zutiefst magi­scher Akt. (…) Damit der sym­bo­li­sche Akt eine der­ar­ti­ge, ohne sicht­ba­re Ver­aus­ga­bung von Ener­gie erziel­te magi­sche Wir­kung aus­üben kann, muß ihm eine oft unsicht­ba­re und jeden­falls ver­ges­se­ne, ver­dräng­te Arbeit vor­an­ge­gan­gen sein und bei den Adres­sa­ten die­ses Erzwin­gungs- und Befehl­s­ak­tes die­je­ni­gen Dis­po­si­tio­nen erzeugt haben, deren es bedarf, damit sie, ohne daß sich ihnen die Fra­ge des Gehor­sams über­haupt stell­te, das Gefühl haben, gehor­chen zu müs­sen. Die sym­bo­li­sche Gewalt ist jene Gewalt, die, indem sie sich auf die »kol­lek­ti­ven Erwar­tun­gen« stützt, auf einen sozi­al begrün­de­ten und ver­in­ner­lich­ten Glau­ben, Unter­wer­fun­gen erpreßt, die als sol­che gar nicht wahr­ge­nom­men werden.
(Pierre Bour­dieu – Die Öko­no­mie der sym­bo­li­schen Güter, in: Prak­ti­sche Vernunft)

An die­ser Stel­le ist es nötig, etwas zur sozio­lo­gi­schen Sicht des mensch­li­chen Seins zu sagen. Kri­mi­na­li­tät wird zum Bei­spiel als eine Fol­ge der Armut gese­hen. Doch dies erklärt nicht, war­um die Mehr­heit nicht kri­mi­nell wird. Dar­aus wie­der­um kann man aber nicht schluß­fol­gern, Armut hät­te kei­nen Zusam­men­hang mit Kri­mi­na­li­tät. Man kommt nicht umhin, eini­ges zu dif­fe­ren­zie­ren. Wenn ein Hung­ri­ger stiehlt, han­delt er nicht aus Hab­gier; und wenn er dabei, ohne es zu wol­len, jeman­den umbringt, ist es kein vor­sätz­li­cher Mord. Ande­rer­seits gehö­ren die Rei­chen und Mäch­ti­gen zu jenen in unse­rer Gesell­schaft, die Krie­ge anzet­teln, die Lebens­grund­la­ge ande­rer Men­schen zer­stö­ren, Natur und Men­schen ver­gif­ten. Sie aber sit­zen nicht in den Gefäng­nis­sen. Kri­mi­nal­sta­tis­ti­ken ver­zeich­nen nur des­halb mehr Arme als Rei­che, weil sol­che Sta­tis­ti­ken der Ideo­lo­gie der Rei­chen und Mäch­ti­gen unter­lie­gen und weil sie nicht alle For­men von Destruk­ti­vi­tät aufführen.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Wenn vom Klas­sen­kampf die Rede ist, denkt man nie­mals an sei­ne ganz all­täg­li­chen For­men, an die rück­sichts­lo­se gegen­sei­ti­ge Ver­ächt­lich­ma­chung, an die Arro­ganz, an die erdrü­cken­den Prah­le­rei­en mit dem »Erfolg« der Kin­der, mit den Feri­en, mit den Autos oder ande­ren Pres­ti­ge­ob­jek­ten, an ver­let­zen­de Gleich­gül­tig­keit, an Belei­di­gun­gen usw.: Sozia­le Ver­ar­mung und Vor­ur­tei­le – letz­te­re sind die trau­rigs­ten aller sozia­len Lei­den­schaf­ten – wer­den in die­sen all­täg­li­chen Kämp­fen gebo­ren, in denen stets die Wür­de und die Selbst­ach­tung der betei­lig­ten Men­schen auf dem Spiel ste­hen. Das Leben ändern, das müß­te auch hei­ßen, die vie­len klei­nen Nich­tig­kei­ten zu ändern, die das Leben der Leu­te aus­ma­chen und die heu­te gänz­lich als Pri­vat­an­ge­le­gen­heit ange­se­hen und dem Geschwätz der Mora­lis­ten über­las­sen werden.
Pierre Bour­dieu – Poli­tik, Bil­dung und Spra­che, in: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht

Die Wahr­schein­lich­keit einer Hand­lung oder eines Phä­no­mens zu ken­nen, kann auch hei­ßen, die Chan­cen jener Aktio­nen zu ver­grö­ßern, die dar­auf abzie­len, die Rea­li­sie­rung eben die­ses Phä­no­mens zu ver­hin­dern. Aber das ist nicht alles. Vie­le sozia­le Mecha­nis­men sind nur des­halb so wirk­sam, weil sie ver­kannt und unter­schätzt wer­den. Das ist zum Bei­spiel bei den »Mecha­nis­men« der Fall, die die Kin­der aus den­je­ni­gen Fami­li­en, die öko­no­misch und kul­tu­rell am stärks­ten benach­tei­ligt sind, aus der Schu­le her­aus­drän­gen: Man beob­ach­tet, wie gera­de die Fami­li­en, die kul­tu­rell benach­tei­ligt und Opfer der sozia­len Ungleich­heit sind, am stärks­ten dar­an glau­ben, daß Bega­bung und Tüch­tig­keit die ein­zig aus­schlag­ge­ben­den Fak­to­ren für den Schul­erfolg sind. Man sieht also, daß fei­ne Wis­sen­schaft, die ent­hüllt und demas­kiert – »es gibt nur eine Wis­sen­schaft, und das ist die Wis­sen­schaft vom Ver­bor­ge­nen«, sagt Bachel­ard – aus sich her­aus wich­ti­ge Ver­än­de­run­gen bewir­ken kann. Dies gilt natür­lich nur unter der Bedin­gung, daß die Betrof­fe­nen, deren Inter­es­se am stärks­ten auf die­se Ver­än­de­run­gen drän­gen, auch an die­sen wis­sen­schaft­li­chen Ein­sich­ten teilhaben.
(Pierre Bour­dieu – Poli­tik, Bil­dung und Spra­che, in: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht)